LZ 4235
August Lüning: Brief an Karl Emil Franzos in Wien; Rüschlikon 9. November 1877
Rüschlikon bei Zürich, 9.XI.77.
Herrn Dr. Franzos in Wien.
Von Dr. Calmberg in Küsnacht benachrichtigt, daß Sie von mir etwas über G. Büchners Lehrthätigkeit zu vernehmen wünschten, kann ich Ihnen Folgendes mittheilen. Mich hatte die politische Bewegung des Jahres 1834 (Verfolgung der Burschenschaft) von Greifswald nach Zürich verschlagen, woselbst ich im Herbst 1834, nachdem ich bereits 5 Semester Jura hinter mir hatte, unter Schönlein , Oken, Demme, Arnold , Löwig u.s.w. Medizin zu studieren begann. In meinem 4. Semester nun, im Sommer 1836, hörte ich zum ersten Male von einem Studiosus Trapp aus Gießen den Namen Georg Büchner’s aussprechen, u. zwar mit einer solchen überschwenglichen Begeisterung, daß wir Alle auf’s Höchste gespannt auf B. wurden, dessen Ankunft in Zürich wie es hieß bevorstand. Es war dieß derselbe Trapp, der später, als Gutzkow „Danton’s Tod“ als ein Werk ersten Ranges pries, in einer seltsamen Anwandlung von einer Art von Eifersucht u. von einfältiger Altklugheit anonym an Gutzkow schrieb, er möge B. doch nicht so über alle Maßen loben, der junge Autor könne durch übertriebenes Lob leicht in Hochmuth u. Eitelkeit verfallen. Gutzkow zeigte B. den Brief, der sogleich den Verfasser errieth, sich äußerte, er sei froh, auf diese Art von einem Menschen loszukommen, der sich wie eine Klette an ihn gehängt, u. schließlich hart aber gerecht Trapp dadurch strafte, daß er ihn von seiner Ankunft in Zürich an bis zu seinem Tode consequent ignorirte. –
Meine erste Begegnung mit B. fand im Herbst 1836 statt, u. zwar auf der Burgruine Manegg im Sihlthale bei Zürich, wohin er mit dem politischen Schriftsteller Dr. W. Schulz u. dessen geistvoller Gemalin Caroline (der Herwegh später seine Gedichte dedizirte) gekommen war. Vor allem fiel er mir auf durch die breite, mächtige Dichter- u. Denkerstirn, wie ich sie imposanter nie wieder gesehen habe, u. durch eine gewisse, äußerst dezidirte Bestimmtheit in Aufstellung von Behauptungen, die zwar von hoher Selbständigkeit des Urtheils zeugte, zuweilen aber doch ein wenig über das Ziel hinausschoß. So erinnere ich mich, daß er an dem selben Tage den bekannten Revolutionsmann Eulogius Schneider mit dem Philologen Schneider identifiziren wollte, u. mit der größten Hartnäckigkeit, ja fast Heftigkeit, auf seinem Satze bestand, als Hermann Sauppe (damals Professor in Zürich, jetzt in Göttingen) ganz maßvoll widersprach. – Daß er – an demselben Tage – kühn genug die landschaftlichen Schönheiten des eben erst verlassenen Elsaß als der Schweiz vollkommen ebenbürtig darstellte, daran mochten wohl zum Theil ein Paar lieber Augen mit beitragen, die das Land, dem sie angehörten, in verklärendem Schimmer erscheinen ließen. –
B. lebte in Zürich sehr zurückgezogen; sein Umgang beschränkte sich auf das Schulz’sche Ehepaar, mit dem auch ich näher befreundet war, u. auf einige von früherher bekannte hessische Familien. Wir erfuhren unter anderm von ihm, daß er bis vor Kurzem noch ungewiß gewesen war, ob er sich der spekulativen Philosophie (über Spinoza hatte er eingehende Studien gemacht) oder der beobachtenden Naturwissenschaft zuwenden solle; nun habe er sich aber definitiv der letzteren gewidmet. – Damit