7.4. Burghard Dedner:
Vater-Sohn-Konflikte I: Die Legende von Verstoßung und Enterbung
Einleitung
Wenn wir der frühen Überlieferung zu Büchners Vater Ernst Büchner glauben wollen, so war die Menge des Unrechts, das er seinem Sohn Georg antat, beträchtlich. Vor allem der frühe Biograph Karl Emil Franzos sammelte und vergröberte diese Erzählungen und rückte sie geradezu ins Zentrum seiner Büchner-Biographie von 1879. Einige dieser Erzählungen sind noch immer präsent.
Ich will deshalb in einigen kürzeren Beiträgen diesen Erzählungen nachgehen und sie so weit wie möglich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Ich beginne mit der Legende von Verstoßung und Enterbung Büchners durch seinen Vater. Ernst Büchner, so hieß es, sagte »sich mit kalter Härte von dem Lieblingssohne los« und versagte ihm nach der Flucht jegliche Unterstützung.
Inhalt
1. Die Verbreitung der Legende
2. Gespräche über Georg im Hause Büchner (Faktencheck 1)
3. »jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt« (Faktencheck 2)
4. Ein möglicher Grund für die Legende
1. Die Verbreitung der Legende
Er durchlebe gerade einen »Grad von Elend, […] welcher jede Rücksicht vergessen und jedes Gefühl verstummen macht«, schrieb Büchner am 21. Februar 1835 an Karl Gutzkow. 21. Februar 1835. An Karl Gutzkow in Frankfurt am Main Gutzkow könne ihn jedoch »vor einer sehr traurigen Lage bewahren«, wenn er das dem Brief beiliegende Drama Danton’s Tod binnen fünf Tagen zum Druck annehme. LZ-4570 Karl Gutzkow: Ein Kind der neuen Zeit In seinem Büchner-Nachruf von 1837 gab Gutzkow Büchners selbstbewussten Bettelbrief im Wortlaut wieder und schrieb dazu, er drucke ihn »unbekümmert um seine noch lebenden vermöglichen Eltern«, denn er werde »die kleine Affektation und das unmotivirte Elend darin bald erklären«.
Nach den Konventionen der Zeit war die Mitteilung des Briefes tatsächlich indiskret, denn es war die selbstverständliche Pflicht der »vermöglichen Eltern«, dem in Not geratenen Sohn zu helfen. Jedoch bestand hier die Ausnahmesituation, dass der Sohn vor der drohenden polizeilichen Verhaftung floh, aber dem Vater ebendiese Notlage nicht mitteilen konnte. Gutzkow erklärte:
Kaum hatte Georg Büchner ein Resultat, so erfuhren wir, daß er auf dem Wege nach Straßburg war. Ein Steckbrief im Frankfurter Journal folgte ihm auf der Ferse. Er hatte in Darmstadt, vor seiner Familie sogar, verborgen gelebt, weil er jeden Augenblick fürchten mußte, in eine Untersuchung gezogen zu werden.
Als einen »von allen Mitteln entblößten, von seinem Vater zur Strafe für seine politische Gesinnung sich selbst überlassenen jungen Mann«: so beschrieb Gutzkow Büchner vierzig Jahre später in seinen Rückblicken auf mein Leben.[1]
Ernst Büchner, (Deckweißüberhöhte Daguerreotypie, 1854)
Das war die Verstoßungslegende mit ihren finanziellen Konsequenzen. Nach der Version von 1837 war der Vater gar nicht in der Lage, dem »verborgen« lebenden Sohn zu helfen. Nach der Version von 1875 verweigerte er dem Sohn jegliche Unterstützung »zur Strafe für seine politische Gesinnung«. Unterlag Gutzkow hier nur der üblichen Vergröberung von Erzählungen bei schwächer werdender Erinnerung? Wohl nicht, denn Gutzkow war nicht der einzige, der die Geschichte von Georg Büchners Verstoßung erzählte.
