7.5. Burghard Dedner:
Vater-Sohn-Konflikte II: Die Legende vom aufgezwungenen Medizinstudium

Dieser Abschnitt der Legende vom Vater-Sohn-Konflikt besteht aus zwei Teilen. Der erste, von Ludwig Büchner formulierte Teil erzählt, dass Büchner im Winter 1833/34 schwere Depressionen durchlitt. Diese Depressionen wurden unter anderem durch das Medizinstudium ausgelöst, das er jetzt absolvieren sollte, und sie waren unter anderem ein Auslöser des Hessischen Landboten. Der zweite, von Karl Emil Franzos ausformulierte Teil erzählt, wie Ernst Büchner seinem  Sohn dieses Medizinstudium aufzwang und wie sehr dieser darunter litt.

Inhalt

1. Die Legende
2. Faktencheck 1: Vom Medizinstudium zum Philosophiestudium.
3. Faktencheck 2: Ernst Büchners Berufswunsch
4. Der Verlauf des anatomisch-philosophischen Doppelstudiums

1. Die Legende

Der erste Teil der Legende findet sich 1850 in Ludwig Büchners Einleitung zu den Nachgelassenen Schriften, der ersten Gesamtausgabe von Büchners Werken. Ludwig Büchner versuchte zu erklären, warum Georg die Flugschrift Der Hessische Landbote Der Hessische Landbote verfasste, obwohl er doch im Juni 1833 versichert hatte:

Ihr könnt voraussehen, daß ich mich in die Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche nicht einlassen werde. Juni 1833. An die Eltern in Darmstadt

Die Gesellschaft der Menschenrechte in Gießen Die einfachste Erklärung für die Abfassung des Hessischen Landboten ist natürlich, dass Büchner die politischen und sozialen Verhältnisse in Deutschland unerträglich fand und dass die französische »Gesellschaft der Menschenrechte«, der er anscheinend angehörte, einen Umsturz der Verhältnisse satzungsgemäß durch »association et propagande«, also durch Vereinsbildung und das Verbreiten von Flugschriften, herbeiführen wollte. LZ 4260 Ludwig Büchner, Biographische Darstellung Tatsächlich spricht Ludwig Büchner auch von Georgs Empfindung für die »Schmach des Vaterlandes«, von seiner »glühenden Liebe zur Freiheit« und seinem »Ekel vor der Verderbtheit der herrschenden Kaste«. Das sind sicher drei politische Gründe, die die Flugschrift erklären können.

Außerdem aber suchte Ludwig Büchner nach einer weiterreichenden psychologischen Erklärung, derzufolge die politische Tätigkeit eine Ersatzhandlung für eine schwere Depressionen war. Büchner, so schreibt er, »stürzte sich in die Politik, wie in einen Ausweg aus geistigen Nöthen und Schmerzen«. Er bekämpfte damit die »trübe und zerrissene Gemüthsstimmung«, die ihn in Gießen überkommen hatte. Deren Ursachen waren das »unfreundliche Gießen« und die »Trennung von seiner Braut«, vor allem aber seine Abneigung gegen das »eigentlich praktische Feld der Medicin«. Ludwig Büchner schreibt:

Je mehr sich Büchner’s Studium dem eigentlich praktischen Felde der Medicin näherte, desto mehr fand sich sein mehr zur Speculation, als zur Beobachtung neigender Geist davon zurückgestoßen.

Diese Abneigung habe Büchner zu ganz anderen Beschäftigungen geführt:

LZ 4260 Ludwig Büchner, Biographische Darstellung Er spöttelte und wand sich zum Studium der Grundlagen des menschlichen Wissens, zur Geschichte und zur Philosophie, um die Lösung derjenigen Räthsel zu finden, welche in einem Alter von zwanzig Jahren jeden strebenden Geist beschäftigen und bei den am Tiefsten Eindringenden auch den nachhaltigsten Seelenschmerz zu erzeugen im Stande sind.

Karl Emil Franzos griff diese These von der Entstehung des Landboten aus depressiven Stimmungen auf und verband sie mit seinem biographischen Lieblingsthema, dem Konflikt zwischen Vater und Sohn. So erweckte er geradezu den Eindruck, als habe der Vater mit dem aufgezwungenen Medizinstudium zum Entstehung der Flugschrift wesentlich beigetragen. Franzos schrieb:

Widrig und verfehlt erschien ihm der Beruf, den er nun verfolgen mußte. […] Georg hatte den Vater bei seiner Heimkehr aus Straßburg für seine Pläne umzustimmen versucht; Dr. Büchner bestand auf seinem Willen und der Sohn fügte sich. [...] er widmete sich der praktischen Medizin. [...] Was ihn hierzu vermocht, war [….] die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald unausweichlich zu einem völligen Bruche geführt hätte. [...] So entsagte er denn seinen bisherigen Strebungen, besuchte fleißig Vorlesung und Klinik und that seine Pflicht. Aber sie fiel ihm schwer und von Tag zu Tage schwerer. [...] So ward ihm das Studium, das ihn in Straßburg mit Eifer, Freude und Zuversicht erfüllt, in Gießen zur Qual und zum Ekel. [1]

Franzos fährt fort mit Ludwig Büchners Erzählung von der Entstehung des Hessischen Landboten aus Georg Büchners depressiven Stimmungen.

