3.10. Philosophische Schriften und Äußerungen

Inhalt
Einleitung
1.0. Philosophische Themen in Büchners nichtwissenschaftlichen Schriften
1.1. Schulzeit
1.2. Der Hessische Landbote
1.3. Danton's Tod
1.4. Lenz
1.5. Leonce und Lena
1.6. Woyzeck

2.0. Philosophie als Wissenschaft
2.1. Anfänge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Philosophie
2.2. Spinoza H1
2.3. Cartesius und Spinoza H2
2.4. Naturwissenschaft und Philosophie, Zürich 1836

Einleitung

Georg Büchner hat in jeder seiner Schriften und Werke vom „Helden-Tod“-Aufsatz vom Wintersemester 1829/30 über den Hessischen Landboten vom Frühjahr 1834 bis zur Probevorlesung und zum Woyzeck in den Züricher Monaten 1836/37 philosophische Themen behandelt oder wenigstens gestreift. Seine Straßburger Ausbildung zum vergleichenden Anatomen bezeichnete er am 9. März 1835 als „Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften“. 9. März 1835. An die Eltern in Darmstadt Tatsächlich war Büchner in der Kunst des Sezierens ein Adept der Medizin, während er als theoretischer Naturwissenschaftler der philosophischen Fakultät verpflichtet war, deren Züricher Professoren ihn auch promovierten. Privatdozent in Zürich

Zeitleiste Oktober 1835Als er im Oktober 1835 in Straßburg hinsichtlich seiner zukünftigen Spezialisierung noch unschlüssig war und sich „nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand“ umsah Oktober 1835. An die Eltern in Darmstadt, fasste er anscheinend eine im engeren Sinne fachphilosophische Arbeit über die Lehre von den Substanzen, ausgehend von zentralen Lehrsätzen in Baruch Spinozas Ethik, ins Auge. Im folgenden Sommer und Herbst 1836 arbeitete er dann philosophiegeschichtliche „Vorlesungen […] über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza“ aus. 2. September 1836. An Wilhelm Büchner in Darmstadt Er plante, hierüber in Zürich Vorlesungen zu halten, hatte aber die dortige Stellensituation falsch eingeschätzt. Die Fakultät bevorzugte Lehrveranstaltungen in Vergleichender Anatomie. Deshalb arbeitete Büchner von dem breit angelegten Vorlesungsprojekt nur die Teile über Descartes (ganz) und über Spinoza (teilweise) aus. 

1.0. Philosophische Themen in Büchners nichtwissenschaftlichen Schriften

1.1. Schulzeit

Zeitleiste 26. März 1825Philosophische Themen waren auf Büchners Gymnasium Teil des Antike-Unterrichts.[1] Platon, Teles von Megara, Zeno und die Stoa, „Leben und Lehren des Epikuros“, Cicero und Seneca werden als Schulstoff genannt. Vor allem in Danton’s Tod lässt sich erkennen, dass Büchner über dieses Bildungswissen selbstverständlich verfügte. Neuere Philosophen werden im Lehrplan nicht genannt. LZ 1220 Luck an Franzos Von Ludwig Wilhelm Luck hervorgehoben wird Büchners „vernichtender, manchmal übermüthiger, Hohn über Taschenspielerkünste hegelscher Dialectik u. Begriffsformulationen z. B.  ‚Alles was wirklich ist auch vernünftig u. was vernünftig auch wirklich.‘“ 

Dass Büchner Hegel im Original gelesen hätte, lässt sich daraus nicht sicher schließen, denn die Kritik an diesem Satz war gängig (vgl. Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 170). Nachgewiesen ist dagegen, dass Büchner sich zu dieser Zeit anhand von Lexika philosophisches Wissen aneignete. In seine "Kato"-Rede integrierte er längere Partien aus einem Brockhaus-Artikel über die „Stoa“ (vgl. Marburger Büchner Ausgabe I.2, S. 16).

Unabhängig von den Lehrervorträgen behandelte Büchner philosophische Themen in seinen selbständigen Schülerschriften. Der eben Sechzehnjährige zitiert in seinem „Helden-Tod“-Aufsatz des längeren aus Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation, also einer in erster Linie politischen Schrift des Philosophen Fichte (vgl. Marburger Büchner Ausgabe I.2, S. 9 f. und 11 f.). Schülerschriften In der dann folgenden „Kato“-Rede vom September 1830 widerspricht der noch immer erst Sechzehnjährige vehement den Ausführungen des aufklärerischen Populärphilosophen Christian Garve, demzufolge ein Mensch, der „durch einen besonnenen Tod seine freie Seele zu retten sucht“  von „fehlerhaftem Charakter“ sein müsse. In Büchners Rede stehen christliche und stoische Ethik einander gegenüber. Der Redner Büchner plädiert für die Überlegenheit des stoischen Systems. Schülerschriften Eine Attacke auf das christliche Selbstmordverbot enthält auch die dritte der selbständigen Schülerschriften, die „Recension eines Mitschüleraufsatzes über den Selbstmord“ vermutlich vom Wintersemester 1830/31. Hier kritisiert Büchner die christliche Verurteilung auch psychopathologischer Fälle von Selbstmord als unmenschlich. Nur ein Argument gegen das Recht des einzelnen Menschen, über sein eigenes Leben zu verfügen und Selbstmord zu begehen, akzeptiert er: Anstößig sei der Gedanke, das Leben eines Menschen sei „Mittel“ für andere Zwecke;

