1.1. Schulbesuch in Darmstadt

Von März 1825 bis März 1831 besuchte Georg Büchner das „Pädagog“, ein renommiertes Gymnasium, das vor ihm schon Darmstädter Berühmtheiten wie der Schriftsteller und Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), der Chemiker Justus Liebig (1803–1873) und der Historiker Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) besucht hatten. In fünf Klassen wurden hier rund 250 Schüler unterrichtet. Schwerpunkt der Schulbildung waren Latein und Griechisch; an neueren Sprachen lernte Büchner auf der Schule Französisch und Italienisch.

Inhalt
1. Das Pädagog
2. Lehrinhalte und Lehrerkollegium
3. Der Schüler Büchner, außerschulisch und schulisch

1. Das Pädagog

Offizieller Zweck des Unterrichts war es, die künftige Funktionselite für den Militär- und Verwaltungsapparat, das Rechts- und Gesundheitswesen sowie die Religions- und Unterrichtseinrichtungen in dem erst 1815 geschaffenen Großherzogtum Hessen-Darmstadt heranzubilden. Gegenüber den Eltern bezeichnete Büchner am 15. März 1836 diese künftigen Staatsbeamten in seiner Altersgruppe verächtlich als das „armselige, junge Geschlecht, was eben in [Darmstadt] herumläuft und sich ein Aemtchen zu erkriechen sucht!“ 15. März 1836. An die Eltern in Darmstadt

Zugleich erwies sich das „Pädagog“ in der Zeit Büchners auch als Kaderschmiede für radikale politische Oppositionelle. Seinem Vetter Edouard Reuss schrieb Büchner am 31. August 1833, also kurz vor Beginn seines ersten Semesters an der Universität Gießen: „Von Gießen verspreche ich mir wenig, meine Freunde sind flüchtig oder im Gefängniß.“ 31. August 1833. An Edouard Reuss in Straßburg Frankfurter Wachensturm Tatsächlich standen zu diesem Zeitpunkt folgende mit Büchner befreundete Darmstädter Abiturienten unter dem Verdacht, sich am 3. April 1833 am Putschversuch des „Frankfurter Wachensturm“, beteiligt zu haben (in eckigen Klammern Jahr des Abgangs vom Pädagog):

Georg Gladbach [1828], Adolf Heumann [1828], August Gros aus Steinheim [1829], Christian Kriegk [1829], Johann Friedrich Walloth [1829], Carl Stamm [1830], Hermann Wiener [1830], Hermann Dittmar [1830], Hermann Trapp [1831] und Alexander Winther [1831]. Hinzu kamen die älteren Absolventen des Pädagogs Ernst Schüler (1807–1881) [1827] und Ludwig Bogen (1809–1886) [1827] sowie der Darmstädter Ludwig Rosenstiel (1806–1863), der allerdings das Pädagog nicht besucht hatte.

2. Lehrinhalte und Lehrerkollegium

Die Politisierung der Darmstädter Gymnasiasten spiegelte in konzentrierter Form die der städtischen Intelligenz im allgemeinen. In sehr viel gemäßigterer Form erfasste sie auch Teile des Lehrerkollegiums. Sie trug während der Befreiungskriege (1813–1815) antifranzösisch-nationalistische, nach dem Wiener Kongress (1814/15) burschenschaftlich-antirestaurative Züge. Die mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 einsetzende geheimpolizeiliche Überwachung jeglicher oppositioneller Regung führte einen Zustand scheinbarer Ruhe herbei, den die Revolution vom Juli 1830 jäh beendete. Zur Politisierung trug der Schulstoff mit seiner Orientierung an den Heroen der spartanischen und römischen Geschichte einerseits, an denen der germanischen und deutschen Vergangenheit andererseits bei. (Zur politischen Ausrichtung des „Pädagogs“ vgl. Marburger Büchner Ausgabe Bd. II.1, S. 59–67.)

Potentiell kritische Fächer waren dementsprechend außer Deutsch und Geschichte auch die Sprachen Griechisch und Latein, die etwa vierzig Prozent des gesamten Stundenvolumens in Anspruch nahmen. Die Schwerpunkte lagen hier bei Cicero und Seneca, Livius und Tacitus. Erzählungen von dem Heroismus, den vor allem die Römer zunächst bei der Errichtung und Ausbreitung, dann bei den Kämpfen um den Erhalt der Republik bewiesen hätten, spielten eine wichtige Rolle. Zu den Wirkungen des Unterrichts gehörten, wie die selbständigen Schülerschriften Büchners zeigen, Vorstellungen von der Überlegenheit der heroischen Antike über die heroismusfeindliche Moderne Schülerschriften und eine Infragestellung der christlichen Ethik durch die Lehrsätze der stoischen Philosophie Schülerschriften. Der Deutschunterricht und Teile des nachantiken Geschichtsunterrichts waren dagegen vom Programm der deutschen politischen Romantik geprägt. Als ästhetisch vorbildlich galten hier Volks- und Heldenlieder, als politisch vorbildlich Tugenden wie Treue, Freiheitssinn oder Kampfesmut, wie sie die „Deutschen“ im Widerstand gegen römische und andere Unterdrücker bewiesen hätten. Diese Werte ließen sich im Sinne der Formel „für Fürst und Vaterland“ konstitutionalistisch, also als Bestätigung der bestehenden deutschen Kleinstaaten, auslegen. Büchner verstand sie als Zeugnisse einer oppositionell-republikanischen Gesinnung.

