LZ 1190
Carl Dilthey: Exemtionsschein; Darmstadt 30. März 1831

Der bisherige Gymnasiast Carl Georg Büchner aus Goddlau, Sohn des Herrn Medicinalraths Büchner hierselbst, lutherischer Confession, hat 6 1/2 Jahre lang das hiesige Gymnasium besucht, welches er jetzt, 17 1/2 Jahre alt, von der ersten Ordnung in Selecta verläßt, um sich dem academischen Studium der Medicin zu widmen, zu welchem Endzweck ihm gegenwärtiges Zeugnis ausgestellt wird. Im Griechischen hat er sich gute Kenntnisse erworben und vermag bei gehöriger Vorbereitung mit Geläufigkeit zu übersetzen und lobenswerthe Arbeiten zu liefern. Im Erklären und Übersetzen der lateinischen Prosaiker zeigt er viele Gewandtheit, im Verstehen und Interpretieren der Dichter hinlänglichen Scharfsinn, der schriftliche Ausdruck im Lateinischen ist verständlich, ziemlich correct und fliessend und zuweilen bis zur Fülle des oratorischen Numerus gesteigert. Das Studium der italienischen Sprache hat er mit glücklichem Erfolg in der letzten Zeit betrieben. Vorzügliches Interesse bezeigte er für die teutschen Lectionen, in denen er sich theils durch einen verständigen mündlichen Vortrag, theils durch einzelne, von vorzüglicher Auffassungs- und Darstellungs-Gabe zeugende schriftliche Arbeiten auszeichnete. Den Religionsstunden hat er mit Aufmerksamkeit beigewohnt und in denselben manche treffliche Beweise von selbständigem Nachdenken gegeben. In der Archäologie hat er mehr als gewöhnliche Schulkenntnisse, besonders in der Geschichte der Bildhauerkunst. In der Geschichte sind die Kenntnisse bedeutend. In der Mathematik war es wegen mangelnder Vorkenntnisse und kurzen Gesichts nicht möglich, mit den meisten Mitschülern gleichen Schritt zu halten, doch hat es am vielfachen Bestreben nicht gefehlt, noch manches nachzuholen. Bei guten Anlagen läßt sich auch in seinem künftigen Berufsstudium etwas Ausgezeichnetes von ihm erwarten, und von seinem klaren und durchdringenden Verstande hegen wir eine viel zu vortheilhafte Ansicht, als dass wir glauben könnten, er würde jemals durch Erschlaffung, Versäumnis oder voreilig absprechende Urtheile seinem eigenen Lebensglück im Wege stehen. Vielmehr berechtigt uns sein bisheriges Benehmen zu der Hoffnung, daß er nicht blos durch seinen Kopf sondern auch durch Herz und Gesinnung das Gute zu fördern, sich angelegentlichst bestreben werde.

Darmstadt am 30. Maerz 1831.
C. Dilthey,
Gymnasialdirector.

Überlieferung
Handschrift: Acten der Ghzl. Hessischen Immatriculations-Commission zu Gießen, betr. die Immatriculation des stud. med. Georg Büchner aus Darmstadt WS 1833/34, Akten des Universitätsarchivs Gießen; Erstdruck: Georg Lehnert, Georg Büchners Reifezeugnis, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 16 (1946/47), S. 79–81; Faksimile in: Gerhard Schaub, Georg Büchner und die Schulrhetorik, 1975, S. 124 f.

Erläuterungen
Im Osterprogramm 1830 ließ Dilthey die geltenden Verordnungen für den Unterricht drucken und teilte den Eltern mit, dass auch die Ausstellung der Reifezeugnisse an bestimmte Vorgaben gebunden war: „Nach einer höchsten Verordnung vom 28. December 1826 sollen die beim Abgange der Schüler ihnen mitgegebenen Zeugnisse nicht blos die Zeit, während welcher ein Schüler im Gymnasium Unterricht erhalten, so wie die Classe und Ordnung, in welcher er zuletzt gesessen, angeben, sondern auch eine möglichst genaue und nach pflichtmässiger Ueberzeugung, so wie mit der grössten, keine persönliche Rücksichten kennenden Gewissenhaftigkeit zu entwerfende Charakteristik des abgehenden Schülers hinsichtlich seines Fleisses, seiner Anlagen, seiner Fortschritte, seiner Sittlichkeit, Ordnungsliebe, Folgsamkeit u. s. w. enthalten.“ (Osterprogramm 1830, S. 26).

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