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Friedrich Zimmermann: Brief an Karl Emil Franzos; Darmstadt 13. Oktober 1877

Die Bekanntschaft mit Georg Büchner, diesem hochsinnigen, genialen und kraftvollen Menschen, machte ich im Lauf des Jahres 1829, und wir schloßen herzliche Freundschaft. Wir verkehrten sehr häufig zusammen bis Herbst 1831, wo er nach Straßburg, ich nach Heidelberg Studirens halber abgiengen (ohne Maturitätszeugniß, dergleichen damals nur in Ausnahmsfällen erfordert ward). Wir arbeiteten gemeinsam an unserer Geistesbildung, besonders in philosophirenden Gesprächen auf Spaziergängen (Wirthshäuser besuchten wir nicht). Wir vertieften uns in die Lectüre großer Dichtwerke. Büchner liebte vorzüglich Shakspeare, Homer, Göthe, alle Volkspoesie, die wir auftreiben konnten, Aeschylos und Sophokles; Jean Paul und die Hauptromantiker wurden fleißig gelesen. Bei der Verehrung Schiller’s hatte Büchner doch Vieles gegen das Rhetorische in seinem Dichten einzuwenden. Uebrigens erstreckte sich der Bereich des Schönliterarischen, das er las, sehr weit; auch Calderon war dabei. Für Unterhaltungslectüre hatte er keinen Sinn; er mußte beim Lesen zu denken haben. Sein Geschmack war elastisch. Während er Herder’s Stimmen der Völker und des Knaben Wunderhorn verschlang, schätzte er auch Werke der französischen Literatur. Er warf sich frühzeitig auf religiöse Fragen, auf metaphysische und ethische Probleme, in einem inneren Zusammenhang mit Angelegenheiten der Naturwissenschaften, für deren Studium er sich frühe entschied. Gedichtet hat er, meines Wissens, damals nichts; aber für ächte Poesie war seine Liebe groß, sein Verständniß fein und sicher. Für die Antike und für das Seelenbezwingende in der Dichtung neuerer Zeiten hatte er gleiche Empfänglichkeit, übrigens so, daß er sich dem einfach Menschlichen mit Vorliebe zuwandte. Sein mächtig strebender Geist suchte sich eigne Wege; in der Schule befriedigte er durch recht mäßige Anstrengung. Sein sittlicher Wandel war durchaus unbescholten; nur für edlere Genüsse des Geistes und Gemüthes hatte er Sinn; das Gemeine stieß er unwillig von sich. Die Natur liebte er mit Schwärmerei, die oft in Andacht gesammelt war. Kein Werk der deutschen Poesie machte darum auf ihn einen so mächtigen Eindruck, wie der Faust. – Den damaligen Lehrern des hiesigen Obergymnasiums muß ich viel Gutes nachrühmen; unter den Schülern befand sich eine erhebliche Zahl von Talenten und Emporstrebenden. Die Grundfärbung des Unterrichts war Griechisch-Lateinisch; in den exacten Wissenschaften verlangte man vom Schüler sehr wenig, der Besuch des Französischen, Englischen, Italienischen war facultativ. Der Ordinarius der damaligen Prima, Karl Friedrich Weber, der Herausgeber des Lucan, später Gymnasial-Director zu Kassel, gestorben als Universitätsprofessor der klass. Philologie in Marburg, war ein sehr gelehrter Kenner des Griechischen, ein redlich bemühter, energischer, charaktervoller Lehrer; der Führer der Selecta war Gymnasial-Director Karl Dilthey (gestorben 1857) ein geistreicher, Lust und Liebe zum interpretirten Autor erweckender Lehrer, von humanem und feinem Benehmen bei einer gewissen Zugeknöpftheit. Ein Hauptgegenstand der Pflege war ihm der latein. Aufsatz; die ungeduldig vorwärts strebende Seele Büchner’s faßte kein Herz für Grammatik und Stillehre, auch nicht für die latein. Versübungen und das latein. Nachinterpretiren, was doch Alles von Nutzen gewesen ist. Im Deutschen verdankten die beiden jungen Freunde sehr viele Anregung und Förderung dem noch lebenden, fast 90jährigen Professor Karl Baur. – Ich bin überzeugt, daß mein unvergeßlicher Jugendfreund und commilito in literis mehr zum Philosophen, als zum Dichter geboren war; auch den Beruf zum bedeutenden Naturforscher scheint er mir schon damals entschieden angekündigt zu haben.

Professor Dr. F. Zimmermann, Gymnasiallehrer i. P.

Überlieferung
Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar; Erstdruck: Karl Emil Franzos (Hg.), Georg Büchner’s Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß, S. XXXII, XXXVI (Auszüge); Druck 2: Fritz Bergemann (Hg.), Georg Büchners sämtliche Werke und Briefe, 1926, S. 419–421.