7.2. Burghard Dedner:

Der »Fatalismusbrief« vom Januar 1834

Der »Fatalismusbrief« in »gutefrage.net«: Unter dem Titel »Fatalismusbrief?« schickt »schokoprincess« am 09.03.2011 folgenden Stoßseufzer ins worldwideweb: »ich komme bei dem Brief einfach nicht weiter. kann mir jemand vielleicht einen Anhaltspunkt geben, damit ich den Brief verstehe bzw. analysieren kann??« Und am 01.04.2013 fragt »annemarie123321«: »Was ist ›Fatalismus der Geschichte‹? Woyzeck – Bitte schickt mir keinen Link mit dem Text dazu, ich kenne diesen, verstehe den aber nicht.«

Wer in der Plattform http://www.gutefrage.net stöbert, kann den Eindruck erhalten, Büchner sei Deutschlands berühmtester »Fatalist«. Da gibt es den »Fatalismusratgeber Tipps und Fragen«, die Fragen »Inwiefern fand Georg Büchner Geschichte sinnlos? « (23.11.2015), »was-bedeutet-fatalismus-der-geschichte« (14.04.2010), »Was ist der Unterschied zwischen Fatalismus und Determinismus«, »was bedeutet ›fatalistisch‹?« Und »fairytaleee« fragt am 19.12.2009: »Kann mir jemand das Wort Fatalismus nochmal auf ›doof‹ erklären? Hab natürlich schon gegoogelt aber ich möchte es nochmal ›mit eigenen Worten‹ hören/lesen«.

Mir scheint dieser Ausdruck von Ratlosigkeit durch (vermutlich) OberstufenschülerInnen besser begründet als das Vorgehen der (vermutlich) OberstufenlehrerInnen, die ihren Schülern anscheinend die Aufgabe stellen, anhand von Büchners wunderschönem Liebesbrief vom Januar 1834 einen angeblichen Fatalismus Büchners zu erklären.

Hier ist ein Vorschlag, was man zu dem Fragenkomplex sagen könnte.

Inhalt

1. Der sogenannte Fatalismusbrief ist ein Liebesbrief.
2. Büchner las vermutlich Abschnitte über Gewalthandlungen in der Französischen Revolution.
3. Büchner beschäftigte das Dilemma des Revolutionärs in einer Gewaltsituation.
4. Büchner war kein Fatalist.
5. Büchner schrieb den »Fatalismusbrief« zwei Monate vor dem Hessischen Landboten.
6. Fehldeutungen des »Fatalismusbriefes« beeinflussen das Bild Büchners seit 1850.
7. Fazit

1. Der sogenannte Fatalismusbrief ist ein Liebesbrief.

Zur Situation des Schreibenden: Im März 1833 hatte sich Büchner insgeheim mit der jungen Straßburgerin Wilhelmine Jaeglé verlobt. Bei seiner Abreise aus Straßburg im Sommer 1833 vereinbarten die beiden anscheinend, Zeitleiste Ende Nov. 33sich mindestens einmal pro Woche zu schreiben. Ende November 1833 erkrankte Büchner in der Universitätsstadt Gießen an »Gehirnhautentzündung«, kehrte ins Elternhaus nach Darmstadt zurück und blieb dort auch während der Weihnachtsferien. Anfang Januar 1834 ging er wieder nach Gießen zurück, wo er sich allerdings todunglücklich fühlte. Straßburg, die Stadt der Geliebten, betrachtete er als seine Heimat; Darmstadt, die Stadt seiner Herkunft, LZ 1720 Küntzel an Stöber nannte er eine »Wüste Sahara« 31. August 1833 an Edouard Reuss, und Gießen galt den Darmstädtern ohnehin als »Verbannungsort«. Aus diesem Verbannungsort schrieb er jetztNach Mitte Januar1834 an Wilhelmine Jaeglé :

Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist abscheulich. Bei uns ist Frühling, ich kann deinen Veilchenstrauß immer ersetzen, er ist unsterblich wie der Lama. Lieb Kind, was macht denn die gute Stadt Straßburg, es geht dort allerlei vor, und du sagst kein Wort davon. Je baise les petites mains, en goûtant les souvenirs doux de Strasbourg. –