2. Faktencheck 1: Vom Medizinstudium zum Philosophiestudium.

Es ist nicht ganz einfach, Ludwig Büchners Hypothesenkonstrukt zu durchbrechen; denn dieses Konstrukt bestimmt nicht nur seine biographische Erzählung, es bestimmte zugleich auch die Auswahl der brieflichen Dokumente, die er in den Nachgelassenen Schriften für den Winter 1834 mitteilt. Ludwig Büchner traf die Auswahl natürlich so, dass sie seine These wahrscheinlich macht.

Ludwig Büchner behauptete, Büchners Hinwendung zur Philosophie sei ein Ausweg aus Depressionen und Ausdruck einer typischen Adoleszenzkrise gewesen. Wir kennen seit 1935 einen Brief Büchners an den Straßburger Freund August Stöber vom 9. Dezember 1833, der zumindest diese Behauptung widerlegt. Büchner war nach wenigen Wochen seines Aufenthalts in Gießen so schwer erkrankt, dass er zu den Eltern nach Darmstadt zurückkehren musste. In dem Brief vom 9. Dezember berichtet er dem Freund, dass er Philosoph werden wolle. Deshalb mache er sich gerade mit der philosophischen »Kunstsprache« vertraut. Statt des bisherigen Doppelstudiums Zoologie-Medizin fasste er jetzt also das Doppelstudium Zoologie-Philosophie ins Auge, das er dann seit dem Sommersemester 1834 nachweislich verfolgte. Er schreibt: 9. Dezember-1833. An August Stoeber in Oberbronn

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Georg Büchner an August Stöber, 9. Dezember 1833 (Ausschnitt; Handschrift im Besitz der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen)

Ich werfe mich mit aller Gewalt in die
Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich,
ich meine für menschliche Dinge, müsse man auch
menschliche Ausdrücke finden; doch das stört
mich nicht, ich lache über meine Narrheit, und
meine es gäbe im Grund genommen
doch nichts als taube Nüsse zu knacken.
Man muß aber unter der Sonne doch auf irgend einem Esel reiten und so sattle ich in Gottes Namen den meinigen; für’s Futter ist mir nicht bang, an Distelköpfen wirds nicht fehlen, so la[n]g die Buchdruckerkunst nicht verloren [g]eht.

Philosophie war der »Esel«, auf dem Büchner von jetzt ab »reiten« wollte. Distelköpfe sind bekanntlich das Lieblingsfutter des Esels wie Brot das Grundnahrungsmittel des Menschen, und so heißt Büchners Rede über Philosophie, Eselreiten, Distelköpfe, Futter und die Buchdruckerkunst in einfacher Prosa: Ich will später über philosophische Themen publizieren und damit mein Brot verdienen.

Ludwig Büchners Erzählung von Abneigung gegen das Studium der praktischen Medizin und Hinwendung zum Studium der Philosophie können wir demnach so konkretisieren. Büchner belegte vermutlich im November 1833 medizinische Kurse im engeren Sinne, die er unerträglich fand. Er kehrte Ende des Monats krankheitshalber nach Darmstadt zurück und warf sich dort »mit aller Gewalt in die Philosophie«, sein künftiges Studienfach.

War das zugleich das tatsächliche Ende seines Medizinstudiums? Wahrscheinlich ja. LZ 4560 Wilhelm Schulz: NekrologZwar schrieb Büchners Freund Wilhelm Schulz im Züricher Nachruf vom 28. Februar 1837, dass Büchner in Gießen »sein Studium der Naturwissenschaften fortsetzte, und zugleich, nach dem Wunsche seines Vaters, mit der praktischen Medizin sich befaßte.« Aber wie konkret diese Befassung wurde, sagt er nicht.

LZ 4260 Ludwig Büchner, Biographische Darstellung Diese Unbestimmtheit gilt in noch stärkerem Maße für Ludwig Büchners Ausführungen. Er sagt zwar:

Die Gesetze seiner Heimat riefen ihn, nach einem zweijährigen Aufenthalte in Straßburg, nach der Landesuniversität Gießen, wo er seine medicinischen Studien fortsetzte.

