2.4. Die „Gesellschaft der Menschenrechte“ in Gießen

Sozialrevolutionäre Gesellschaften in Frankreich Die von Büchner in Gießen und Darmstadt in zwei Sektionen ins Leben gerufene „Gesellschaft der Menschenrechte“ entspricht einem Typ politischer Clubs, der seine erste Blütezeit auf dem europäischen Kontinent im Frankreich der frühen 1790er Jahre und eine zweite unmittelbar nach der Julirevolution von 1830 erlebte. Büchner kam während seines Studiums in Straßburg mit einem dieser Clubs, der „Société des droits de l’homme“, in Berührung und wurde möglicherweise ihr Mitglied. Sowohl hinsichtlich der Organisationsform als auch im politischen Programm ist seine politische Tätigkeit nach der Rückkehr nach Deutschland an dem französischen Vorbild orientiert.

Die Frankfurter „Union“ Die „Gesellschaft der Menschenrechte“ stand in Deutschland zugleich in Kontakt zu anderen politischen Vereinen, die früher oder gleichzeitig mit ihr entstanden. Das war zum einen im Rhein-Main-Gebiet die Frankfurter „Union“ (auch „Männerbund“ genannt), die aus dem in der Rheinpfalz gegründeten „Vaterlandsverein“ hervorgegangen war, zum anderen eine lose, aber sehr aktive Vereinigung um den Butzbacher Schulrektor und späteren Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig im oberhessischen Butzbach.

Der „Oberhessische Preßverein“ Am 3. Juni 1834 trafen sich auf der Badenburg bei Gießen Oppositionelle aus Butzbach, Gießen und Marburg, darunter auch Angehörige der Gießener Sektion der „Gesellschaft der Menschenrechte“, und verabredeten die Zusammenarbeit in einer weiteren Organisation, dem „Oberhessischen Preßverein“. Angehörige dieses „Preßvereins“ brachten beide Auflagen des Hessischen Landboten zum Druck und organisierten ihre Verbreitung.

Zielsetzung und Programm der Gießener Sektion

Aus dem Scheitern des Pariser Aufstandes vom Juni 1832 hatte die französische „Société des droits de l’homme“ die Lehre gezogen, dass nur ein Massenaufstand die militärische Macht der Monarchie brechen könne. Angesagt schien deshalb zunächst eine Übergangsperiode, in der die Vereinigungen auf legalem Wege durch „association et propagande“, also durch Vereinsbildungen und Flugschriftenpropaganda, hierfür die Grundlage schaffen sollten. Diese Programmatik machte sich Büchner nach dem Scheitern des Frankfurter Waffensturms am 3. April 1833 zu eigen. In einem Brief vom Juni 1833 erklärte er den Eltern, er habe „in neuerer Zeit gelernt, daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann“. Juni 1833. An die Eltern in Darmstadt Mit der Gründung seiner „Gesellschaft der Menschenrechte“ und der Abfassung des Hessischen Landboten zog er aus dieser Lehre die praktischen Konsequenzen.

HL Dok 6.1.1. Bundeszentralbehörde, Bericht Erklärtes Ziel von Büchners „Menschenrechts“-Sektionen war „die Republikanisirung Deutschlands […], welche durch einen Massenaufstand herbeigeführt werden sollte“.

HL Dok 1.4.1. Verhörprotokolle August Becker Man müsse – so Büchner in der Wiedergabe durch den Freund August Becker – „die große Masse des Volkes“ gewinnen, „durch deren Ueberzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen.“ Diese Massenbasis könne man „vor der Hand nur durch Flugschriften“ schaffen. Allerdings sei es aussichtslos, die „mit ihrer materiellen Noth beschäftigt[en]“ Leser der Flugschriften, also etwa die hessischen Bauern, für Werte wie „Preßfreiheit“ oder „die Ehre und Freiheit ihrer Nation“ zu begeistern. Vielmehr müsse man „ihnen zeigen und vorrechnen, daß sie einem Staate angehören, dessen Lasten sie größtentheils tragen müssen, während andere den Vortheil davon beziehen; – daß man von ihrem Grundeigenthum, das ihnen ohnedem so sauer wird, noch den größten Theil der Steuern erhebt, – während die Capitalisten leer ausgehen; daß die Gesetze, welche über ihr Leben und Eigenthum verfügen, in den Händen des Adels, der Reichen und der Staatsdiener sich befinden“.