Mittelhessische Landschaft: von »hohler Mittelmäßigkeit«; Stadt Gießen: »abscheulich«. Winter: ungewöhnlich mild. Minna hatte ihm irgendwie aus Straßburg einen »Veilchenstrauß« zukommen lassen; den konnte er »immer ersetzen«. Der Strauß glich damit dem tibetanischen Lama, von dem es hieß, er sterbe nie, sondern lebe immer in seinem Nachfolger weiter. Dann kommt eine leichte Ermahnung: In Straßburg geht etwas Interessantes vor; aber Du, Minna, schreibst davon gar nichts. Und schließlich auf Französisch, der Sprache der Liebe, eine Zärtlichkeit: »Indem ich die süßen Erinnerungen an Straßburg genieße, küsse ich die kleinen Hände.«

Ein Experte für Liebesbriefe würde vielleicht den witzigen Vergleich der Veilchen mit dem Lama gut finden, sonst aber die Stirn runzeln. Vier Sätze und darin vier nicht zusammenhängende Gedanken! Büchner war wohl nicht in der richtigen Stimmung.

Ein zweiter Schreibversuch: Im Brief kommt jetzt ein weiterer französischer Satz: »Prouve-moi que tu m’aimes encore beaucoup en me donnant bientôt des nouvelles«, auf Deutsch also: »Beweise mir, dass Du mich noch sehr lieb hast. Lass mir baldigst eine Nachricht zukommen.«

Anscheinend hatte Büchner den angefangenen Brief nicht fertig geschrieben, sondern liegen lassen, und Minna schickte in ihrer Unruhe einen Brandbrief, aus dem Georg zitiert. Er musste nun sein allzu langes Schweigen erklären.

Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studirte die Geschichte der Revolution. […] B. wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich schrieb ihm.

Den so sehr diskutierten Absatz mit dem »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« habe ich gerade ausgelassen. Ich komme dazu später und bleibe zunächst beim Liebesbrief.

Rückblick auf Fieberträume: Es war die Lektüre eines Buches, die Büchner so tief erschüttert hatte, dass alle Schreibversuche vergebens waren. Immerhin hat er einen Brief an den Straßburger Freund Eugen Boeckel geschickt, und er nimmt an, dass der Freund Minna aufgesucht und beruhigt hat. Warum kann er an Boeckel schreiben und nicht an Minna? Einen sachlichen Brief an einen Freund zu schreiben, ist leicht. Für einen Liebesbrief muss man in der Stimmung sein, und in letzter Zeit war er teils allzu erschüttert, teils apathisch.

Ich verwünsche meine Gesundheit. Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang mich wie der Arm der Geliebten. Die Finsterniß wogte über mir, mein Herz schwoll in unendlicher Sehnsucht, es drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten sich nieder. Und jetzt? Und sonst? Ich habe nicht einmal die Wollust des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen. Ostern ist noch mein einziger Trost; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und die Erlaubniß, sie zu besuchen. Ich habe die Reise schon tausendmal gemacht und werde nicht müde. – Du frägst mich: sehnst du dich nach mir? Nennst du’s Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben kann und wenn man davon gerissen ist, und dann nur noch das Gefühl seines Elendes hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen so kalt?

Georg erinnert sich an seine Fieberträume vom Dezember 1833. In »unenendlicher Sehnsucht« lag er da, und es geschah etwas sehr Schönes: »Hände und Lippen bückten sich nieder.« Wie öde ist dagegen die »Gesundheit«. Seit er Straßburg verlassen hat, fühlt er sich so gefühl- und seelenlos wie »ein Automat«. Sein »einziger Trost« sind die Osterferien. Von den Eltern hat er die Erlaubnis, über Ostern Verwandte im linksrheinischen Landau zu besuchen. Er wird das nutzen, um nach Straßburg zu fahren, und in Gedanken hat er die Reise »schon tausendmal gemacht«.

Minna hatte in ihrem Brief auch gefragt: »sehnst du dich nach mir?« Als Antwort beschreibt Georg das »Elend« der Trennung und bittet dann die Geliebte um eine glühende Antwort, damit er nicht denken müsse, seine Lippen seien »so kalt«. Er schreibt dann noch weiteres, was uns nicht überliefert ist. Er endet mit der Bemerkung, sein Brief erscheine ihm beim Durchlesen wie eine »Katzenmusik«.