Aber da Georg Büchner in Straßburg nichts als naturwissenschaftliche Kurse belegt hatte, heißt das Wort »fortsetzte« nur, dass Büchner weiterhin an der medizinischen Fakultät eingeschrieben war. Für Straßburg hatte Ludwig Büchner detailliert die dort besuchten naturwissenschaftlichen Vorlesungen benannt, über das Gießener Medizinstudium äußert er nur den schon zitierten Satz: »Je mehr sich Büchner’s Studium dem eigentlich praktischen Felde der Medicin näherte, desto mehr fand sich sein [...] Geist davon zurückgestoßen«. Die Formulierung spricht nicht dafür, dass Büchner eine medizinische Vorlesung erfolgreich beendete. Ich vermute also, dass Büchner bei seiner Rückehr nach Gießen im Januar 1834 keine weiteren medizinischen Kurse besuchte. Dieser Teil des Studiums war vermutlich abgeschlossen.

Das nächste Dokument, das uns einen Einblick in Büchners Studienplanung gibt, ist ein Brief an Wilhelmine Jaeglé von Mitte März 1834. Jaeglé wollte die bisher geheime Verlobung der beiden Liebenden endlich bekannt machen. Der Verlobte war unter bestimmten Bedingungen einverstanden, hielt es aber für geboten, bei diesem Schritt »die sogenannte Versorgung«, also seine Berufsaussichten, anzusprechen. Er äußert sich so: 

Student noch zwei Jahre; die gewisse Aussicht auf ein stürmisches Leben, vielleicht bald auf fremdem Boden! Mitte März 1834. An Wilhelmine Jaeglé

Georg Büchner schrieb um diese Zeit gerade den Hessischen Landboten. Dass er aus Deutschland werde fliehen müssen, war ihm bereits bewusst. Dachte er an ein Medizinstudium, als er »Student noch zwei Jahre« niederschrieb? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Wir haben keinen Hinweis darauf, dass Büchner im Sommersemester 1834 oder später jemals eine medizinische Vorlesung besuchte.

Wahrscheinlich dachte er also im März 1834 bereits an eine Dissertation in der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät. Zeitleiste 18. März 1836Die für den Rest dieses Studiums veranschlagten »zwei Jahre« führen uns in den März 1836, also genau in den Monat, in dem Büchner die Dissertation abschloss. Dass sich der Berufsanfang noch einmal um ein halbes Jahr verzögerte, war dem größeren Umfang der Dissertation geschuldet. Büchner hatte also im März 1834 bereits einen Studienplan, dem er dann tatsächlich folgte.

3. Faktencheck 2: Ernst Büchners Berufswunsch

Dr. Büchner bestand auf seinem Willen und der Sohn fügte sich. [...] er widmete sich der praktischen Medizin. [...] Was ihn hierzu vermocht, war [….] die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald unausweichlich zu einem völligen Bruche geführt hätte. 

Versuchen wir Karl Emil Franzos' schon zitierte dramatische Erzählung vom Vater-Sohn-Konflikt auf die nachprüfbaren Fakten zu reduzieren!

Als Büchner in Gießen mit der »praktischen Medizin sich befasste«, folgte er dem »Wunsche seines Vaters«. Diese nüchterne Mitteilung aus Wilhelm Schulz' Nekrolog ist zweifellos glaubwürdig. Ernst Büchner wünschte sich für seine Söhne einen Beruf, der seinen Mann ernährte.[2] Deshalb drängte er später seinen jüngsten Sohn Alexander »statt zur ›brotlosen‹ Philosophie zum Jurastudium«.[3] Nach diesem Muster drängte er wahrscheinlich auch den ältesten Sohn zur Medizin und einigte sich mit ihm zunächst auf ein Doppelstudium aus Naturwissenschaften und Medizin.

Ebenso verhielt sich übrigens auch der Vater von Büchners Gießener Kommilitonen Carl Vogt. Dieser erinnerte sich in seinen Memoiren, sein Vater habe Ende 1835 »nichts dagegen« gehabt, wenn sein Sohn »zur Anatomie oder Physiologie übergehen« wolle, riet ihm aber doch zum Abschluß der »medizinischen Studien« mit der Begründung: »Zwei Sättel sind besser als einer: Wenn die andern Stränge reißen, kann man sich an den Doktor der Medizin halten, für welchen sich in der ganzen Welt Beschäftigung findet«.[4]

Unvernünftig war das nicht, denn die »andern Stränge« konnten »reißen«. Sie rissen z. B. 1855, als Ludwig Büchner als Atheist von der Universität Tübingen entlassen wurde und dann als Arzt in Darmstadt immerhin genug verdiente, um auch als Schriftsteller unabhängig zu bleiben. Auch war diese Art von Doppelqualifikation nicht ungewöhnlich. In Gießen führten neben Johann Bernhard Wilbrand und Friedrich Wernekinck noch drei weitere Medizinprofessoren den Titel eines Doktors der Philosophie. Auch Johannes Müller, der bedeutendste deutsche Anatom der Zeit, war Dr. med.