Der Direktor des Gymnasiums, Carl Dilthey, erteilte in den oberen Klassen Unterricht über politisch indifferente Gegenstände wie die „Malerei der Alten“ oder „Holzschneidekunst“. Jedoch veröffentlichte er 1823 als sein wichtigstes wissenschaftliches Werk einen Kommentar zu einem zentralen Text des frühen deutschen Nationalismus, zu der Germania des Cornelius Tacitus. Er machte sich darin zwar über den neumodischen Kult germanischer „Holzäpfel“ und „geronnener Milch“ lustig, war sich aber in seiner „Begeisterung für Hellenen und Germanen“ und in seiner Rede von dem „gräßlichen Bilde der Entartung“ in der Moderne mit den politischen Romantikern doch wieder einig. Dies erklärt, weshalb die uneingeschränkte Verherrlichung des Cato von Utica, der in Büchners Kato-Rede noch dazu für die Werte "Vaterland, Ehre und Freiheit" Schülerschriften stirbt, die in der burschenschaftlich-patriotischen Bewegung propagiert wurden, bei Dilthey offenbar keinen Anstoß erregte. Germanischen Freiheitssinn pries auch Büchners Geschichtslehrer Georg Lauteschläger (1792–1864) in einer kleinen „historischen Abhandlung“ über Die Einfälle der Normänner in Teutschland von 1827. In ihr verwies er mehrfach positiv auf den Dichter Ernst Moritz Arndt, der 1826 in einer Publikation den antimonarchischen Freiheitssinn germanischer Völker hervorgehoben hatte. Arndt, einer der führenden Publizisten der antinapoleonischen Bewegung, hatte im Jahre 1826 seine Professur in Bonn aus politischen Gründen verloren.

Ebenfalls ins Spektrum der politischen Romantik gehörte vermutlich auch Karl Wagner , der in Gießen Mitglied der Burschenschaft war (vgl. Hauschild, Georg Büchner. Biographie. Stuttgart 1993, S. 76) und der seit 1827 am Pädagog Griechisch, Latein und Deutsch unterrichtete. Er publizierte eine Gedichtsammlung Teutsche Geschichten aus dem Munde teutscher Dichter (Darmstadt 1831), die 1841 als Poetische Geschichte der Deutschen in veränderter dritter Auflage erschien. Er bevorzugte politisch engagierte Lyriker wie Friedrich Schiller und Ludwig Uhland, Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Gottfried Herder, Ernst Moritz Arndt und Theodor Körner. Die dritte Auflage seiner Anthologie enthält ein Bekenntnis zu Ernst Moritz Arndt sowie das Gedicht „Arnold von Winkelried“ des radikalen Gießener Burschenschafters Adolf Follen, der 1821 nach fast zweijähriger preußischer Haft nach Zürich geflohen war und in Abwesenheit wegen Hochverrats verurteilt worden war. Ein charakteristisches Thema in Wagners Schriften ist der Wettbewerb zwischen „Teutschen“ und „Fremden“, die Rede vom mahnenden Vorbild der Ahnen und die Berufung auf die befreiende Wirkung der Reformation: All dies findet sich ähnlich auch in Büchners Helden-Tod-Aufsatz. Schülerschriften

In deutlichem Widerspruch stand der Schüler Büchner anscheinend zu dem Deutschlehrer Karl Baur, der vermutlich die antifranzösisch-moralisierende Richtung des deutschen Konstitutionalismus vertrat. WZ 250 Carl Baur zu „Danton’s Tod“ Von dieser Gesinnung zeugt z. B. das satirische Gedicht „Rezept aus der neuesten ästhetischen Küche“ (in: Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung, Frankfurter Konversationsblatt vom 5. September 1835), mit dem Baur ablehnend auf Büchners Drama Danton’s Tod reagierte.

Die Abneigung, die Baur und Büchner gegeneinander empfanden, war anscheinend in der Familie bekannt und bildet noch ein Leitmotiv in Luise Büchners fragmentarischem Schlüsselroman über Büchner (vgl. Luise Büchner: Ein Dichter. Novellen-Fragment, in: Dies.: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden. Bd. 1, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1878, S. 179–262).