LZ 1590 Reuss, Erinnerungen, 1853Seine Mutter durfte nur mit stillem Seufzer an ihn zurückdenken, der strenge Sinn des Vaters zwang sich den verlornen zu vergessen dessen Streben er weder begriff noch billigte.
So erzählte Büchners Straßburger Cousin Edouard Reuss die Verstoßungslegende. Und auch Wilhelm Büchner, Georgs Bruder, wiederholte in einem Brief vom Dezember 1878 an den Schriftsteller Karl Emil Franzos den finanziellen Teil der Legende mit der Formulierung, Ernst Büchner habe »jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt« LZ 3440 Wilhelm Büchner Dezember 1878.
Als nun gar Georg nach Strasburg flüchtete, war derselbe im höchsten Grad erbittert und hat jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt. Nur durch die Mutter und die Grossmutter wurden Georg einige Mittel von Zeit zu Zeit zugewiesen, vielleicht nicht ganz ohne Wissen des Vaters, aber nicht mit seiner officiellen Bewilligung.
Der Biograph Karl Emil Franzos verband dann beide Teile der Legende in der Einleitung zu der Büchner-Edition von 1879.[2]
So lange Georg lebte galt er ihm als todt, er gewährte ihm keine Unterstützung, erkundigte sich nicht nach seinen Schicksalen, ja sogar sein Name durfte ihm nie genannt werden. […] er ließ es geschehen, daß Gattin und Kinder eifrig mit dem Flüchtling correspondirten, und als Frau Caroline überaus sparsam wurde, um den Sohn von dem Wirthschaftsgeld unterstützen zu können, verlor er kein Wort darüber, warum es plötzlich so karg im Haus zugehe, obwohl er den Sachverhalt wohl wußte. Er selbst freilich hat Georg’s in jener Zeit nie erwähnt, auch dann nicht, als Ende März jene hundert Gulden in Darmstadt eintrafen, welche Johann David Sauerländer als Honorar für »Danton’s Tod« gewährt. Da übergab er Geld und Brief schweigend der Gattin.
Solche Erzählungen haben sich der Öffentlichkeit und den Büchner-Forschern eingeprägt. Und wie sollte sie auch nicht? Das Verbot der Namensnennung, die kärglichen Mahlzeiten im Haus Büchner, die schweigende Übergabe von Brief und Honorar an die Gattin: das erzählt Franzos so detailreich, als sei er dabei gewesen. Alle Romanschriftsteller erzählen so, und Franzos war ein nicht unbedeutender Romancier. Den historischen Wahrheitstest besteht keines dieser Details.
2. Gespräche über Georg im Hause Büchner (Faktencheck 1)
»Schweigend der Gattin« übergeben habe Ernst Büchner Georgs Honorar für Danton’s Tod. Tatsächlich war Ernst Büchner als das Honorar - vermutlich am 7. März - in Darmstadt eintraf, noch völlig nichtsahnend. LZ 3530 Ernst Büchner an Karl Gutzkow Wie wir aus einem im Verlagsarchiv Sauerländer aufbewahrten Schreiben wissen, bestätigte er den Empfang des Geldes mit den Worten, sein Sohn, den er »längstens innerhalb einiger Tage zurück erwarte«, sei gerade »in Folge einer besonderen Ursache nach Friedberg verreist«.
