1.3. Studien in Gießen und Darmstadt 1833–1835
Inhalt
1. Geschichte und Verfassung der Universität Gießen
2. Studienverlauf in Gießen
3. Gießener Professoren
4. Studien in Darmstadt 1834/35
1. Geschichte und Verfassung der Universität Gießen
Als Gießen 1604 an die Hessen-Darmstädter Linie fiel, wurde es zum Regierungssitz für die oberhessischen Landesteile. 1605 wurden im Auftrag des Landesherrn das Gießener Pädagogium und das „Gymnasium illustre“ gegründet, 1607 folgte die lutherische Landesuniversität als Gegenstück zur calvinistischen Universität im Hessen-Kasselischen Marburg. Im Verwaltungszentrum Gießen sollte sie vor allem die Ausbildung von Pfarrern und Beamten, der Funktionselite des Großherzogtums, gewährleisten.
Im 17. und 18. Jahrhundert war die Ludoviciana eine typische kleine Landesuniversität mit den damals üblichen vier Fakultäten: Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie. Etwa 20 bis 25 Professoren unterrichteten mehrere hundert Studenten, diese setzten sich meist aus „Landeskindern“ zusammen. Beeinflusst vom landesherrlichen Hof in Darmstadt kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer allmählichen Modernisierung der Lehrinhalte und zu Reformen im Lehrbetrieb. Vorbilder waren dabei vor allem die Universitäten Halle und Göttingen. Der berühmteste unter den Professoren war der 1824 nach Gießen berufene Justus Liebig (1803–1873), ein bedeutender Biochemiker moderner Art und vehementer Gegner der romantischen Naturphilosophie. Dass Büchner als Anhänger der Naturphilosophie während seiner Gießener Studienzeit keine Veranstaltungen bei Liebig besuchte, mag sich eben daraus erklären.
Die Mehrheit der Studentenschaft zu Büchners Zeit war politisch angepasst und, wie Büchner am 15. März 1836 im Brief an die Eltern sarkastisch bemerkte, vor allem darauf bedacht, sich „ein Aemtchen zu erkriechen“. 15. März 1836. An die Eltern in Darmstadt Eine Minderheit, so zum Beispiel die Gießener „Schwarzen“, waren bereits in den 1810er Jahren wegen ihrer revolutionären Ansichten verfolgt worden. Auch im April 1833, dann wiederum im Frühjahr 1835 gerieten Gießener Studenten wegen Beteiligung am Frankfurter Wachensturm bzw. am Flugschriftenprojekt "Hessischer Landbote" ins Visier der Behörden.
2. Studienverlauf in Gießen
LZ 1175 Verordnung Die großherzoglich-hessische Verordnung vom 20. September 1807, mit der die „Landeskinder“ auf den Studienanfang in Gießen verpflichtet wurden, bestimmte über den Studienabschluss: „Sämmtliche Landeskinder, welche in irgend einer Facultät einen akademischen Grad nehmen wollen, haben sich denselben nirgends, als auf der Landesuniversität ertheilen zu lassen.“ Wenn Büchner im Großherzogtum Hessen-Darmstadt in einem akademischen Beruf tätig sein wollte, musste er demnach seine Abschlussprüfung in Gießen ablegen. Ein vorangehendes Studium dort war also möglicherweise obligatorisch, zumindest aber ratsam.
LZ 4560 Schulz 1837 „Die Gesetze seines Heimathlandes riefen ihn im Herbst 1833 auf die Universität Gießen, wo er sein Studium der Naturwissenschaften fortsetzte, und zugleich, nach dem Wunsche seines Vaters, mit der praktischen Medizin sich befaßte“, schrieb Wilhelm Schulz dementsprechend im Nekrolog 1837.
LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Bei Ludwig Büchner heißt es: „Die Gesetze seiner Heimat riefen ihn, nach einem zweijährigen Aufenthalte in Straßburg, nach der Landesuniversität Gießen, wo er seine medicinischen Studien fortsetzte.“
LZ 2230 Immatrikulation Tatsächlich schrieb sich Büchner, der am 24. Oktober 1833 von Darmstadt, wo er die Semesterferien verbracht hatte, nach Gießen übersiedelte, an der dortigen Universität im Fach Medizin ein.
LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Wenn Büchner einen Studienabschluss im Fach Medizin anstrebte, so musste er bei einem auf acht Semester angelegten Studium spätestens jetzt medizinische Fächer im engeren Sinne belegen. Jedoch fand sich „sein mehr zur Speculation, als zur Beobachtung neigender Geist davon zurückgestoßen“.