übereinstimmend kündigte er mit Beginn des Wintersemesters 1836/37, nachdem er die venia legendi erhalten, an der Universität zu Zürich Vorlesungen über vergleichende Anatomie der Fische u. Amphibien an, die denn auch von mir besucht wurden. Unter den circa 20 Zuhörern von denen die mir bekannten sämmtlich gestorben sind, befand sich auch der später als Reisender in Neuseeland berühmt gewordene Dr. Ernst Diefenbach , wenn ich mich recht erinnere. Der Vortrag Büchner’s war nicht geradezu glänzend, aber fließend, klar u. bündig; rhetorischen Schmuck schien er fast ängstlich, als nicht zur Sache gehörig, zu vermeiden; was aber diesen Vorlesungen vor allem ihren Werth verlieh, u. was dieselben für die Zuhörer so fesselnd machte, das waren die fortwährenden Beziehungen auf die Bedeutung der einzelnen Theile der Organe u. auf die Vergleichung derselben mit denen der höheren Thierklassen, wobei sich B. aber von den damaligen Uebertreibungen der s. g. naturphilosophischen Schule (Oken, Carus u.s.w.) weislich fern zu halten wußte; – das waren ferner die ungemein faßlichen, anschaulichen Demonstrationen an frischen Präparaten, die B., bei dem völligen Mangel daran an der noch so jungen Universität, sich größtentheils selbst beschaffen mußte. So präparirte er z. B. das gesammte Kopfnervensystem der Fische u. der Batrachier auf das Sorgfältigste an frischen Exemplaren, um diese Präparate jedesmal zu den Vorlesungen verwenden zu können. Diese beiden Momente, die beständige Hinweisung auf die Bedeutung der Theile, u. die anschaulichen Demonstrationen an den frischen Präparaten, hatten denn auch wirklich das lebendigste Interesse bei allen Zuhörern zur Folge. Ich habe während meines achtjährigen (juristischen u. medizinischen) Studiums manches Collegium gehört, aber ich wüßte keines, von dem mir eine so lebendige Erinnerung geblieben wäre als von diesem Torso von B.’s Vorlesungen über vergleichende Anatomie der Fische u. Amphibien. Es sind nun 41 Jahre, seit ich diese Vorlesungen besuchte, ich habe während meiner praktischen Laufbahn als Militär- u. Gerichtsarzt seitdem wenig Gelegenheit gehabt, mich speziell mit der feineren vergleichenden Anatomie zu beschäftigen; aber das weiß ich doch noch so deutlich als wenn es heute wäre, daß B. bei den Fischen (gegenüber den 12 Kopfnervenpaaren der höheren Thiere) nur 6 Kopfnervenpaare (u. demnach auch 6 Kopfwirbel) annahm, u. die den Fischen fehlenden als bloße Zweige der ihnen eigenthümlichen Kopfnerven demonstrirte, so namentlich einen Ast des Nervus vagus als Repräsentanten des Nervus glossopharyngeus, u. den Ramus opercularis des Nervus trigeminus als Repräsentanten des Nervus facialis der höhern Thiere; die Augenmuskelnerven dagegen ließ er aus der bei den Fischen vorhandenen vorderen Wurzel des Nervus opticus entspringen. Bei den Batrachiern nahm er nur 5 Kopfnervenpaare an, weil das sechste (beim Menschen das zwölfte), der Nervus hypoglossus, bei denselben zwischen dem ersten u. zweiten Rückenwirbel seinen Ursprung nehme. Wir sehen daraus, daß er kein naturphilosophischer Pedant u. Fanatiker war, bei dem Alles in das System hineingezwängt werden mußte. So gestand er auch offen, daß ihm bei den Batrachiern der Ursprung der Augenmuskelnerven nicht ganz klar sei, er habe bei seinen Präparationen einigemal geglaubt, dieselben aus dem Nervus trigeminus hervorkommen zu sehen. Ein Naturphilosoph vom reinsten Wasser hätte natürlich die Möglichkeit der Verschiedenheit des Ursprungs dieser Nerven bei Fischen u. bei Batrachiern um keinen Preis zugegeben! –