Schülerschriften Recension p. 11 Leben als Entwicklung.PNG

Schülerschriften, Recension p. 11 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar
[...] ich glaube aber, daß das Leben selbst Zweck sey, denn: Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck. Von dießem Gesichtspunkte aus kann man auch den einzigen fast allgemein gültigen Vorwurf dem Selbstmord machen, weil derselbe unserm Zwecke und somit der Natur widerspricht, indem er die von der Natur uns gegebne, unserm Zweck angemessne Form des Lebens vor der Zeit zerstört.

Die Vorstellung vom Menschen als Selbstzweck ist ein weit verbreiteter Leitsatz der deutschen idealistischen Philosophie.

1.2. Der Hessische Landbote

Büchners Vertrautheit mit politischer Theorie zumindest in der Tradition von Rousseau bis zum Jakobinismus der Französischen Revolution und der 1830er Jahre ist am Hessischen Landboten abzulesen. Der Hessische Landbote Am Anfang des Hessischen Landboten findet sich der Satz: „die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen“. Wie Gideon Stiening[2] gezeigt hat, steht dieser Satz in einer eindeutigen „gemeinwohlorientierten Traditionslinie“.

1.3. Danton's Tod

Ein Kabinettstück philosophischer Dialektik ist das Philosophengespräch in Danton’s Tod (III/1), ausgelöst durch die Bitte des dogmatischen Atheisten Chaumette, man möge ihm angesichts seines baldigen Todes noch einmal den Beweis für die Nichtexistenz Gottes hersagen. Man tut ihm den Gefallen. Danton’s Tod

dtiii1 p. 48 Es gibt keinen Gott.PNG

Danton`s Tod p. 48 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar; Text: Es giebt keinen Gott, denn: entweder hat Gott die Welt geschaffen oder nicht. Hat er sie nicht geschaffen so hat die Welt ihren Grund in sich und es giebt keinen Gott, da Gott nur dadurch Gott wird, daß er den Grund alles Seyns enthält. - Nun kann aber Gott die Welt nicht geschaffen haben, denn entweder ist die Schöpfung [...]

Der nach dem Muster Spinozas nach mathematischer Art geführte Beweis beruht auf der Feststellung, dass der Begriff göttlicher Vollkommenheit nicht vereinbar sei mit irgend einer Veränderung in der Zeit und also auch mit keinem Schöpfungsakt.

In der weiteren Diskussion kommt die Position Voltaires zur Sprache, und Spinozas Vorstellung einer ‚ewigen Schöpfung‘ wird in einer Weise erläutert, die annehmen lässt, dass Büchner Spinozas Ethik zumindest teilweise kannte. Der Diskussionsführer Payne lehnt Spinozas Vergöttlichung der Schöpfung mit dem Hinweis auf die Unvollkommenheit der Welt ab. Der körperliche Schmerz sei "der Fels des Atheismus". Er sei mit der Vorstellung eines vollkommenen Schöpfergottes unvereinbar.

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Danton's Tod III/1, p. 51 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar; Text: "Merke Dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten."

In seinem philosophischen Skript „Spinoza H1“ (vermutlich vom Herbst 1835) wird Büchner dieses Argument wörtlich wieder aufgreifen. Er konzediert dort, dass zur Definition eines vollkommenen Wesens auch die Existenz dieses Wesens gehört, fragt dann aber (zit. nach Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 12):

Spinoza-Skrpt p. 30 Schmerz.PNG

Spinoza-Skript (H1) p. 30 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar
Was zwingt berechtigt uns aber, dieße Definition zu machen?
Der Verstand?
Er kennt das Unvollkommne.
Das Gefühl?
Es kennt den Schmerz
.

Büchner und Heine Einzelne Repliken in Danton’s Tod zeigen, dass Büchner vor der Niederschrift Heinrich Heines Abhandlung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (in: Der Salon Bd. 2, Hamburg: Campe 1835) gelesen hatte. Heine sagt darin das Ende des Christentums voraus. An seine Stelle trete „der Pantheismus“; er sei „das öffentliche Geheimniß in Deutschland“. 