Bei Alexander Büchner setzte Ernst Büchner sich mit dem Drängen zum Brotberuf durch. Bei Georg begnügte er sich mit dem Kompromiss eines Doppelstudiums. Das sollte zunächst Naturwissenschaften und Medizin zum Inhalt haben und bestand schließlich aus Naturwissenschaften und Philosophie. Dabei tat Ernst Büchner sein Bestes, um den Sohn von der brotlosen Philosophie fort- und zur mehr versprechenden Zoologie hinzulenken.

Seit wann war Ernst Büchner mit dem Verzicht auf das eigentlich gewünschte Medizinstudium einverstanden? Die Dokumente, aus denen ich noch zitieren werde, zeigen, dass im Darmstädter Wintersemester 1834/35 von der Fortsetzung medizinischer Studien schon nicht mehr die Rede war. Offenbar hatte Ernst Büchner sich hier mit der Entscheidung des Sohnes längst abgefunden. Dasselbe gilt bereits für das Gießener Sommersemester 1834, und die Bestimmtheit, mit der Georg Büchner im Brief an Jaeglé von Mitte März 1834 seine Lebensplanung darlegt, lässt mich vermuten, dass er mit dem Vater, der das Studium ja finanzieren musste, den Studienabschluss ohne praktische Medizin schon um den Jahreswechsel 1833/34 vereinbart hatte. Bei dieser Gelegenheit nannte Ernst Büchner vermutlich auch die Summe, die er für das Studium des Sohnes eingeplant hatte. Er kam auf diese Summe in dem Versöhnungsbrief zurück. Ich habe, so schrieb er,

nicht ermangelt […], dir pünctlich die nöthigen Geldmitteln, bis zu der dir bekannten Summe, welche ich zu deiner Ausbildung für hinreichend erachtete, zufließen zu laßen. 18. Dezember 1836. Von Ernst Büchner nach Zürich

4. Der Verlauf des anatomisch-philosophischen Doppelstudiums

Büchner war in Straßburg 1831 bis 1833 als Student der Medizin eingeschrieben, besuchte aber nur naturwissenschaftliche Lehrveranstaltungen.  Er immatrikulierte sich am 31. Oktober 1833 in Gießen wieder an der medizinischen Fakultät und wurde auch im Sommersemester als Student der Medizin geführt und besuchte zunächst anscheinend auch Lehrveranstaltungen in praktischer Medizin. Im Dezember 1833 beschäftigte er sich mit Philosophie und äußerte die Absicht, dieses Studium zu seinem Berufsziel zu machen. LZ 2260 Joseph Hillebrand: Hörerschein für Georg Büchner Im Sommersemester besuchte Büchner zwei – den frühen Biographen anscheinend unbekannte – Lehrveranstaltungen. Für die eine bescheinigte ihm der Philosophieprofessor Joseph Hillebrand die erfolgreiche Teilnahme. LZ 2255 Carl Vogt: Erinnerungen an Büchner Dass er außerdem eine anatomische Übung bei Friedrich Wernekinck besuchte, bezeugte später der Kommilitone Carl Vogt. Seitdem war das Doppelstudium Philosophie und Anatomie sein durchgehendes Beschäftigungsfeld.

LZ-4260 Ludwig Büchner, Biographische Darstellung Im Darmstädter Wintersemester beschäftigte sich Georg Ludwig Büchner zufolge »fortwährend« mit »Naturwissenschaften, sowie mit Philosophie«, hielt außerdem »im Auftrage seines Vaters, anatomische Vorlesungen«, und auf »seinem Arbeitstische« lagen nicht medizinische Lehrbücher, sondern »anatomische Tafeln und Schriften«.
– Bei seiner Ankunft in Frankreich am 9. März 1835 beruhigte er die Eltern hinsichtlich seiner Studienpläne mit dem Satz, er werde »das Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben«.9. März 1835. An die Eltern in Darmstadt
– Im Oktober 1835 schrieb er den Eltern von seiner Suche »nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand«. Oktober 1835. An die Eltern in Darmstadt
– Im Herbst 1835 entstanden vermutlich sein erstes Spinoza-Skript sowie die Grundlagen für die Abhandlung über die Schädelnerven.
– Im Sommer 1836 beförderte er die Abhandlung zum Druck und verfasste gleichzeitig die Vorlesungsskripten über Descartes und Spinoza.
– Am 2. September schrieb er seinem Bruder, er habe sich »jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt«. 2. September 1836. An Wilhelm Büchner in Darmstadt
– Als er nach Zürich kam, wussten die Studenten von ihm bereits, LZ 4235 August Lüning»daß er bis vor Kurzem noch ungewiß gewesen war, ob er sich der spekulativen Philosophie (über Spinoza hatte er eingehende Studien gemacht) oder der beobachtenden Naturwissenschaft zuwenden solle.«