– Dieser Brief ist ein Charivari: ich tröste dich mit einem andern.

2. Büchner las vermutlich Abschnitte über Gewalthandlungen in der Französischen Revolution.

Zeitleiste Juli - August 1825Darstellungen der zeitgenössischen Geschichte, darunter auch der Französischen Revolution, kannte schon der Schüler Büchner durch Leseabende in der Familie. In einem Schulaufsatz nannte er die Französische Revolution einen »blutigen aber gerechten Vertilgungs-Kampf«, der »die Greuel rächte, die Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der leidenden Menschheit verübten«.Schülerschriften Georg Büchner ein Vergötterer der Revolution Und der italienische Freund Alexis Muston, der ihn im Herbst 1833 in Darmstadt besucht hatte, erinnerte sich später, Büchner sei ein „Vergötterer der Revolution“, ein »idolâtre de la révolution«, gewesen. Warum also ist er jetzt bei einer Lektüre zur Französischen Revolution so erschüttert?

Ich studirte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Aergerniß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen!

Einleitung zu Danton’s Tod Büchner las im Januar 1834 wahrscheinlich die damalige Standarddarstellung zur Französischen Revolution, verfasst von dem französischen Historiker Louis Adolphe Thiers.[1] Sie ist ein Jahr später eine der Hauptquellen für das Drama Danton’s Tod

Septembermorde: Bei der Lektüre blieb er wohl an den Ereignissen vom September 1792 hängen. Deutsche und österreichische Truppen marschierten in dieser Zeit von Verdun in Richtung Paris. Ihr Oberbefehlshaber hatte verkünden lassen, man werde »eine beispiellose und für alle Zeiten denkwürdige Rache nehmen und die Stadt Paris einer militärischen Exekution und einem gänzlichen Ruine preisgeben«. In der Stadt kursierte derweil das Gerücht, die in den Gefängnissen inhaftierten Revolutionsgegner hätten vor, sich zu befreien und sich mit dem auswärtigen Feind zu verbinden. Es herrschte Panikstimmung; bewaffnete Bürger stürmten die Gefängnisse und ermordeten etwa 1.200 dort inhaftierte Gefangene. Georges Danton, der zu dieser Zeit Justizminister war, wollte oder konnte die Morde nicht verhindern.

Vermutlich bezog sich Büchners Satz vom »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« auf diese oder eine ähnliche Situation aus der Revolutionszeit. Die Abläufe in solchen Situationen, so stellt er fest, folgen einem »ehernen Gesetz«, das der »Einzelne« bestenfalls »erkennen«, nicht aber »beherrschen« kann.

3. Büchner beschäftigte das Dilemma des Revolutionärs in einer Gewaltsituation.

Anscheinend versetzte sich Büchner bei der Lektüre der Revolutionsgeschichte in die Lage der politisch Verantwortlichen, also des Justizministers Georges Danton. Das lässt sich darin ablesen, dass er in dem im Februar 1835 fertiggestellten Drama Danton’s Tod (2. Akt, 5. Szene) einzelne Sätze aus dem Brief der Dramenfigur Danton in den Mund legt. Danton erwacht aus einem Alptraum, in dem er die Situation des Sepember 1792 noch einmal durchleben musste. Er fühlte sich damals als Schiffbrüchiger auf offener See.

»Fatalismusbrief«

Danton’s Tod (II/5) Danton’s Tod

Der Einzelne nur Schaum auf der Welle,

Danton. Ja verloren. Wir konnten den Feind nicht im Rücken lassen, wir wären Narren gewesen, zwei Feinde auf einem Brett, wir oder sie, der Stärkere stößt den Schwächeren hinunter, ist das nicht billig?

Außerdem sieht er sich als jemand, auf den ein »Fluch […] gefallen« ist, der ihn zwang, notwendige und doch unverzeihliche Gewalttaten zu begehen.

»Fatalismusbrief«

Danton’s Tod (II/5) Danton’s Tod

Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Aergerniß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?

Danton. Ja das hab’ ich, das war Nothwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt. / Es muß, das war dieß Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?