Ebenfalls gelesen hatte Büchner anscheinend die theologische Dissertation seines Freundes Adolph Stöber[3], in der dieser die Existenz Gottes unter anderem damit begründete, dass ohne ihn kein moralisches System denkbar sei. Büchners Dramenfigur Payne reagiert in Danton’s Tod Danton’s Tod mit dem empörten Ausruf:

Erst beweist Ihr Gott aus der Moral und dann die Moral aus Gott. Ein schöner Cirkelschluß der sich selbst im Hintern leckt.

Den zweiten Satz strich Büchner im Manuskript.

Dtiii1 Hintern leckt.PNG

Danton's Tod III/1 (p. 99, Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar

Im Anschluss an Danton’s Tod erläuterte Büchner in einem Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 seine ästhetischen Prinzipien:

der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft. 28. Juli 1835. An die Eltern in Darmstadt

Das ist offenbar eine Gegenposition zu der viel diskutierten und folgenreichen Feststellung im 9. Kapitel von Aristoteles’ Poetik, daß „Geschichtschreiber und Dichter“ sich dadurch „unterscheiden [...], daß der Eine erzählt, was geschehen ist, der Andere, wie es hätte geschehen können; [...] deßwegen ist die Poesie auch philosophischer und idealischer, als die Geschichte.“ Genau diesen Zuwachs an „Idealischem“ lehnt Büchner aber ab.

Anteil an poetologischen Debatten dieser Art hat zum Beispiel auch der Satz: „Der Dichter ist kein Lehrer der Moral.“ Dasselbe gilt für Büchners Reaktion auf die Forderung, „der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle“. Er antwortet, dass er „es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll“. 

1.4. Lenz

Die im Brief vom 28. Juli 1835 deutlich werdende Option gegen die „Idealdichter“ und für Dichtungen mit „Menschen von Fleisch und Blut, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht“, nimmt Büchner im „Kunstgespräch“ der aus dem Herbst 1835 stammenden Erzählung Lenz wieder auf. Gegenüber stehen sich hier zum einen die „idealistische Periode“ und ein für die ästhetischen Prinzipien Winckelmanns schwärmender Gesprächspartner, zum andern die Titelfigur Lenz, die sich vor dem „Apoll von Belvedere oder eine[r] Raphaelische[n] Madonna […] sehr todt“ fühlt und für den „Dichter und Bildende[n]” votiert, „der mir die Natur am Wirklichsten giebt, so daß ich über seinem Gebild fühle“. Lenz

1.5. Leonce und Lena

Seine letzten beiden Werke Leonce und Lena und Woyzeck schrieb Büchner gleichzeitig mit seiner Arbeit an den philosophischen Skripten. In Leonce und Lena ist zum Beispiel die Szene I/2, die Ankleideszene des König Peter, als Spinoza-Parodie bekannt geworden.

Die Substanz ist das an sich, das bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum.) Begriffen? An sich ist an sich, versteht Ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien, wo ist mein Hemd, meine Hose? […] Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft. Leonce und Lena

Der König ist die göttliche Substanz, aus der – in Spinozas Philosophie – die „Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien“ hervorgehen. Die von Peter beklagte „Verwirrung“ der „Kategorien“ bezieht sich dagegen auf die Erweiterung der Kategorientafel. Aristoteles zufolge gab es zehn Kategorien. In der Kritik der reinen Vernunft erweiterte Kant die Zahl der Kategorien auf zwölf, und der Philosoph Ernst Reinhold urteilte 1830 im Handbuch der allgemeinen Geschichte der Philosophie (S. 15 u. 35), dass Kant, indem er „die wahren, von Aristoteles gesuchten, aber nicht entdeckten Kategorieen“ fand, „eine neue Epoche der Philosophie“ begründet habe (zitiert nach Marburger Büchner Ausgabe VI, S. 446).

Die gleichzeitige Arbeit an den Philosophischen Skripten und dem Lustspiel lässt sich auch in einer Szene (III/3) zeigen, in der der Narr Valerio zwei Menschen als Automaten vorführt und sagt:

Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern. Jede hat eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der kleinen Zehe am rechten Fuß, man drückt ein klein wenig und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre. Leonce und Lena

Im Cartesius-Skript äußert sich der Philosoph Büchner ähnlich über den Philosophen Descartes, in dessen Anthropologie "der homme machine [...] vollständig zusammengeschraubt" wird.

Cartesius-Skript, p. 88 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar.

Cartesius-Skript p. 88 homme machine.PNG

der homme machine wird vollständig zusammengeschraubt. Ein Centralfeuer im Herzen, die verflüchtigten zum Hirn aufsteigenden spiritus animales, die in einem Dunst von Nervengeist schwebende, nach verschiednen Richtungen sich neigende Zirbeldrüße, als Residenz der Seele, Nerven mit Klappen, Muskeln welche durch das Einpumpen des Nervengeistes mittelst der Nerven anschwellen, die Lunge als Kühlapparat und Vorlage zum Niederschlagen des dem Herzen verflüchtigten Blutes, Milz, Leber, Nieren als künstliche Siebe, sind die Schrauben, Stifte u. Walzen.