»Sein Name durfte ihm nie genannt werden«, heißt es bei Franzos weiter. Caroline Büchner durfte »nur mit stillem Seufzer an ihn zurückdenken«, schrieb Edouard Reuss. Hören wir dazu Büchners Freund Eugen Boeckel, der im Januar 1836 die Büchners in Darmstadt besuchte. Er schrieb am 16. Januar 1836:
Mein lieber George, wahrscheinlich wirst Du schon einiges von meiner Reise erfahren haben durch meinen Bruder u. Deine Eltern, bey denen ich gerne länger verweilt hätte wenn es die Jahreszeit u. die übrigen Umstände gelitten hätten. Es war mir auf jeden Fall angenehm u. intereßant die Familie meines lieben Freundes kennen zu lernen, Deine Mutter ist übrigens eine der angenehmsten u. unterhaltensten Personen welche ich jemalen gesehn habe, ich würde mich sehr freuen Deine Mutter u. Deine Schwester in Straßburg nächsten Ostern zu sehn wenn es möglich wäre – Dein Vater ist billig aber mit Recht etwas ungehalten über Dich. […] Du kannst leicht denken daß wir sehr viel von Dir u. delle Wilhelmine sprachen – 16. Januar 1836. Von Eugène Boeckel nach Straßburg
Dies ist eine Momentaufnahme zehn Monate nach der Flucht und sieben Monate nach dem Steckbrief vom 18. Juni 1835. Sie zeigt bereits eine relativ entspannte Familienatmosphäre. Büchners Straßburger Freund wird von den Eltern mit offenen Armen aufgenommen. Man spricht viel über Georg und die Verlobte. Vermutlich beteiligt sich Ernst Büchner weniger an diesen Gesprächen, denn er ist über Georg »etwas ungehalten«, und zwar »mit Recht«, wie der Freund meint. Im übrigen planen die Mutter und die ältere Schwester für Ostern eine Straßburgreise. Sie fand dann tatsächlich im Sommer statt.
Dass es zuvor nicht immer so entspannt zuging, sei nicht verschwiegen. Ludwig Büchner erinnerte sich später an die Zeit, »als die Theilnahme an den politischen Umtrieben jener Zeit Kummer und Sorgen in die Familie brachte. Wie oft saß da der Vater zürnend und scheltend am Tische, während die Mutter weinend neben ihm stand oder saß, und wir Kinder, die wir von Allem nichts verstanden, stumm um die Eltern herum standen.« (Carl Ludwig [d. i. Ludwig Büchner]: Der neue Hamlet. Poesie und Prosa eines verstorbenen Pessimisten, Zürich 1885, S. 190) So wird es nach Georgs Flucht im Hause Büchner sicher zugegangen sein, und Anlass zu Zorn und Sorge war genügend vorhanden. Aus guten Gründen - zum Beispiel um sie vor polizeilicher Verfolgung zu schützen - musste Büchner den Eltern gegenüber jede Verwicklung in gesetzwidrige politische Handlungen strikt leugnen. Das heißt: Er musste sie kontinuierlich belügen. Als die Wahrheit ans Licht kam, stand nichts weniger auf der Kippe als das ökonomische Überleben der Familie. Der Vater von Karl Minnigerode, Präsident des Hofgerichts in Darmstadt, war nach der Verhaftung seines Sohnes am 1. August 1834 sofort entlassen worden. Dass man den Medizinalrat Ernst Büchner glimpflicher behandeln würde, war zunächst nicht zu erwarten. Auch ist sehr wahrscheinlich, dass der ausdrücklich gegen Darmstadt und Darmstädter Beamte gerichtete Text des Hessischen Landboten in allen gehobenen Kreisen der Residenzstadt höchste Empörung erregte. Das aber heißt: der Verfasser der Flugschrift gefährdete nicht nur die Position des Medizinalrats, sondern auch die des praktizierenden Arztes Ernst Büchner, der immerhin eine Frau und sechs Kinder zu versorgen hatte. So zeigt Eugen Boeckels Bericht vom Januar 1836, dass die Familie inzwischen das Schlimmste überstanden hatte und schon wieder in der Lage war, mit einem Besuch aus Straßburg entspannt umzugehen.
Die nächste Momentaufnahme – jetzt vom Oktober 1836 – sieht so aus:
Vater war im Theather, ich kann Dir gar nicht sagen wie sehr er sich freute als er nach Hauße kam,
Zeitleiste etwa 26. Oktober 1836schrieb Caroline Büchner am 30. Oktober 1836 an Georg.30. Oktober 1836. Von Caroline Büchner nach Zürich Ernst Büchner freut sich so sehr, weil Georg gerade in einem Brief mitgeteilt hat, er sei unbehelligt ins sichere Zürich gelangt.26. oder 25. Oktober 1836. An die Eltern in Darmstadt Caroline Büchner schreibt weiter:
Er […] ermahnt Dich dringend ja über vergleichende Anatomie Vorlesungen zu halten, er glaubt sicher, daß Du darin am ersten einen festen Fuß fassen und Dich am ehrenvollsten emphor helfen könntest. […] Vater schickt Dir hier ein Recept für Deine Nase, er bittet Dich sehr es einmal recht ernstlich und anhaltend zu gebrauchen, und ihm über den Erfolg zu berichten.