3. Der Schüler Büchner, außerschulisch und schulisch

LZ 1200 Friedrich Zimmermann an Franzos Über Büchners literarische Interessen äußerte sich 1877 der Schulkamerad Friedrich Zimmermann aus dem Abstand von 50 Jahren.

Ihm zufolge interessierte sich Büchner nicht für „Unterhaltungsliteratur“, sondern für „Geistesbildung“ und „große Dichtwerke“. Er las „vorzüglich Shakspeare, Homer, Göthe, alle Volkspoesie, die wir auftreiben konnten, Aeschylos und Sophokles; Jean Paul und die Hauptromantiker“, weiterhin Calderon, französische Dichter, „Herder’s Stimmen der Völker und des Knaben Wunderhorn“ und vor allem Goethes „Faust“. Schillers Rhetorik missfiel ihm. „In der Schule befriedigte er durch recht mäßige Anstrengung.“

LZ 1220 Luck an Franzos An die Shakespeare-Begeisterung eines Schülerzirkels, zu dem auch Büchner gehörte, erinnerte sich im Detail Ludwig Wilhelm Luck . Man verabredete sich im Sommer 1828

in dem schönen Buchwald bei Darmstadt an Sonntagnachmittagen im Sommer, die Dramen des großen Britten zu lesen, die uns die anregendsten u theuersten waren, als den Kaufmann von Venedig, Othello, Romeo u Julia, Hamlet, Kg. Richard III u.s.w. Wir hatten Momente innigster u. wahrster Hingerissenheit u Erhebung z. B. beim Lesen der Stelle: Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft“ u. „der Mann, der nicht Musik hat in sich selbst, – trau keinem solchen.

Einige Kritzelseiten aus Büchners letztem Schulheft zeugen ebenfalls von dieser Shakespeare-Begeisterung. Büchner notierte dort auswendig längere, weitgehend erotisch anzügliche Passagen aus Shakespeares Dramen Hamlet und Der Sturm. Hinzu kamen Stellen aus Goethes Faust und aus einem Gassenhauer, dem „Lauterbacher Strumpflied“.

Weitere Zitate aus dem „Großen Lied“, einem politisch radikalen, den Fürstenmord verherrlichenden lyrischen Manifest Georg Büchner, ein „Vergötterer der Revolution“ des ultraradikalen Gießener Burschenschafters Karl Follen, zeigen Büchners Begeisterung für revolutionäre Lyrik.

In einer Rede über den Cäsargegner Cato von Utica, die er öffentlich im Gymnasium vortrug, Schülerschriften LZ 1220 Luck an Franzos  bekannte sich Büchner zur Staatsform der Republik. Den Mitschüler Karl Minnigerode grüßte er nach der Julirevolution 1830 mit „Bon jour, citoyen“, dem Gruß der Revolutionäre von 1793.

LZ 1190 Carl Dilthey, Exemtionsschein Beim Abgang von der Schule stellte der Direktor Carl Dilthey dem Schüler Büchner ein abwägendes Zeugnis aus. Im Deutschen bescheinigte er ihm „vorzügliche“ Fähigkeiten, im Lateinischen äußere er sich „ziemlich correct und fliessend“, in Mathematik seien seine Leistungen „wegen mangelnder Vorkenntnisse und kurzen Gesichts“ unterdurchschnittlich. In auffällig unbestimmter Art erwähnt Dilthey am Ende des Zeugnisses „Erschlaffung, Versäumnis oder voreilig absprechende Urtheile“ als Gefahren, gegen die Büchner sich jedoch werde wappnen können.

Literaturhinweise:

Lehmann, Susanne: Georg Büchners Schulzeit. Ausgewählte Schülerschriften und ihre Quellen. Tübingen 2005 (= Büchner-Studien 10)

Lehmann, Susanne (Hrsg.): Georg Büchner. Schülerschriften und Schulhefte. Text bearbeitet von Ingrid Rehme. Darmstadt 2013 (= Marburger Büchner-Ausgabe I.1)

Lehmann, Susanne (Hrsg.) unter Mitarbeit von Ingrid Rehme und Eva-Maria Vering: Georg Büchner. Schülerschriften und Schulhefte. Emendierter und quellenbezogener Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungen. Darmstadt 2013 (= Marburger Büchner-Ausgabe I.2)

Dedner, Burghard (Hrsg.) unter Mitarbeit von Katja Battenfeld: Georg Büchner: Der Hessische Landbote. Text, Editionsbericht, Erläuterungen. Darmstadt 2013, S. 55-134 Darmstadt 2013 (= Marburger Büchner-Ausgabe II.1)

 

Text: Burghard Dedner (Juni 2014), zuletzt geändert Juli 2017