1.6. Woyzeck

Auch aus der naturphilosophisch orientierten Literatur, mit der er sich beschäftigte, konnte Büchner Sätze aufgreifen. So fand er z. B. bei dem Gießener Professor Johann Bernhard Wilbrand[4] den Satz:

Durch den Menschen verklärt sich also die Natur aufwärts zum Uebersinnlichen.

Auf Sätze wie diesen spielt Büchner sarkastisch in der Doktorszene H4,8 an. Als Woyzeck, der seinen „Harn nicht halten“ konnte, dies damit begründet, dass ihm „die Natur kommt“, sagt der „Doctor“:

Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Woyzeck

2.0. Philosophie als Wissenschaft

2.1. Anfänge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Philosophie

LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Ludwig Büchner sah in Georg Büchners philosophischen Beschäftigungen in Gießen und Darmstadt eine Adoleszenzerscheinung ohne Zusammenhang mit „streng-wissenschaftlichen Arbeiten“. Über Büchners Gießener Zeit schreibt er:udium der Grundlagen des menschlichen Wissens, zur Geschichte und zur Philosophie um die Lösung derjenigen Räthsel zu finden, welche in einem Alter von zwanzig Jahren jeden strebenden Geist beschäftigen. 

LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Und über den Darmstädter Herbst und Winter 1834/35 heißt es:

Außer diesen streng-wissenschaftlichen Arbeiten waren es, wie früher, Geschichte, Philosophie und Literatur, die ihn beschäftigten.

LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Etwas mehr Gewicht billigt Ludwig Büchner den philosophischen Studien erst für die Exilzeit zu:

Zugleich mit den naturwissenschaftlichen Studien betrieb Büchner in Straßburg philosophische, und zwar namentlich als Grundlage "Geschichte der Philosophie."

LZ 4560 Schulz 1837 Der nähere Zeuge, Büchners Freund Wilhelm Schulz , vermerkte dagegen im Nekrolog vom Februar 1837 ein Doppelstudium der Naturwissenschaften und der Philosophie ab dem Wintersemester 1834/35. Büchner sei nach Darmstadt gegangen,

wo er fortwährend mit Naturwissenschaften, sowie mit Philosophie sich beschäftigte […]. [In Straßburg] widmete [er] sich mit rastlosem Eifer dem Studium der neueren Philosophie. […] Eine gleiche Thätigkeit […] wendete er auf die Naturwissenschaften.

Für diesen nahen Zeugen stehen Naturwissenschaften und Philosophie als berufliche Tätigkeiten also schon vor der Exilzeit gleichberechtigt nebeneinander.

Tatsächlich war Büchners anscheinend bereits ‚professionell‘ mit Philosophie beschäftigt, als er dem Freund August Stöber am 9. Dezember 1833 schrieb:

Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich [...]. Man muß aber unter der Sonne doch auf irgend einem Esel reiten und so sattle ich in Gottes Namen den meinigen; für’s Futter ist mir nicht bang, an Distelköpfen wirds nicht fehlen, so la[n]g die Buchdruckerkunst nicht verloren [g]eht. 9. Dezember 1833. An August Stöber in Oberbronn

Es war ein beruflicher Esel, den Büchner hier sattelte. Was er zu dieser Zeit las, lässt sich nicht ermitteln; aber sicher ging es nicht um eine Lösung von Welträtseln, auch nicht um eine terminologisch leicht zugängliche ‚Geschichte der Philosophie‘, sondern um das Erlernen der philosophischen „Kunstsprache“. LZ 2260 Joseph Hillebrand, Hörerschein Derart vorbereitet konnte Büchner im Sommersemester zwei Lehrveranstaltungen, Vorlesungen über Logik und Naturrecht, des Gießener Professors für Philosophie, Joseph Hillebrand , hören. 

Büchners Schulfreund, Georg Friedrich Zimmermann, urteilte später, dass Hillebrands akademischer Vortrag „auf dem strengphilosophischen Gebiete durch seine speculative Terminologie wohl den meisten Zuhörern unverständlich oder doch fremdartig blieb.“[5] Tatsächlich bedarf es einiger Vertrautheit mit der philosophischen Terminologie des deutschen Idealismus, um Hillebrand mit Gewinn zu lesen.

Hillebrand selbst erläuterte seine Stellung in der Philosophie in der Vorrede zu seiner Philosophie des Geistes mit dem Hinweis, man werde dieses Buch dem „Elekticismus“ zurechnen und als „atomistisch-leibnitzisch“ oder als „spinozistisch“ oder aber als „hegel’sch“ einstufen.[6] Es ist zu vermuten, dass Büchner in seine Spinoza-Studien von 1836 Anregungen Hillebrands aufnahm, die sich als „atomistisch-leibnitzisch“ oder als „spinozistisch“ bezeichnen lassen (vgl. Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 178 f.).