Büchner wählte für diese Gewalttaten im Brief wie im Drama den Ausdruck »Ärgernis«, den er dem Matthäus-Evangelium (18,6 f.) entnahm. Dort heißt es: »Wehe der Welt der Aergerniß halben! Es muß ja Aergerniß kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt[2] Üblicherweise wird gesagt, Jesus gebrauche das Wort »muß« im Sinne von: »es kann nicht anders sein«, »weil nämlich die Welt, die Menschen, so böse sind«.[3] Büchner scheint das »muß« jedoch eher im Sinne von »politisch notwendig« zu verstehen. Danton sagt dann etwa: Angesichts der Bedrohung durch fremde Armeen mussten wir »das Vaterland« retten und dabei Mordtaten begehen; auf unsere Hand war »der Fluch des Muß gefallen«.

Der »gräßliche Fatalismus« und Der Hessische Landbote: Wie kommt es, dass Büchner das Geschehen der Septembermorde nicht aus der Perspektive der Opfer, sondern aus der Perspektive des dafür politisch Verantwortlichen wahrnahm. Ich erkläre mir das so:

Einleitung zu Der Hessische Landbote Büchner bereitete sich im Januar 1834 wohl schon innerlich auf das vor, was er zwei Monate später tatsächlich tat, nämlich auf die Abfassung des Hessischen Landboten. Ziel der Flugschrift war es, in Deutschland das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Revolution zu erzeugen. Wäre dies gelungen, so wäre Büchner mitverantwortlich gewesen für die Gewalthandlungen und das Blutvergießen, die in Revolutionen fast unvermeidlich sind und wofür die Septembermorde ein besonders eindringliches Beispiel darstellen. Büchner scheint sich zu fragen, ob er eine solche Situation ertragen könne, und die Antwort scheint negativ. »Ich gewöhnte«, so schreibt er, »mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser.«

In seinem Revolutionsdrama zeichnet Büchner Danton deshalb als einen Menschen, der sich von der Erinnerung an die Schrecken des September nicht mehr befreien kann. Und auch Robespierre erscheint bei Büchner nicht nur als unerschütterlicher Dogmatiker, sondern auch als ein Gequälter. Mit Blick auf den christlichen Messias sagt er:

Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die Quaal des Henkers.
Wer hat sich mehr verleugnet, Ich oder er? – Danton’s Tod

4. Büchner war kein Fatalist.

»Fatalisten«, so erläutert »Albrecht, Community-Experte für Geschichte« am 02.04.2013 in »gutefrage.net« zutreffend, »ergeben sich in das (sinnlose oder zumindest unbeeinflußbare) Schicksal (bejahend oder resignativ). Sie haben ein Gefühl des Ausgeliefertseins.« Hinzufügen kann man, dass auch manche Anhänger einer theistischen Religion in diesem Sinne »Fatalisten« sind und glauben, die Menschen seien einer unbeeinflussbaren Vorherbestimmung, der Prädestination, unterworfen.

Aus dem »Fatalismusbrief« lässt sich schließen, dass Büchner der Auffassung war, in Revolutionen könne eine Situation entstehen, in der der Einzelne dem nicht mehr steuerbaren Gang der Ereignisse so ausgeliefert ist wie ein Schiffbrüchiger den Wellen auf hoher See. Mehr gibt der Brief meines Erachtens nicht her. »Fatalist« wäre Büchner, wenn er gemeint hätte, diese Ausnahmesituation sei charakteristisch für die menschliche Geschichte im Ganzen. Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte.

Der Naturwissenschaftler Büchner nahm an, dass sich im Tierreich eine Höherentwicklung von einfacheren zu komplexeren Formen nachweisen lasse. Einleitung zu Probevorlesung In einer akademischen Vorlesung in Zürich sprach er von einem »Urgesetz«, einem »Gesetz der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.« Probevorlesung Büchner glaubte, dass sich die Evolution der Tierarten gesetzmäßig vollzieht. Dass einzelne menschliche Handlungen einem Fatum unterliegen, folgt hieraus nicht.