Gewiss; Ernst Büchner ist gleich mit Ermahnungen zur Hand. Für Georgs Wunsch, Vorlesungen über Philosophie zu halten, hat er kein Verständnis. Auch verschreibt er nicht nur einfach ein Rezept gegen die Nasenbeschwerden des Sohnes, sondern erwartet gleich einen Bericht über die Wirkung des Heilmittels. Das sind Schroffheiten, die wir wohl ertragen müssen. Einer besonderen Rechtfertigung bedürfen sie nicht.
Erklärungsbedürftig ist jedoch das Verhalten der Mitglieder der Familie. Franzos‘ Erzählung, Ernst Büchner habe Ende März Geld »schweigend« der Mutter übergeben, traf nicht zu. LZ 3528 Remigius Sauerländer: Notiz zur Honorarsendung am 7. März 1835Das war zum Beispiel bereits dem Sohn des damaligen Verlegers, Heinrich Remigius Sauerländer , aufgefallen. Er informierte Ludwig Büchner über diese Fehlinformation.[3] Der aber sah anscheinend keinen Grund, diese romanhafte Erzählung zu korrigieren, wie er übrigens auch das falsch angegebene Sterbedatum des Vaters an anderer Stelle nicht korrigierte.
Noch merkwürdiger ist Edouard Reuss‘ Erzählung, dass Caroline Büchner »nur mit stillem Seufzer an ihn [Georg] zurückdenken« durfte. LZ 1590 Reuss, Erinnerungen, 1853 Wenige Sätze zuvor hatte nämlich Reuss berichtet, dass Georgs Mutter den Sohn im Sommer 1836 »kurz vor dem Abschiede noch einmal in Straßburg besucht« habe. Wie passt der »stille Seufzer« zum Besuch? Offenbar war die Legende stärker als die ihr widersprechenden Fakten.
3. »jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt« (Faktencheck 2)
Von dem Familienbesuch in Straßburg hatte bereits Ludwig Büchner 1850 in seiner biographischen Skizze geschrieben. Diese Episode, die die Verstoßungslegende an sich schon widerlegt, war also allgemein bekannt. Anders steht es mit der von Gutzkow und Wilhelm Büchner erzählten Enterbungslegende, derzufolge Ernst Büchner »jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt« bzw. Georg »keine Unterstützung« gewährt habe. Das diese Erzählung widerlegende Dokument wurde erst 1922 veröffentlicht.
Am 18. Dezember 1836 schrieb Ernst Büchner einen Versöhnungsbrief an Georg. Darin heißt es:
Ernst an Georg Büchner, 20. Dezember 1836 (Ausschnitt;
Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar)
Meine / Besorgniß um dein künftiges Wohl war bis-/her noch zu groß und mein Gemüth war noch / zu tief erschüttert, durch die Unannehmlichkeiten / alle, welche du uns durch dein unvorsichtiges / Verhalten bereitet und gar viele trübe Stunden / verursacht hast, als daß ich mich hätte ent-/schließen können, in herzliche Relation mit / dir zu treten; wobei ich jedoch nicht erman-/gelt habe, dir pünctlich die nöthigen Geld-/mitteln, bis zu der dir bekannten Summe, / welche ich zu deiner Ausbildung nöthig für hinrei-/chend erachtete, zufließen zu laßen. –18. Dezember 1836. Von ErnstBüchner nach Zürich
Diese Briefstelle lässt meines Erachtens nur eine Deutung zu: Zwar war Ernst Büchners »Gemüth« bis zum Herbst 1836 »noch zu tief erschüttert«, als dass er mit Georg hätte korrespondieren wollen, dennoch ließ er ihm »pünctlich« »Geldmittel […] zufließen«. Die Gesamtsumme dieser Geldmittel war begrenzt, und die Höchstgrenze war dem Sohn »bekannt«. Ernst Büchner hatte sie ihm offenbar bereits vor dem Zerwürfnis mitgeteilt. Wie hoch die Summe berechnet war, wissen wir nicht. Nach Ansicht des Vaters war sie »hinreichend« für Georgs »Ausbildung«. 7.3. Burghard Dedner: Wie finanzierte Büchner sein Leben im Exil?An anderer Stelle werde ich versuchen zu zeigen, dass
a) wir uns Georg Büchners Leben in Straßburg und Zürich ohne diese finanzielle Unterstützung des Vaters kaum vorstellen können, und dass 7.5. Burghard Dedner: Vater-Sohn-Konflikte IIb) Ernst Büchner wahrscheinlich bereits im Winter 1834 seine Zusage gegeben hatte und dass der Zeitraum der »Ausbildung« bis zum Frühjahr oder Herbst 1836 berechnet war.