Hillebrand ist der einzige Philosophieprofessor, mit dem Büchner nachweislich in Berührung kam. Sichere Spuren haben seine Veröffentlichungen in Büchners philosophischen Schriften freilich nicht hinterlassen. Umgekehrt steht es mit einem anderen Gießener Professor, dem katholischen Theologen Johannes Kuhn (1806–1887), dessen Schrift Jacobi und seine Zeit (Mainz 1834) Büchner in seinem „Cartesius“-Skript ausführlich diskutiert und vor allem auch zitiert.

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Cartesius-Skript p. 9 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar; "Zu welcher Gattung von Wahrheiten, sagt Kuhn, gehört nun das Cartesianische Feldgeschrei? Zu der Gattung der mathematischen Grundsätze [...]."

Allerdings gibt es keinen Beleg dafür, dass Büchner Kuhns Vorlesungen gehört oder sonst einen persönlichen Kontakt zu ihm gehabt hat.

2.2. „Spinoza“ H1, Straßburg 1835

„Zugleich mit den naturwissenschaftlichen Studien betrieb Büchner in Straßburg philosophische, und zwar namentlich als Grundlage ‚Geschichte der Philosophie‘“, schreibt Ludwig Büchner 1850 und nennt in diesem Zusammenhang speziell „Cartesius und Spinoza“. LZ-4260, S. 30

Auch finde sich im Nachlass „eine ganz ausgearbeitete Geschichte der älteren griechischen Philosophie.“

Diese Angaben sind nicht ganz korrekt. Zunächst ist zwischen Manuskripten aus dem Jahr 1835 und solchen aus dem Jahr 1836 zu unterscheiden. Vermutlich noch aus dem ersten Exiljahr 1835 stammen Büchners Exzerpte aus der „Geschichte der Griechischen Philosophie“ (emendierter Text mit Entstehungsvarianten in Marburger Büchner Ausgabe IX.1, S. 369–473) und sein Skript „Spinoza H1“ (Differenzierte Umschrift in MBA IX.1, S. 189–306; emendierter Text und quellenbezogener Text in MBA IX.2, S. 3–38).

Das erstgenannte Skript bietet eine exzerpierende Zusammenfassung der Bände I–III von Wilhelm Gottlieb Tennemanns elfbändiger Geschichte der Philosophie (Leipzig 1798–1819).

Griechische Philosophie p. 3.PNG

"Griechische Philosophie" p. 3; GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar; Text: Die Philosopheme der Jonier. / 1.) Thales von Milet. Er wird für einen von den 7 Weisen gehalten und soll eine Reise nach Aegypten gemacht haben. / Alles ist aus Wasser entstanden und löst sich wieder in Wasser auf. / Der Urstoff aller Dinge hat eine feuchte Natur. Alle Thiere entstehen aus Saamen, der etwas Flüssiges enthält, alle Pflanzen wachsen und sind fruchtbar vermöge der Feuchtigkeit, selbst das Feuer der Sonne und der Gestirne wird durch die Ausdünstungen des Wassers genährt. / Ist nun das Wasser eine flüssige Masse von einartigen Theilen, aus welchen durch Verwandlung die übrigen Dinge geworden; oder eine Masse von verschiedenartigen Theilen im flüssigen Zustande, woraus alle Naturdinge durch Absonderung hervorgegangen sind?

Büchner folgt im wesentlichen der Vorlage und setzt eigene Akzente durch größere oder geringere Ausführlichkeit der inhaltlichen Wiedergabe oder auch durch Umstellungen. An einigen wenigen Stellen verweist er zum Beispiel – unabhängig von Tennemann – von dem griechischen Philosophen Xenophanes auf den neuzeitlichen Philosophen Spinoza, oder er verändert den kantischen „reinen Verstandes-Begriff des Seyns“ (so Tennemann) zu dem in der Identitätsphilosophie verwendeten „absoluten Begriff des Seyns“. Ebenso verändert er Tennemanns negative Beurteilung der Sophisten (vgl. Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 206–212).

Das zweite Skript zeigt Büchner wahrscheinlich auf jener Suche „nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand“, von der er den Eltern im Oktober 1835 schrieb.Oktober 1835. An die Eltern in Darmstadt

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Spinoza-Skript H1, p. 3; GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar;
Text: Ethik. / I. Theil. / Definitiones. / I. Von dem Ding, dessen Wesen zugleich Daseyn involvirt, behaupte ich, daß es die Ursache seiner selbst sey oder von dem vielmehr, welches nicht anders als seyend gedacht werden kann. / II. Das Ding nenne ich seiner Art nach endlich, welches durch ein anderes von derselben Natur eingeschränkt werden kann. Einen Körper z. B. nennen wir begränzt, weil wir uns immer einen größeren vorstellen können. So wird ein Gedanke x durch den andern begränzt, ein Körper hingegen kann nicht durch das Denken und das Denken [...]
x das Denken durch das Denken (?)