Ebenso wie die „Société des droits de l’homme“ erstrebte auch Büchners „Gesellschaft der Menschenrechte“ eine Republik mit gleichem Wahlrecht für alle. Auf diesem Wege sollte die Bevölkerungsmehrheit Eigentümer des Staates werden. Außer für die Gleichheit der politischen Rechte kämpften die französischen „droits de l’homme“ auch für ökonomische Gleichheit, welche durch eine radikale Veränderung des Steuersystems herbeigeführt werden sollte. Die bisher die Armen überproportional belastenden Steuern sollten abgeschafft und alle staatlichen Aufgaben durch eine progressiv ansteigende Steuer finanziert werden, die man auf dem „überflüssigen“ Vermögen der Reichen erheben solle. Die „droits de l’homme“ nahmen an, dieses Steuersystem werde eine Einebnung der Vermögensunterschiede herbeiführen und zugleich den Staat aus der Abhängigkeit der Banken, also der privaten Kreditgeber, befreien. Im Schweizerischen Kanton Zürich sah Büchner dieses System bereits zum Teil verwirklicht. Dort, so Büchner in einem Brief an die Eltern vom 20. November 1836, habe „ein gesundes, kräftiges Volk […] um wenig Geld eine einfache, gute, rein republikanische Regierung, die sich durch eine Vermögenssteuer erhält.“ 20. November 1836. An die Eltern in Darmstadt

HL Dok 7.2. Schäffer, Vortrag in Untersuchungs-Sachen Entsprechend der französischen „Société des droits de l’homme“ und deren Zielsetzung der „association et propagande“ war es auch das Ziel der Gießener Sektion der „Gesellschaft der Menschenrechte“, „Flugschriften [...] zu verbreiten und Gleichgesinnte an anderen Orten zu ähnlichen […] Vereinen zu bestimmen.“

HL Dok 1.7.2. Clemm, Vorstellung an den Großherzog Über die in der „Gesellschaft der Menschenrechte“ geführten politischen Diskussionen berichtete Gustav Clemm, man habe dort „über den politischen Zustand Deutschland’s, über die Mittel zu deßen Veränderung, über den nächsten Zweck einer Revolution, sodann im Speciellen über die eigne Thätigkeit und über die Ausdehnung der Gesellschaft“ gesprochen.

Außerdem habe man eine „wahrhaft ruchlose Theorie einer öffentlichen Moral und Staatseinrichtung überhaupt“ vertreten. „Die Revolution sollte darnach eröffnet werden mit einem Kriege gegen die Reichen. ‚Alles Vermögen ist Gemeingut,‘ wurde docirt etc. Ein falscher Eid wurde in vorkommenden Fällen für eine der heiligsten Pflichten erklärt etc.“

HL Dok 1.7.4. August Becker, Anmerkung Dass kommunistische Theorien zum Privateigentum diskutiert oder vertreten wurden, wurde 1845 im Rückblick durch August Becker bestätigt: „Aber eine (deutsche) Gesellschaft der Menschenrechte bekannte sich schon vor 11 Jahren zum Princip der Gütergemeinschaft.“

HL Dok 1.7.3.Verhörprotokoll Eichelberg Andererseits hat Leopold Eichelberg überliefert, dass Gustav Clemm und andere Studenten einen Handwerker „mit dem agrarischen Gesetz bekannt machten, das sie dereinst zusammen in Anwendung bringen wollten“.

Das „agrarische Gesetz“, das von der „Société des droits de l’homme“ offiziell ausdrücklich abgelehnt wurde, hätte eine Parzellierung des Großgrundbesitzes zur Folge gehabt. Die ärmeren Bauern sollten diese Parzellen erhalten und damit zu Eigentümern werden. Auch im Hessischen Landboten ist keine prinzipiell eigentumsfeindliche Position nachweisbar.

Geschichte der Gießener Sektion

HL Dok 7.2. Schäffer, Vortrag in Untersuchungs-Sachen In Gießen existierten im Sommer 1834 drei oppositionelle Organisationen, die teils im Kooperations-, teils im Konkurrenzverhältnis zueinander standen. Mehrfachmitgliedschaften waren möglich, so dass nicht immer zu unterscheiden ist, für welche der Organisationen ein Beteiligter jeweils gerade tätig war. Bei den Gruppierungen handelt es sich um a) die von Büchner initiierte Gießener Sektion der „Gesellschaft der Menschenrechte“, b) eine von Jacob Friedrich Schütz geplante „burschenschaftliche StudentenVerbindung“ und c) einen „Bürgerverein“ unter Leitung des 1835 gestorbenen Studenten Wilhelm Weyprecht.

Schütz‘ „StudentenVerbindung“ war die Organisation mit der kürzesten Lebensdauer, da sie sich, als Schütz im August 1835 fliehen musste, noch im Planungsstadium befand. Potentielle Mitglieder waren unter anderem Karl MinnigerodeLudwig Nievergelder und Ludwig Becker, die alle auch der „Gesellschaft der Menschenrechte“ angehörten.

HL Dok 7.2. Schäffer, Vortrag in Untersuchungs-Sachen Die Gießener Sektion der „Gesellschaft der Menschenrechte“ hat ihren Ursprung in einer losen Gruppierung, die Büchner Mitte März 1834 mit seinen Freunden Hermann Trapp und August Becker sowie einigen der wegen Mitwisserschaft am Wachensturm Verhafteten, nämlich den Studenten Ludwig Becker und Hermann Wiener sowie dem Küfermeister David Schneider, gebildet hatte, die Anfang März 1834 freigelassen worden waren. Später kamen hinzu die ebenfalls in Friedberg inhaftierten Studenten Gustav Clemm (freigelassen am 20. März) und Jacob Friedrich Schütz (freigelassen am 11. April), später noch der ebenfalls wegen Teilnahme am Wachensturm inhaftierte Küfermeister  Georg Melchior Faber und Büchners Schulfreund Karl Minnigerode. Programmatische Grundlage für den Zusammenschluss waren die „Ansichten und Grundsätze, welche Büchner während eines zweijährigen Aufenthaltes zu Straßburg angenommen zu haben scheint“. Sie „erfreuten sich des Beifalls der Anderen“.