Ernst Büchner verhielt sich in dieser Angelegenheit korrekt wie ein guter Beamter. Er hatte Geld für die Ausbildung zugesagt und ohne Rücksicht auf seine persönlichen Gefühle hielt er die Zusage ein. Allerdings erwartete er wohl, dass der Empfänger über den Fortschritt seiner Ausbildung berichtete. Eben dies tat Büchner in einer Vielzahl seiner Straßburger Briefe:
Ich werde das Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben, und auf dem Felde ist noch Raum genug, um etwas Tüchtiges zu leisten und unsere Zeit ist grade dazu gemacht, dergleichen anzuerkennen. 9. März 1835. An die Eltern in Darmstadt
Man hat mich auch aufgefordert, Kritiken über die neu erscheinenden französischen Werke in das Literaturblatt zu schicken, sie werden gut bezahlt. Ich würde mir noch weit mehr verdienen können, wenn ich mehr Zeit darauf verwenden wollte, aber ich bin entschlossen, meinen Studienplan nicht aufzugeben. 20. April 1835. An die Eltern in Darmstadt
Auch sehe ich mich eben nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um. Jetzt noch eine Zeit lang anhaltendes Studium, und der Weg ist gebrochen. Oktober 1835. An die Eltern in Darmstadt
Aus der Schweiz habe ich die besten Nachrichten. Es wäre möglich, daß ich noch vor Neujahr von der Züricher Facultät den Doctorhut erhielte, in welchem Fall ich alsdann nächste Ostern anfangen würde, dort zu dociren. In einem Alter von zwei und zwanzig Jahren wäre das Alles, was man fordern kann. 2. November 1835. An die Eltern in Darmstadt
Dass Ernst Büchner »jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt« habe, scheint mir durch den Brief widerlegt. Richtig daran war allenfalls, dass der Vater nicht bereit war, den Sohn über die vereinbarte Summe hinaus zu unterstützen. Zeitleiste 24. März 1834Das war zuvor anders und wir haben im März 1834 ein Beispiel einer solchen außerordentlichen Zuwendung.
Mit dem Versöhnungsbrief stellte der Vater die alte Lage wieder her. Er schrieb weiter:
Nach dem du nun aber mir den Beweis geliefert, daß du diese Mittel nicht muthwillig oder leichtsinnig vergeudet, sondern wirklich zu deinem wahren Besten angewendet und ein gewisses Ziel erreicht hast, von welchem Standpuncte aus du weiter vorwärts schreiten wirst, und ich mit dir über dein ferneres Gedeihen der Zukunft beruhigt entgegen sehen darf, sollst du auch so gleich wieder den gütigen und besorgten Vater um das Glück seiner Kinder in mir erkennen. 18. Dezember 1836. Von ErnstBüchner nach Zürich
Als »gütiger und besorgter Vater« zeigte sich Ernst Büchner offenbar dadurch, dass er seinen Kindern auch mit weiteren Zuwendungen aushalf. Über diese Sonderausgaben führte er Buch, damit er sie später vom Erbe abziehen konnte. Man kann dieses Buchhaltungssystem unsympathisch finden. Ungerecht war es nicht, und dem Einzelnen, also etwa Georg Büchner, gab es eine gewisse Sicherheit. Tatsächlich mietete Büchner wenige Wochen nach Erhalt des Briefes ein ansprechendes Zimmer am Rande von Zürich, das er sich ohne den »gütigen und besorgten Vater« vermutlich nicht hätte leisten können.