Das Skript bietet zum einen eine Übersetzung von Baruch Spinozas Hauptwerk Ethik (I. Teil, „Definitiones“, „Axiomata“, „Propositiones“ (= Lehrsätze) I–XXXVI und Anhang). Wilhelm Gottlieb Tennemann hatte im Band X seiner Geschichte der Philosophie (S. 425–438) bereits eine Übersetzung der Definitiones, Axiomata und der Propositiones I–XV abgedruckt. Büchner übersetzt zunächst unabhängig von Tennemann, gleicht dann aber in einem zweiten Schritt seine Übersetzung mit der von Tennemann ab (vgl. Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 212–214). Zum andern enthält das Skript kritische Kommentare oder Gegenvorschläge zu einzelnen der Lehrsätze I–XV. Diesen Kommentaren lässt sich entnehmen, dass Büchner vor allem Lehrsatz V: „Es kann nicht mehrere Substanzen von gleicher Natur oder gleichen Attributen geben“, auf seinen Geltungsanspruch hin überprüfen wollte. Büchners Kritik gilt dabei der Frage, ob die Definition der Substanz deren Singularität notwendig einschließt. Wenn nicht, so sind beliebig viele Substanzen denkbar, und da die Attribute im wesentlichen definiert sind wie die Substanz, so entsteht die Frage, ob die „Substanz“ mehr ist als „ein leeres Wort“. Damit wird Spinozas Gottesbegriff (Lehrsatz XV) hinfällig. Büchners Argumentation gipfelt in der Feststellung, Spinozas Gott sei "der Collectivbegriff der (der Zahl nach) unendlichen Attribute" (Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 12 u. 17).

Spinoza-Skript (H1) p. 46 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar

Spinoza-Skript p. 46 Gott als Collectivbegriff.PNG

"Ueberhaupt ist wie schon in der Anmerkung zur 10 Proposition gesagt wurde, Substanz und Attribut eins und im Fall die Substanz mehrere Attribute habe, nur ein Collectivwesen, das aber für sich als was Besondres genommen keinen Inhalt oder Bedeutung hat. / Gott ist daser Collectivwesenbegriff der (der Zahl nach) unendlichen Attribute und wird mit dem Namen Substanz umfaßt."

Diese Kritik an Spinozas Begriff der einen Substanz - also dem einen Gott - ist weder als generelle Absage an Spinoza zu verstehen noch ein Zeichen dafür, dass Spinoza für Büchner nur noch von historischem Interesse gewesen wäre. Im Gegenteil: Büchner hielt es offenbar für sinnvoll, mit dem eigenen Philosophieren an das System Spinozas anzuknüpfen. Ebenso erklärte der Naturwissenschaftler Büchner in seiner Probevorlesung, dass für ihn der Satz: „Die Natur handelt nicht nach Zwecken“ von entscheidender Bedeutung sei. (vgl. Marburger Büchner Ausgabe VIII, S. 153). Dieser Satz aber ist ein Zitat aus Spinozas Ethik : „Naturam propter finem non agere“ („Präfatio“ zu „Pars Quarta“, vgl. Marburger Büchner Ausgabe VIII, S. 542).

Die zentrale Rolle, die Spinoza in Büchners Denken spielte, eine Rolle, die über nur philosophiegeschichtliche Interessen weit hinausging, war auch seiner Umgebung schon bekannt. August Lüning berichtet:

LZ 4235 August LüningWir erfuhren unter anderm von ihm, daß er bis vor Kurzem noch ungewiß gewesen war, ob er sich der spekulativen Philosophie (über Spinoza hatte er eingehende Studien gemacht) oder der beobachtenden Naturwissenschaft zuwenden solle.

Spinozas System war also Büchners Einstieg in die Disziplin der spekulativen Philosophie.

2.3. „Cartesius“ und „Spinoza“ H2, Straßburg 1836

LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 In dem Augenblick, in dem er sich für eine Arbeit in vergleichender Anatomie entschied, gab Büchner das Projekt, mit einer Revision von Spinozas System zu promovieren, vorläufig auf. Mit Philosophie beschäftigte er sich wieder ab Juni 1836, und zwar jetzt in der Absicht, „mit zwei Fächern ausgerüstet nach Zürich zu kommen“.