7.5. Burghard Dedner: Vater-Sohn-Konflikt IITatsächlich hat sich für den Besuch von Veranstaltungen der „praktischen Medizin“ kein Beleg erhalten. Vermutlich gab Büchner dieses Studienziel nach dem ersten Gießener Semester oder sogar schon im Dezember 1833 auf. In einem Brief an Wilhelmine Jaeglé beschrieb er Mitte März 1834 den künftigen Lebensplan so: „Student noch zwei Jahre; die gewisse Aussicht auf ein stürmisches Leben, vielleicht bald auf fremdem Boden!“ Mitte März 1834. An Wilhelmine Jaeglé in Straßburg Demnach hielt Büchner schon jetzt die Emigration für eine wahrscheinliche Folge seiner politischen Aktivitäten. Die Rücksicht auf einen Studienabschluss an der Landesuniversität verlor damit an Dringlichkeit. Abfassung und Druck des „Mémoire“ 1835/36 Fest eingeplant war dagegen der Termin des Studienabschlusses im Frühjahr 1836, den Büchner genau so – mit der Fertigstellung seiner Dissertation – auch einhielt. Zeitweilig verfolgte er sogar den ehrgeizigeren Plan, bereits zu Weihnachten 1835 zu promovieren und ab Frühjahr 1836 als Privatdozent in Zürich zu unterrichten.
Die nachweisbaren Studieninteressen Büchners sind seit dem ersten Gießener Semester auf die zwei Fächer gerichtet, welche ihn bis zuletzt beschäftigten, nämlich auf vergleichende Anatomie und auf Philosophie. Am 9. Dezember 1833 schrieb Büchner an den Freund August Stöber: „Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich [...]. Man muß aber unter der Sonne doch auf irgend einem Esel reiten und so sattle ich in Gottes Namen den meinigen; für’s Futter ist mir nicht bang, an Distelköpfen wirds nicht fehlen, so la[n]g die Buchdruckerkunst nicht verloren [g]eht.“ 9. Dezember 1833. An August Stöber in Oberbronn Der Ton des Briefes ist zwar witzelnd, der Brief belegt aber, dass Büchner in dieser Zeit damit beschäftigt war, sich die philosophische Fachsprache anzueignen, und daran dachte, dereinst Abhandlungen über philosophische Themen zu verfassen.
3. Gießener Professoren
LZ 2240 Universität Gießen, Vorlesungsverzeichnis Sommer 1834
Für das Sommersemester 1834 ist der Besuch von zwei philosophischen Lehrveranstaltungen belegt.
LZ 2260 Joseph Hillebrand, Hörerschein Es handelt sich dabei um die Kollegs über „Logik, dreimal wöchentlich, Dienstags, Donnerstags und Freitags von 8–9 Uhr“ und über „Naturrecht und allgemeine Politik, viermal wöchentlich, Mittwochs und Samstags von 8–9 und von 11–12 Uhr“ bei Joseph Hillebrand.
Hillebrand, Professor für Philosophie, Ästhetik und Literaturgeschichte, wird als „ein universell gebildeter, ächt humanistischer und humoristischer Jüngling in grauen Haaren“ beschrieben, „dem ein geistreicher Witz stets auf der Zunge lag“. Er war als Oppositioneller bekannt und beliebt und kommentierte in seinen Kollegs „auch, was damals viel heißen wollte, [die] politischen Zustände der unmittelbaren Gegenwart, w[as] immer ein dumpfes Beifallsgemurmel unter der Zuhörermenge hervorrief“. (Rudolf Fendt: Von 1846–1853. Erinnerungen aus Verlauf und Folgen einer akademischen und politischen Revolution. Darmstadt 1875, S. 41).
In den philosophischen Schriften, die Büchner 1836 in Straßburg verfasste, haben Hillebrands Veröffentlichungen keine sicheren Spuren hinterlassen. Philosophische Schriften und Äußerungen Doch stammt die Anregung für Büchners Intention, in seinem „Spinoza“-Skript (H1) Spinozas Substanzenlehre in Richtung von Leibniz’ Monadologie weiterzuentwickeln, möglicherweise von Hillebrand.
Umgekehrt steht es mit einem anderen Gießener Professor, dem katholischen Theologen Johannes Kuhn (1806–1887). Es gibt keine Belege dafür, dass Büchner Kuhns Vorlesungen gehört oder sonst einen persönlichen Kontakt zu ihm gehabt hat. Gleichwohl hat er Kuhns Schrift über Jacobi und seine Zeit (Mainz 1834) in seinem „Cartesius“-Skript ausführlich zitiert und diskutiert.
LZ 2265 Carl Vogt 1891Durch einen Bericht des Kommilitonen Carl Vogt ist außerdem Büchners Teilnahme an dem Privatissimum „Vergleichende Anatomie, 5 Stunden wöchentlich von 10–11 Uhr“ bei Friedrich Wernekinck belegt. Es gehörte zum Lehrangebot der medizinischen Fakultät. Carl Vogt erinnerte sich später: „Wernekinck demonstrierte uns die damals landläufigen Wirbeltheorien und gab sich alle Mühe, uns in das Heiligtum der vergleichenden Anatomie […] einzuführen.“ Über Büchner schreibt er: „In Wernekincks Kolleg war er sehr eifrig und seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns beiden andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche uns Respekt einflößten.“ LZ 1780 Universität Gießen. Vorlesungsverzeichnis Winter 1833/34 Vermutlich aufgrund eines Erinnerungsfehlers verlegt Vogt den Besuch dieser Vorlesung, die im Sommersemester angeboten wurde, ins Wintersemester. Möglicherweise besuchte Büchner aber tatsächlich auch im Winteresemester eine oder mehrere der von Wernekinck angeboten Lehrveranstaltungen
Friedrich Wernekinck, der 1820 aus Göttingen nach Gießen gekommen war, hier promoviert hatte und seit 1821 als Prosektor, seit 1824 als außerordentlicher Professor für Medizin und seit 1826 an der Philosophischen Fakultät als ordentlicher Professor für Mineralogie tätig war, galt als „höchst geschickter Anatom“ und Spezialist für menschliche Neurologie, Anatomie des Gehirnsystems, der Sinnesorgane und ihrer Entwicklungsgeschichte sowie für vergleichende Anatomie.