Zu etwaigen Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte hat sich Büchner nirgends direkt geäußert. Folgende Anekdote, die Alexis Muston, der schon genannte Freund Büchners, überliefert hat, kann vielleicht einen Hinweis geben. LZ 1660 Alexis Muston, Journal Beide besichtigten im September 1833 die bedeutende Fossiliensammlung im Darmstädter Museum und kamen dann in einen Saal mit »wertvollen ornamentalen und liturgischen Gegenständen der katholischen Konfession aus der Zeit vor der Reformation«.

Das da sind auch Fossilien, sagte Büchner zu mir. Hier ja, in Frankreich nicht. – Eines Tages überall!« fügte er hinzu. – »Wenn dann nur nicht die Religion als solche unter den alten Krempel verbannt wird,« [sagte Muston. Darauf Büchner:] »Es ist sehr wohl möglich, daß die kirchlichen Formen nicht immer der angemessenste Ausdruck des religiösen Gefühls bleiben. Der Gegenstand des religiösen Gefühls ist das Ideal, seine Ausbildung ist der Fortschritt: die Formen des Gottesdienstes sind keine solche Ausbildung, usf.« [4]

Der Glaube an ein »Ideal« ist für Büchner demnach eine Konstante in der menschlichen Geschichte. In welcher Form sich dieser Glaube äußert, ist dem Wandel unterworfen. Dieser Wandel vollzieht sich im Sinne eines »Fortschritts«. Auch auf einen solchen Fortschrittsglauben lässt sich der Begriff »Fatalismus« nicht anwenden.

2.1. Sozialrevolutionäre Gesellschaften in Frankreich Auf Büchners politische Handlungen lässt sich der Begriff »Fatalist« ebenfalls nicht anwenden. Büchner stand der politisch radikalen »Société des droits de l’homme« nahe oder war ihr Mitglied und gründete deshalb in Deutschland zwei Sektionen der »Gesellschaft der Menschenrechte«. Die Gesellschaft der Menschenrechte in Gießen Eines der wichtigsten Ziele dieser Gesellschaft war es, die Bevölkerung durch »Propaganda« auf eine Revolution vorzubereiten. Voraussetzung dafür war die selbstverständliche Annahme, menschliches Handeln könne den Lauf der Geschichte beeinflussen. Allerdings äußerte Büchner im Brief vom Juni 1833 die Ansicht, »daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann«, während »alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Thorenwerk ist«. Juni 1833. An die Eltern in Darmstadt Das schloss jedoch nicht aus, dass auch »Einzelne« dazu beitragen konnten, in der »großen Masse« ein Bewusstsein für ihre soziale Lage und ihr »nothwendiges Bedürfniß« zu erzeugen.

Büchners Werk ist charakterisiert durch »Empathie und revolutionären Optimusmus«, hat der englische Literaturwissenschaftler Michael Perraudin kürzlich festgestellt. 6.2. Michael Perraudin: Büchner. Empathie und revolutionärer Optimismus Das trifft die Sache wesentlich besser als die Rede von Büchners »Fatalismus«.

5. Büchner schrieb den »Fatalismusbrief« zwei Monate vor dem Hessischen Landboten.

Der »Fatalismusbrief« war Teil einer Sammlung von Briefabschriften, die Wilhelmine Jaeglé ein halbes Jahr nach Büchners Tod an den Schriftsteller Karl Gutzkow schickte. Er wollte sie in eine geplante Büchner-Biographie, die aber nicht zustande kam, einarbeiten.[5] Die Abschriften gelangten 1842 zufällig in den Besitz der Büchner-Familie in Darmstadt, und Georgs Bruder Ludwig Büchner druckte Teile davon in seiner Buchpublikation Georg Büchners Nachgelassene Schriften unter der Überschrift »Briefe an die Braut aus Gießen, 1833 und 1834«.[6] (Vgl. hierzu zusammenfassend Marburger Büchner Ausgabe X.2, S. 49–51). Die Grenzen zwischen den Briefen markierte er durch lange Striche, Auslassungen durch Auslassungspunkte. Abgesehen von einer Lücke vor dem letzten Satz, die er durch sieben Auslassungspunkte markierte, scheint er diesen Brief so überliefert zu haben, wie er ihn in der Abschrift vorfand. Der Brief ist der erste in einer Reihe von fünf Briefen.