Seinem Bruder Wilhelm schrieb er am 2. September 1836:

Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Ueberflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten. 2. September 1836. An Wilhelm Büchner in Darmstadt

Im „Cartesius“-Skript, der einzig fertiggestellten Abteilung dieser groß angelegten Vorlesung, behandelte Büchner dann tatsächlich Descartes’ Erkenntnistheorie, seine Ausführungen über Physik, Kosmogonie, Anthropologie und andere Wissenschaften, seine Biographie, die frühe Rezeptionsgeschichte und unmittelbare Wirkung. In „Spinoza“ H2 behandelte er zunächst die „Wissenschaftslehre“ (p. 130) und ging dann zur „Metaphysik“ (p. 156) über. Welche Teile noch gefolgt wären und ob Büchner noch intensiv auf andere Schriften Spinozas eingegangen wäre, ist nicht erkennbar. Ebenso wenig ist abzusehen, welche „philosophischen Systeme“ jetzt tatsächlich deutscher Philosophen noch gefolgt wären.

Büchners Darstellung ist referierend angelegt, folgt also eng den lateinischen Originaltexten der beiden Philosophen, die Büchner auch häufig im Original zitiert. In den Übersetzungen sowie den Referaten orientiert er sich häufig an denen, die er in Tennemanns Darstellung (Wilhelm Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie. Bd. X, Leipzig: Barth 1817) vorfand.

Die „Systeme“, die Büchner darstellte, waren voneinander zunächst unabhängig. Dementsprechend lassen sich auch die Skripten zu beiden Philosophen als Reihung unabhängiger, nur lose miteinander verbundener Teile betrachten. Da Büchner andererseits hervorhob, es gebe einen „Uebergang“ („Spinoza“ H2, p. 130) von einem System zum andern, lassen sich die Darstellungen oder jedenfalls Teile davon auch als Glieder einer fortlaufenden Argumentationskette betrachten. Büchner erörterte in „Cartesius“ (p. 1–63 und p. 170–181) sowie „Spinoza“ (H2, p. 121–156) die Begründung der Erkenntnistheorie in den Systemen des dogmatischen Rationalismus, also bei Cartesius, Malebranche und Spinoza. In seiner Rolle als Naturwissenschaftler beurteilte Büchner den cartesianischen „Intermechanismus“ („Cartesius“, p. 88) als abwegig, Spinozas Naturbegriff dagegen als wegweisend. In der Rolle dessen, der „Philosophie als Wissenschaft“ („Cartesius“, p. 1) betreiben wollte, billigte Büchner dagegen den cartesianischen Versuch einer mathematischen Fundierung der Philosophie. Descartes‘ Versuch, sich aus dem Dilemma eines erkenntnistheoretischen Solipsismus, dem „Grab der Philosophie“, durch einen Gottesbeweis zu retten, bezeichnete Büchner als „sonderbar“.

Cartesius p. 33; Gott als Brücke.PNG

Cartesius-Skript p. 33 (Ausschnitt); GSA 28; Foto: Klassik Stiftung Weimar
Gott ist es, der den Abgrund zwischen Denken u. Erkennen, zwischen Subject und Object ausfüllt, er ist die Brücke zwischen dem cogito ergo sum, zwischen dem Denken einsamen, irren, nur in einem, d. Selbstbewußtseyn, gewissen, Denken und der Außenwelt. Der Versuch ist etwas naiv ausgefallen, aber man sieht doch, wie scharf instinktartig scharf schon Cartesius das große Loch, worin Grab der Philosophie abmaß, sonderbar ist es freilich wie er den lieben Gott als Leiter gebrauchte um herauszukriechen. („Cartesius“, p. 33; zit. nach Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 59.)

Mehr noch aber misstraute er umgekehrt Philosophen, die Gewissheit durch einen Sprung in die „absolute Anschauung“ erreichen wollten, durch ein Verfahren also, das Büchners Zeitgenossen gerade bei Spinoza zu erkennen glaubten. Büchner löste das Dilemma durch eine von der Mehrheitsmeinung abweichende Interpretation Spinozas. Dessen System nähert sich seines Erachtens nicht der Mystik, sondern ist im Gegenteil eine konsequente Weiterentwicklung der von Cartesius erarbeiteten und mathematisch fundierten erkenntnistheoretischen Grundlagen.

Er [Spinoza] fängt da an, wo Cartesius die Identität des Gedankens mit seinem Object aus der Wahrhaftigkeit Gottes schließt. Cartesius war so gut als Spinoza Identitätsphilosoph, wie es überhaupt jeder dogmatische Philosoph seyn muß. Spinoza setzt beständig die Schlußreihe des Cartesius vom cogito ergo sum an voraus, die er nicht wiederholte, weil er sie als erwiesen ansah und er kann es nicht anders, wenn er die mathematische Evidenz, auf die er beständig Anspruch macht, behaupten will. („Spinoza“ H2, p. 143; zit. nach Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 143.)

Diese These ermöglichte es Büchner, in den erkenntnistheoretischen Abschnitten seiner Vorlesung einer weitgehend kontinuierlichen Argumentationslinie zu folgen (vgl. ausführlich Marburger Büchner Ausgabe IX.2, S. 216 ff.). Der zunächst meist auf Schelling bezogene Begriff „Identitätsphilosoph“ lässt schon die längere Perspektive der Darstellung erkennen.