HL Dok 1.4.3. Verhörprotokolle August Becker Bereits im März 1834 weihte Büchner die Beteiligten in das Flugschriften-Projekt ein. „Als die Gefangenen in Friedberg frei wurden, vertheidigte Büchner seine politischen Ansichten, die er in der Flugschrift ausgesprochen hat und sagte, daß auch wir uns einmal in ähnlichen Flugschriften versuchen sollten“, berichtet August Becker.

Der einzige realisierte Versuch dieser Art, ein Flugschriftenentwurf von Hermann Trapp, wurde allerdings von den Sektionsmitgliedern verworfen.

HL Dok 1.8.1. Verhörprotokoll August Becker Durch Aussagen ermittelte Aktivitäten der „Gesellschaft der Menschenrechte“ waren konspirative Reisen im Juni 1834, vermutlich mit dem Ziel, Druck und Verbreitung des Hessischen Landboten organisatorisch vorzubereiten. Beteiligt an diesen für den 1. Juni, den 12. Juni und den 19. bis 25. Juni 1834 nachgewiesenen Reisen waren neben dem Butzbacher Carl Flach die Gießener Studenten August Becker, Karl Minnigerode, Jacob Friedrich Schütz, Ludwig Nievergelder Ludwig Becker und der den Menschenrechtlern nahestehende Peter Schlemmer aus Mainz. Reiseziel war mehrfach Hanau – der Wohnort des wegen Mitwisserschaft am Wachensturm zeitweise inhaftierten Wilhelm Braubach, Büchners späteren Freundes in Zürich –, außerdem Frankfurt und Mainz sowie Friedberg und Steinheim – dies letztere der Wohnort des am 31. Oktober zeitweilig inhaftierten August Gros.

Auch die Transporte von und nach Offenbach lag in den Händen von Sektionsmitgliedern. Büchner und Schütz übernahmen am 5. Juli die Überbringung des Manuskripts, Schütz und Minnigerode am 1. August den Rücktransport der Druckexemplare. HL Dok 3.2.10. Verhörprotokoll Ernst Frölich Ebenso übernahmen Amand Appiano, ein prospektives Mitglied von Schütz‘ „StudentenVerbindung“, und Gustav Clemm (vermutlich am 10. August 1834) den Transport von Druckexemplaren von Friedberg nach Gießen.

HL Dok 4.1.4.Verhörprotokoll Karl Braubach Äußerst unwillig äußerten sich die Sektionsmitglieder (vermutlich am 17. August) gegenüber Carl Braubach aus Butzbach, der ihnen erzählte, dass er Exemplare des Landboten aus Vorsicht verbrannt habe.

Die Zusammenkünfte, die in den Zimmern der einzelnen Mitglieder abgehalten wurden, fanden ab Mai 1834 statt.

HL Dok. 7.5. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung 1839 „Die Theilnehmer [...] kamen auf specielle Bestellung zusammen. Die Errichtung einer gemeinschaftlichen Casse soll zwar beabsichtigt, aber nicht ausgeführt worden sein."

Vermutlich kamen die Treffen bereits im August mit der Verhaftung Minnigerodes, der Flucht des steckbrieflich gesuchten Schütz und dem deutlich werdenden polizeilichen Verdacht gegen Büchner ins Stocken. Spätestens mit Büchners Weggang aus Gießen Mitte September scheinen die Treffen aufgehört zu haben.

Nach Büchners Abreise aus Gießen übernahm Wilhelm  Weyprechts „Bürgerverein“ weitgehend die Aufgaben, die früher Büchners Sektion wahrgenommen hatte.

HL Dok 6.2.10. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung 1839 Weyprecht war sowohl von Schütz als auch von Büchner zum Beitritt zu ihren Vereinigungen eingeladen worden, hatte aber abgelehnt. Er versammelte um sich vor allem Handwerker, so auch die früheren Mitglieder der „Gesellschaft der Menschenrechte“, die Küfermeister Faber und Schneider. Er war später führend beteiligt an den Versuchen, die Gefangenen in Friedberg zu befreien.

HL Dok 5.4.12.Verhörprotokolle Valentin Kalbfleisch Neben Gustav Clemm organisierte Weyprecht auch die Verbreitung der November-Auflage des Hessischen Landboten.

Ebenso verwahrte er die für die verschiedenen Aktivitäten benötigten Gelder.

Text: Burghard Dedner (Juni 2014); zuletzt überarbeitet: Juli 2017