Wilhelmine Jaeglé hatte zu keinem der Briefe das Datum mitgeteilt. Deshalb ist die Antwort auf die Datierungsfrage dem Scharfsinn der Herausgeber überlassen. Immerhin ist das Datum nicht unwichtig, denn zur Debatte steht häufig das zeitliche Verhältnis dieses Briefes zur Niederschrift des Hessischen Landboten. Wir wissen relativ sicher, dass Büchner mit der Niederschrift der Flugschrift Mitte März 1834 begann und dass er sie bald nach dem 20. März abschloss (vgl. Marburger Büchner Ausgabe II.1, S. 139).

Fritz Bergemann, der erste wissenschaftliche Herausgeber des Briefes, datierte den Brief in seiner Ausgabe von 1922 auf »Frühjahr 34?«, in einer späteren Ausgabe von 1940 auf »November 1833«.[7] Die erste Datierung erschloss er aus dem im Brief genannten Indiz »Veilchenstrauß«, die zweite aus der Annahme, dass der Briefschreiber sich deshalb so ausführlich und abfällig über die Stadt Gießen äußere, weil er gerade dort eingetroffen sei.

Der Büchner-Herausgeber Werner R. Lehmann folgte 1971 ebenfalls dem Indiz »Veilchenstrauß«.[8] Er datierte den Brief auf »nach dem 10. März 1834«. Zeitleiste Um Mitte März 1834 Dieser wäre damit nicht mehr der erste, sondern der vierte in der Reihe der fünf Briefe an Jaeglé. Vor allem: Er wäre fast gleichzeitig mit dem Hessischen Landboten entstanden. 

Jan-Christoph Hauschild entkräftete 1989 den Schluss von »Veilchenstrauß« auf »Frühjahr« durch die Überprüfung meteorologischer Daten. Der Winter 1833/34, so ergab sich, gehörte zu den mildesten im 19. Jahrhundert, und Veilchen ließen sich auch im Januar beschaffen. Aus dem Argument, der Brief sei nach der Ankunft in Gießen geschrieben, folgerte Hauschild, dass der Brief nach Büchners Rückkehr aus den Weihnachtsferien, genauer zwischen dem 10. und 20. Januar 1834, entstanden sei. [9]

Thomas Michael Mayer und Reinhard Pabst bestätigten und präzisierten 1993 diese Datierung, indem sie das Indiz aus dem »Fatalismusbrief«: »Lieb Kind, was macht denn die gute Stadt Straßburg, es geht dort allerlei vor, und du sagst kein Wort davon« auswerteten.[10] Büchner bezieht sich hier auf politische Unruhen in Straßburg, die ab dem 20. Januar auch in Zeitungsmeldungen auftauchten. Die Marburger Büchner Ausgabe (II.1, S. 179) datiert den Brief deshalb vorsichtig auf »(nach) Mitte Jan. 34«. Zu bedenken ist dabei, dass Büchner den ersten Absatz des Briefes etliche Tage früher schrieb als den Rest.

6. Fehldeutungen des »Fatalismusbriefes« beeinflussen das Bild Büchners seit 1850.

1. Ludwig Büchner druckte in der Sammlung der Nachgelassenen Schriften Ausschnitte aus nur fünf Briefen Büchners an Wilhelmine Jaeglé  aus der Gießener Zeit. Sie stammen alle aus dem Winter 1834. Dass er nicht mehr druckte, erklärt sich dadurch, dass Jaeglé der Veröffentlichung der an sie gerichteten Briefe nicht zugestimmt hatte. Dass er diese Briefe dennoch druckte, erklärt sich dadurch, dass sie eine für ihn wichtige biographische These stützen sollten. Ludwig Büchner hatte darauf verwiesen, dass Georg im Juni 1833, also vor seiner Übersiedlung nach Gießen, erklärt hatte, er werde sich in die dortige »Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche nicht einlassen«. Juni 1833. An die Eltern in Darmstadt Nun versuchte Ludwig Büchner zu erklären, warum Georg sich dennoch an einem so waghalsigen und aussichtslosen Unternehmen wie dem Hessischen Landboten beteiligte. Er erklärte es mit Georgs schlechter psychischer Stimmung: LZ-4260 Ludwig Büchner, Biographische Darstellung