Büchner betrieb dieses Doppelstudium mit Wissen des Vaters. Wie dieser dazu stand, lässt sich einem Brief der Mutter vom 30. Oktober 1836 entnehmen. Der Dekan der Züricher philosophischen Fakultät, Johann Georg Baiter, hatte gerade darauf bestanden, dass Büchner nicht wie von ihm gewünscht eine philosophische, sondern vielmehr eine anatomische Vorlesung halten solle, und natürlich war Ernst Büchner damit sehr einverstanden. Caroline Büchner, die Mutter, schreibt:

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Caroline an Georg Büchner, 30. Oktober 1836 (Ausschnitt; Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar)

Er stimmt ganz mit Beiter überein und ermahnt
Dich dringend ja über vergleichende Anatomie Vorlesungen zu halten, er
glaubt sicher, daß Du darin am ersten einen festen Fuß fassen und Dich
am ehrenvollsten emphor helfen könntest. 30. Oktober 1836. Von CarolineBüchner nach Zürich

Am 20. Dezember 1836 machte Ernst Büchner dann klar, dass ihm eine Qualifikation in Mathematik sehr recht gewesen wäre, dass er aber auch die Spezialisierung in Zoologie und vergleichender Anatomie für aussichtsreich halte. Er schickte dem Sohn eine Züricher Stellenausschreibung in Mathematik und bemerkte:

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Ernst an Georg Büchner, 20. Dezember 1836 (Ausschnitt;
Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar)

Hättest du früher meinen so wohlgemeinten Rath befolgt und dich mehr mit Mathematik beschäftigt, so könntest du vieleicht iezt mit concurriren. Doch dieß sey blos nebenher bemerkt. Deine Abhandlung hat mir recht viel Freude gemacht, und nicht weniger war ich erfreut über deine Creirung zum doctor der Philosophie, so wie überhaupt über deine gute Aufnahme in Zürich. […]
Ich bin recht begierig zu hören, wie es dir bisher mit
deinen Vorlesungen ergangen und worauf besonders
dein weiterer Plan gerichtet ist. Zoologie u vergleichende
Anatomie sind Felder worin noch viel zu kennen ist
und wer Fleiß darauf verwendet dem kann es nirgends
fehlen merks tibi. 18. Dezember 1836. Von Ernst Büchner nach Zürich

Wie schon gesagt gewichtete Ernst Büchner die Disziplinen nach Chancen des Broterwerbs, vielleicht auch nach der Menge noch bestehender Erkenntnislücken. An den Enden der Skala standen die brotlose Philosophie und die brotsichere Medizin. Irgendwo dazwischen standen »Zoologie u vergleichende Anatomie«, zwei »Felder worin noch viel zu kennen ist«. Sie waren für Ernst Büchner nicht erste Wahl, aber doch akzeptabel. Dagegen »ermahnte« er den Sohn »dringend«, von der Philosophie Abstand zu nehmen. Ob man das einen Vater-Sohn-Konflikt nennen kann, scheint mir zweifelhaft. Wenn es einer war, so hat sich der Sohn jedenfalls durchgesetzt. Zwar spezialisierte er sich in Zürich auf vergleichende Anatomie, aber damit folgte er nicht dem Wunsch des Vaters, sondern reagierte auf die Stellensituation an der Universität.

Anmerkungen

  • [1] Karl Emil Franzos (Hrsg.): Georg Büchner’s Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1879, S. CLXXI f.
  • [2] Die unmittelbar folgenden Angaben verdanke ich einer nachgelassenen Schrift von Thomas Michael Mayer.
  • [3] Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr. Vor, während und nach. Von einem der nicht mehr toll ist. Erinnerungen, Gießen 1900, S. 115-117.
  • [4] Carl Vogt: Aus meinem Leben, Stuttgart 1896, S. 167.

Text: Burghard Dedner November 2016