4. Ein möglicher Grund für die Legenden
Erklärungsbedürftig an der Enterbungslegende ist demnach wiederum, warum sie überhaupt entstand und warum sie auch ein Familienmitglied wie Wilhelm Büchner verbreitete. Die Briefe des Vaters vom 18. Dezember und der Mutter vom 30. Oktober 1836 wurden vermutlich nach Büchners Tod unter den Papieren der Eltern abgelegt, wo sie dann mindestens bis zum Tod des Vaters im Jahre 1861 verblieben. Sie wurden erst 1922 veröffentlicht. Es ist demnach möglich, dass Wilhelm Büchner den Versöhnungsbrief nie zu Gesicht bekam.
Die entfernteren Zeugen, Edouard Reuss und Gutzkow, erhielten ihre Informationen vermutlich nicht von den Büchners, sondern aus anderen Quellen. Reuss stand mit dem regierungstreuen Darmstädter Familienzweig der von Bechtolds in Kontakt, und diese Vettern mögen ihm erzählt haben, was sie über das Vater-Sohn-Verhältnis der Büchners gehört hatten.
Karl Gutzkow wiederum erhielt Informationen – wie er selbst am 6. Februar 1836 schrieb 6. Februar 1836 von Karl Gutzkow nach Strassburg – aus Frankfurt-Rödelheim, und zwar vermutlich aus dem Kreis des Verlegers Johann Valentin Meidinger.
Daraus aber lässt sich schließen, dass im Rhein-Main-Gebiet das Verhältnis des Medizinalrats Ernst Büchner zu seinem steckbrieflich gesuchten Sohn Gegenstand allgemeiner Gespräche und Gegenstand allgemeiner Legendenbildung war.
Warum aber trug auch Wilhelm Büchner zur Verbreitung der Enterbungslegende bei? Ich vermute, dass Ernst Büchner über sein Verhältnis zu Georg nicht zu andern sprach, sicher nicht zu Fremden und vielleicht nicht einmal zu den eigenen Kindern. Für ihn war wahrscheinlich ohnehin schon unzweifelhaft, dass ein Vater verpflichtet war, seinen Sohn zu unterstützen. Auch freute er sich ganz offensichtlich über die jetzt vielversprechende akademische Karriere seines hochbegabten Sohnes. Andererseits half er, der hohe Staatsbeamte, mit seiner Unterstützung einem Hochverräter. Und dass gerade in der Residenzstadt Darmstadt die Empörung über den Hessischen Landboten und seinen Verfasser sehr groß gewesen sein muss, versteht jeder, der die Flugschrift liest. Also waren ein Versöhnungsbrief ohne Publizität und Unterstützung ohne viel Worte die beste Lösung. Wenn man so will, war Ernst Büchner selbst der Urheber der Legende.
Anmerkungen
- [1] Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben, Berlin: Hofmann 1875, S. 143.
- [2] Karl Emil Franzos (Hrsg.): Georg Büchner’s Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1879, S. CLXIII.
- [3] Aus der im Goethe und Schiller-Archiv aufbewahrten Korrespondenz zwischen Remy Sauerländer und Ludwig Büchner (Briefe vom 31.3.1879 und 11.4.1879) ergibt sich, daß der Verleger diesen Irrtum aufgrund der Verlagsdokumente bereits bemerkt hatte und Ludwig Büchner darauf hinwies.
Text: Burghard Dedner November 2016, zuletzt bearbeitet Juni 2017