Die ihm beinahe unerträglich scheinende Trennung von seiner Braut erzeugte in ihm während der ganzen Dauer seines Gießener Aufenthalts eine trübe und zerrissene Gemüthsstimmung, die sich in seinen Briefen häufig ausspricht und den sonst lebensfrohen jungen Mann sagen läßt: »Ich habe Anlagen zur Schwermuth.«

Weitere Gründe seien die Abneigung gegen die Stadt Gießen, das Leiden an den politischen Verhältnissen und eine für Heranwachsende typische Grübelei gewesen:

Er spöttelte und wand sich zum Studium der Grundlagen des menschlichen Wissens, zur Geschichte und zur Philosophie, um die Lösung derjenigen Räthsel zu finden, welche in einem Alter von zwanzig Jahren jeden strebenden Geist beschäftigen und bei den am Tiefsten Eindringenden auch den nachhaltigsten Seelenschmerz zu erzeugen im Stande sind.

In dieser Situation habe sich Büchner »in die Politik, wie in einen Ausweg aus geistigen Nöthen und Schmerzen« geflüchtet. Dieser Konstruktion zufolge hätte die Erschütterung über den »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« zu den Motiven für Georg Büchners Flucht in politische Aktivitäten wie zum Beispiel den Hessischen Landboten gehört. Überzeugend scheint mir diese Herleitung nicht.

2. Julian Schmidt: Die Nachgelassenen Schriften erschienen 1850, also ein Jahr nach Niederschlagung der Märzrevolution. Julian Schmidt, einer der führenden konservativen Publizisten der 1850 Jahre, erkannte in Büchner den vielleicht begabtesten Vertreter der politisch-literarischen Strömung des Vormärz, die die Revolution vorbereiten half und die Schmidt heftig bekämpfte. In einer Rezension der Nachgelassenen Schriften nutzte er Ludwig Büchners psychologische Konstruktion, um den moralisch verwerflichen Charakter dieser Literaturströmung im allgemeinen und Georg Büchners im besonderen zu zeigen. Er bespricht das Drama Danton’s Tod und stellt fest: WZ 1660 Julian Schmidt

Auf jeden Unbefangenen macht es den Eindruck, daß die Revolution etwas Entsetzliches und Verabscheuungswürdiges sei. Auch in den Briefen an seine Braut, die gerade in dieser Zeit sehr trübe sind, spricht sich dieser Eindruck aus.

Schmidt zitiert dann den entscheidenden Abschnitt aus dem »Fatalismusbrief« und stellt empört fest:

Und in dieser Stimmung stand er an der Spitze einer ziemlich verbreiteten geheimen Gesellschaft, welche Brandpamphlete in die Hütten des Volks schleuderte, um einen Krieg der Armen gegen die Reichen zu erregen. Er theilte nicht die Illusionen des ehemaligen Liberalismus, das Volk für blos politische Ideen in Bewegung setzen zu können.

Büchner – so erklärt Julian Schmidt den Zusammenhang – war ein Gelangweilter, und er wollte

eine Revolution heraufbeschwören aus Langeweile und Blasirtheit!! Hamlet-Leonce [= Georg Büchner] an der Spitze eines Jacobinerclubbs kommt mir vor wie Nero, als er Rom anzündete, um einen schauerlich schönen Anblick zu haben.

Schmidt veröffentlichte diese Analyse 1851 in der Zeitschrift Die Grenzboten[11], dann in seiner zwischen 1853 und 1896 in fünf Auflagen publizierten Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Die Ableitung der politischen Aktivitäten Büchners aus einem blasierten Fatalismus, Nihilismus oder auch Absurdismus findet sich bis heute in manchen Büchner-Darstellungen. Sie basiert fast immer auf einer Fehldeutung des »Fatalismusbriefes«. 

