31. August 1833. An Edouard Reuss in Straßburg

Darmstadt d. 31te August. 33

Lieber Edouard!

Soll ich meine träge Hand entschuldigen? Für mein Gedächtniß ist’s nicht nöthig; ich kümmerte mich sonst wenig darum, jetzt aber macht es bey mir den Wiederkäuer und füttert mich mit der Erinnerung an frohe Tage. Ich könnte in dießem lamentirenden Style fortfahren um Dir einen Begriff von meiner hiesigen Existenz zu geben, wenn Du nicht schon einmal selbst so eine Art vom Darmstädter Geschmack gehabt hättest. Meine Familie im engern Sinne traf ich im erwünschtesten Wohlseyn, und meine Mutter erholt sich zusehends von ihrer schweren Krankheit. Eltern und Geschwister widerzusehen, war eine große Freude; das entschädigt aber nicht für meine sonstigen furchtbar, kolossal, langweiligen Umgebungen. Es ist etwas großartiges in dieser Wüstenei, die Wüste Sahara in allen Köpfen und Herzen. Von den übrigen Verwandten weiß ich wenig. Nach dem pflichtmäßigen Antritts-Gerüssel, mache ich so gegen Ende Octobers mein officielles Abschieds-Genüssel, wo ich nach Gießen abziehe. Meine verwandtschaftlichen Regungen sind damit beseitigt. Von Gießen verspreche ich mir wenig, meine Freunde sind flüchtig oder im Gefängniß. Für mich ist nichts zu fürchten, ich bin hier konstitutionell, liberal aufgeklärt geworden, seit ich weiß, daß das tausendjährige Reich mit der konstitutionellen Aera angefangen. Unser Landtag führt den Beweis, seine Lebensfrage ist seit 8 Monaten noch nicht entschieden. Ein Mensch braucht höchstens eine Stunde um auf die Welt zu kommen, (wo die Civilisation und Aufklärung noch nicht so weit gekommen wie z. B. bey den Indiern 10 Minuten) ein deutscher Landtag deren 5760, ein Mensch lebt 60 Jahr, ein Landtag 41272; O Messias! Ueber seine Physiognomie kann ich Dir grade nichts sagen, sintemal es noch nicht entschieden, ob das Kind mit Kopf oder podex zuerst auf die Welt kommt.

Doch wird es wahr[scheinlich] die Familienzüge behalten und so zi[em]lich seiner französischen Mama gleichen.

Bey unsrer Manier im Briefschreiben, hoffe ich kaum bald Antwort zu erhalten; doch dürftest Du mit mir einmal eine Ausnahme machen, so eine gänzliche Trennung von Straßburg schmerzt mich. Ich habe an Boeckel geschrieben, aber keine Antwort. Grüße ihn und sag’ ihm er möge bald antworten und mir die These von Goupil schicken, die andere hätte ich erhalten und ließe ihm danken. Ist Stöber in Straßburg? Viel Grüße an ihn und die andern Freunde. Und Wulfes? Ist er noch bey Dir, so sag ihm, ich hoffte ihn bey mir zu sehen, wenn seine Reise ihn in unsre Gegend brächte. Ihr werdet mich doch über einem Monat ohne Briefe nicht vergessen haben. Ich bitte und hoffe auf baldige Antwort.

Bringe meine herzlichsten Grüße Deiner Mutter, Schwester und Tante, und sage ihnen, daß d[ie in i]hrer Nähe verlebten Augenblicke zu [den f]rohsten meines Lebens gehörten. Lebe [woh]l, Dein Georg.