Einleitung zu Woyzeck Der führende Gießener Professor in den Bereichen Naturphilosophie und Naturwissenschaft war Johann Bernhard Wilbrand (1779–1846). Er las im Sommer 1834 über „Physiologie des Menschen“. Es ist nicht belegt und sogar unwahrscheinlich, dass Büchner diese oder eine andere Vorlesung Wilbrands gehört hat. Jedoch hat Wilbrand Spuren in Büchners Woyzeck hinterlassen.
Der später berühmteste Professor der Universität Gießen war der aus Darmstadt stammende Justus Liebig (1803–1873), der 1824 – von Alexander von Humboldt empfohlen – zum außerordentlichen, 1825 dann zum ordentlichen Professor ernannt worden war. Unter Büchners Freunden arbeitete zum Beispiel Gustav Clemm, Mitglied und dann Verräter der „Gesellschaft der Menschenrechte“, 1834 in Liebigs Labor. 1838 arbeitete dort auch Georg Büchners Bruder Wilhelm. Dass Büchner mit Liebig in Kontakt kam, ist nicht überliefert. Liebig arbeitete auf einem anderen Feld und war ein offener Verächter der romantischen Naturphilosophie, deren Grundvoraussetzungen Büchner hingegen teilte.
4. Studien in Darmstadt 1834/35
LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 „Auf Wunsch seines Vaters“, der seinen Sohn vermutlich an weiteren gesetzwidrigen politischen Aktivitäten hindern wollte, kehrte Georg Büchner Mitte September 1834 nach Darmstadt zurück, wo er das folgende Wintersemester bis zu seiner Flucht im März 1835 verbrachte.
LZ 3420 Anna Jaspers Auch in dieser Zeit blieben die in Gießen sichtbaren Studienschwerpunkte erhalten. Büchner entlieh vom 9. bis 12. Oktober 1834 aus der Großherzoglich hessischen Hofbibliothek in Darmstadt den 1829 in zweiter Auflage erschienenen ersten Band von Tennemanns Geschichte der Philosophie. Philosophische Schriften und Äußerungen Dieses Standardwerk Tennemanns nutzte er auch – allerdings in erster Auflage – als Grundlage seiner philosophischen Schriften.
Büchner und Heine Ebenso verfügte er etwa ab dem 10. Februar 1835 über Heines Abhandlung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland in Der Salon II (vgl. Marburger Büchner Ausgabe III.2, S. 222 f.).
Er arbeitete Teile dieses Textes in die erste Szene von Danton’s Tod ein. Danton’s Tod
Auch das Philosophengespräch in der Szene III/1 von Danton’s Tod belegt seine bereits weit gefächerten philosophischen Kenntnisse. Danton’s Tod
LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Belege für Büchners Fortführung anatomischer Studien in dieser Zeit sind zwei Mitteilungen Ludwig Büchners: Georg habe „[u]nter Anleitung seines Vaters [...] während dieses Winters Vorlesungen über Anatomie für junge Leute, die sich für das Studium vorbereiteten“, abgehalten.
LZ 4260 Ludwig Büchner 1850 Ludwig Büchner berichtet außerdem über die Arbeit an Danton’s Tod: Sie „geschah im Verborgenen und war mannigfach gestört; während an seinem Arbeitstische die anatomischen Tafeln und Schriften obenauf lagen, zog er furchtsam unter denselben die Papierbogen hervor, auf denen er seine Gedanken mit einer gewissen geistigen Hast niederwarf.“
Die Vorlesungen hielt Georg Büchner im Darmstädter Krankenhaus im Rahmen von Kursen für „junge Leute, deren Verhältniße ihnen nicht erlaubten eine öffentliche Lehranstalt zu besuchen“, um sich „zu Wundärzten auszubilden“ (Marburger Büchner Ausgabe VIII, S. 178). Der Vater Ernst Büchner bot diese Fortbildungsveranstaltungen seit 1827 an. Bei den anatomischen Tafeln handelte es sich vermutlich um Moritz Ignaz Webers Anatomischen Atlas des Menschlichen Körpers. Ernst Büchner bot seinem Sohn im Brief vom 18. Dezember 1836 diesen Atlas als Geschenk an mit der Bemerkung, er sei Georg ja „schon genau bekannt“. 18. Dezember 1836. Von Ernst Büchner nach Zürich
Text: Burghard Dedner (Juni 2014); zuletzt geändert November 2017