3. Auch in Büchner-Darstellungen des linken politischen Spektrums sind diese Nachwirkungen spürbar. So schrieb etwa Hans Mayer in dem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielgelesenen Buch Georg Büchner und seine Zeit:»Vom Fels des Atheismus erblickt Marx ein gelobtes Land, Büchner dagegen nur das Grau in Grau hoffnungslosen Elends«.[12] Und wie verträgt sich Büchners »hoffnungsloses Elend« mit seinen hymnischen Sätzen über die Natur, die »nach einem Gesetz der Schönheit […] die höchsten und reinsten Formen hervorbringt«? Hans Mayer schreibt: In diesen Sätzen zeige sich »das tiefe, aller Realitäten spottende Bedürfnis nach Hoffnung, das uns erfüllt und das uns niemals, allen Widrigkeiten zum Trotz, ganz und unwiderruflich in der Verzweiflung verharren läßt – ist nur erst einmal die akute Krise der Hoffnungslosigkeit ohne letalen Ausgang überstanden.«

Bei Ludwig Büchner und Julian Schmidt führte die Depression angeblich zur Flucht in die Politik; hier führt sie zur Flucht in eine ihren Gegenstand verklärende Naturwissenschaft. Dies sind die verblüffenden Deutungen, zu denen man kommen kann, wenn man psychologisch argumentiert.

7. Fazit

Unter »Offene Fragen zum Thema Fatalismus« meldet die Internetplattform »gutefrage.net« am 29. Januar 2016 18:25 den Eintrag:

Büchner hat ja 1834 den Fatalismusbrief geschrieben (die Geschichte ist nicht beeinflussbar, das Schicksal ist vorherbestimmt). Aber trotzdem schreibt er bald danach den hessischen Landboten und will damit gegen den Staat kämpfen. Glaubte er jetzt an den Fatalismus oder doch nicht? Das widerspricht sich doch, oder? Bin dankbar für jede Antwort!

Der Beiträger hat recht: Wer glaubt, die Geschichte sei nicht beeinflussbar, sollte keine politische Flugschrift schreiben. Jedoch gibt es kein Indiz dafür, dass Büchner annahm, dass Menschen den Gang der Geschichte prinzipiell nicht beeinflussen können.

Am besten wäre wohl, wenn Lehrer die Frage nach Büchners »Fatalismus« nicht mehr stellen würden, jedenfalls nicht mit der Textgrundlage seines Liebesbriefes vom Januar 1834.

 


Anmerkungen

  • [1] Adolphe Thiers: Histoire de la Révolution française, 8 Bde., Paris 1824–1827.
  • [2] Fettsatz markiert hier wie in anderen Stellen die Übereinstimmung zwischen Büchners Text und dem der Quelle.
  • [3] Gottfried Büchner: Biblische Real- und Verbal-Hand-Concordanz, 1859, S. 29, Art. »Aergerniß«.
  • [4] Im Original: »Les formes ecclestiastiques peuvent bien ne pas demeurer toujours l’expression la plus convenable du sentiment religieux. L’objet du sentiment religieux, c’est l’idéal, sa culture c’est le progrès: les formes de culte ne sont pas la culture, etc.«
  • [5] Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen, Königstein/Ts. 1985, S. 64–67.
  • [6] Nachgelassene Schriften von Georg Büchner, hrsg. v. Ludwig Büchner, Frankfurt a. M.: J. D. Sauerländer 1850, S. 281–287.
  • [7] Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Fritz Bergemann, Leipzig 1922, S. 529; 3. Aufl. Leipzig 1940, S. 510.
  • [8] Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar, hrsg. v. Werner R. Lehmann, Bd. 2: Vermischte Schriften und Briefe, Hamburg 1971, S. 425.
  • [9] Jan-Christoph Hauschild: Neudatierung und Neubewertung von Georg Büchners »Fatalismusbrief«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 108 (1989), S. 511–529; vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie, Stuttgart, Weimar 1993, S. 270.
  • [10] Thomas Michael Mayer: Über den Alltag und die Parteiungen des Exils. Anläßlich von Büchners Briefen an Braubach und Geilfus, in: Erika Gillmann, Thomas Michael Mayer, Reinhard Pabst u. Dieter Wolf (Hrsgg.): Georg Büchner an »Hund« und »Kater«. Unbekannte Briefe des Exils. Marburg 1993, S. 41–146, hier S. 134 f.
  • [11] Julian Schmidt: Georg Büchner, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur, redigiert von Gustav Freitag und Julian Schmidt. 10. Jahrgang, I. Semester, I. Band, Leipzig 1851, S. 121–128; hier S. 127.
  • [12] Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946, S. 365 f.

Text: Burghard Dedner (April 2016)