 

2.4. Naturwissenschaft und Philosophie, Zürich 1836

Die Arbeiten des vergleichenden Anatomen Büchner waren immer eng mit der medizinischen Fakultät verbunden. Hier lernte er die handwerklichen Fähigkeiten und Kenntnisse, die sein Beruf erforderte. Sein wichtigster Straßburger Lehrer, Alexander Lauth, war an der medizinischen Fakultät angestellt; der zweitwichtigste, Georges Louis Duvernoy , war „Docteur en médecine, Doyen de la Faculté des Sciences et Agrégé à la Faculté de Médecine“, also der medizinischen Fakultät assoziiert. Zeitleiste Sommersemester 1834Diese Doppelstellung hatte auch Büchners Gießener Lehrer Prof. Friedrich Wernekinck, außerordentlicher Professor für Medizin und zugleich ordentlicher Professor für Mineralogie an der Philosophischen Fakultät.

LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Diese Nähe zu Medizinprofessoren blieb auch in Zürich erhalten. Friedrich Arnold – so berichtet Ludwig Büchner – stellte Georg „seine Bibliothek“, Lukas Schönlein stellte ihm „seine werthvollen Präparate zur Verfügung“.

Arnold und Schönlein waren renommierte Mediziner, hatten aber zeitweilig auf demselben Gebiet geforscht wie Büchner.

Im wesentlichen bewegte sich Büchner mit seinen wissenschaftliche Arbeiten jedoch in den Disziplinen der Naturwissenschaft und der Philosophie, die zu dieser Zeit noch beide an den philosophischen Fakultäten gelehrt wurden. Fachphilosoph ohne naturwissenschaftliche Interessen war einzig sein Gießener Lehrer Joseph Hillebrand. Der Hauptgutachter von Büchners Dissertation war Lorenz Oken, in seiner Generation der führende deutsche Naturphilosoph und Biologe. LZ 3940 Philosophische Fakultät, ProtokollDie Nebengutacher waren Heinrich Rudolf Schinz , ein Zoologe, Karl Löwig, ein Chemiker, Oswald Heer, ein Botaniker und Mineraloge.

LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Büchner wurde bei seiner Ankunft in Zürich von dem Dekan der Philosophischen Fakultät, Johann Georg Baiter , veranlasst, die geplanten Vorlesungen über Philosophie aufzugeben und stattdessen Vergleichende Anatomie zu unterrichten.

Einleitung zur Probevorlesung Wie sehr aus seiner Sicht dieses Fach einer klaren philosophischen Orientierung bedurfte, erklärte er in seiner Probevorlesung: Die anglofranzösischen Biologen – so sein Vorwurf dort – seien außerstande, die Entwicklungsgesetze in der organischen Welt zu erforschen, denn sie betrachteten den „Organismus“ als „eine verwickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln versehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten“. Probevorlesung Die Maschine – so der nicht ausgesprochene weitere Zusatz – bedarf eines Mechanikus, also Gottes. Damit erübrigt sich die Frage nach immanenten Entwicklungsgesetzen. Sie stellt sich dann, wenn man Spinozas Satz aus der Vorrede zum vierten Teil der Ethik ernst nimmt: „Naturam propter finem non agere“. In Büchners Worten:

Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da. Probevorlesung



Anmerkungen

  • [1] Vgl. Susanne Lehmann: Georg Büchners Schulzeit. Ausgewählte Schülerschriften und ihre Quellen. Tübingen 2005, S. 414, 423 u. 431.
  • [2] Gideon Stiening: „Man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen“. Recht und Gesetz nach Büchner. In: Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner. Hrsg. v. Patrick Fortmann and Martha B. Helfer. Amsterdam, New York 2012, S. 33.
  • [3] Adolph Stöber, Idées sur les rapports de Dieu à la nature et spécialement sur la révélation de Dieu dans la nature, Strasbourg 1834.
  • [4] Johann Bernhard Wilbrand, Allgemeine Physiologie […], Heidelberg, Leipzig, Wien 1833, S. 2, hier zitiert nach Marburger Büchner Ausgabe VII.2, S. 475
  • [5] Georg Zimmermann, Georg Büchner, in: Didaskalia. Beiblatt zum Frankfurter Journal, Nr. 102–106, 13.–16. April 1880.
  • [6] Joseph Hillebrand, Philosophie des Geistes oder Encyclopädie der gesammten Geisteslehre. Ontologische und psychologische Betrachtung des Geistes, 1. Bd, Heidelberg 1835, S. VIII.
  • [7] Joseph Hillebrand, Philosophie des Geistes oder Encyclopädie der gesammten Geisteslehre. Ontologische und psychologische Betrachtung des Geistes, 1. Bd, Heidelberg 1835, S. VIII.

Text: Burghard Dedner (Juni 2014); zuletzt geändert Dezember 2016