Diese Vorlesungen, deren wissenschaftlicher Werth endlich noch durch die eingehendste Berücksichtigung der in- u. ausländischen Literatur erhöht wurde, sollten leider nicht beendigt werden: nach Beendigung der Vorlesungen über die Anatomie der Fische, ging der geniale junge Dozent über zur Anatomie der Amphibien; aber hier sprach leider das unerbittliche Geschick: bis hieher u. nicht weiter! Es war dem Vortragenden nur noch vergönnt, über Knochen- u. Nervensystem der Batrachier zu lesen; dann warf ihn der damals in Zürich grassirende Typhus auf das Krankenlager, von dem er nicht wieder erstehen sollte, u. nach einigen Wochen schon war das junge, vielversprechende Leben für immer entflohen, u. jenes Colleg über die vergleichende Anatomie der Fische u. Amphibien blieb das erste u. einzige, das B. gehalten hat. –
G. Büchner wohnte im Hause des kürzlich verstorbenen Bürgermeisters Dr. Zehnder von Zürich, der ihn in Gemeinschaft mit Schönlein behandelte; verpflegt wurde er auf’s Liebevollste von der Familie Schulz u. andern deutschen Familien, u. wir deutschen Studenten ließen es uns nicht nehmen, einen förmlichen Wachtdienst für Tag u. Nacht zu organisiren; da war ich denn oft genug Zeuge von jenen Phantasien, wie sie das arme Gehirn des Gemarterten durchtobten, u. wie sie Herwegh 1841 in seinen 3 Gedichten auf Büchner’s Andenken so ergreifend schilderte; denn als ich 1839 in Emmishofen bei Constanz die Bekanntschaft des damals noch unbekannten „Lebendigen“ machte, ließ er nicht nach, mich über Alles u. Jedes, was Büchner betraf, zu befragen, u. aus diesen Erzählungen sind großentheils die Schilderungen jener Phantasien des kranken Dichters entstanden. –
Das ist ungefähr Alles, was ich Ihnen von B. zu erzählen wüßte; Sie sehen, vergessen habe ich ihn nicht; wer mit dieser Feuerseele einmal in Berührung kam, dem schwand sie nicht wieder aus der Erinnerung!
Jener oben erwähnte falsche Jugendfreund Büchner’s ließ sich bald nach dessen Tode, ich glaube zum Theil aus Verzweiflung über die auf ewig verscherzte Freundschaft, zu einer wissenschaftlichen Reise nach Afrika (von Schönlein) engagiren; es kam aber nicht dazu: ein früher nicht beachtetes Brustleiden nahm ernstlichere Dimensionen an, u. nach ungefähr einem Jahre folgte Trapp seinem früheren Jugendfreunde nach. Die Erinnerung an die durch eignes Verschulden verlorene Zuneigung u. Achtung des immer noch geliebten früheren Freundes war der bitterste Stachel seines langen Krankenlagers. Auch ihm sei die Erde leicht! –
Nehmen Sie, hochgeehrter Hr. Dr., aus vorstehenden Mittheilungen, was Sie für die Herausgabe Ihres Buches brauchen können; mich hat es in meinen alten Tagen innig erfreut, den Manen des von mir gefeierten u. verehrten Dichters u. Gelehrten einen, wenn auch noch so geringen, kleinen Tribut zollen zu können. –
Empfangen Sie die Versicherung meiner Hochachtung u. Ergebenheit.
Dr. Lüning, alt Kantonalstabsarzt u. Oberstlieutenant.
Überlieferung
Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar; Druck: Bergemann 1922, S. 642–645.