2.6. Georg Büchner, ein „Vergötterer der Revolution“
LZ 1660 Alexis Muston, Journal d’étudiant Büchner wurde im Herbst 1833 in Darmstadt von seinem Straßburger Freund Alexis Muston, besucht. Muston bezeichnete Büchner später als „idolâtre de la révolution“, als „Vergötterer der Revolution“.
Die überlieferten Zeugnisse bestätigen diese Charakterisierung. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich Büchner je grundsätzlich kritisch zur Französischen Revolution geäußert hätte. Seine Kenntnisse von diesem Ereignis reichen weit zurück.
Büchners Großeltern mütterlicherseits, Johann Georg Reuß und Louise Reuß, hatten nach der Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch Revolutionstruppen 1793 ihren Wohnsitz in Pirmasens aufgeben müssen; die Französische Revolution war also Teil der Familienerinnerung (vgl. Marburger Büchner Ausgabe III.2, S. 159 f.). Mit der Revolutionsgeschichte vertraut wurde Georg Büchner außerdem durch die Lektüre von Johann Konrad Friederichs Unsere Zeit, einem populären zeitgeschichtlichen Sammelwerk in Fortsetzungsheftchen.
LZ 3430 Wilhelm Büchner an Franzos 1878 In Büchners Familienkreis war Unsere Zeit Gegenstand gemeinsamer abendlicher Lektüre. Büchner kannte daher zum Beispiel eine Rede, in der Robespierre im Juli 1789 die Erhängung eines besonders verhassten Aristokraten durch Pariser Sansculotten mit folgenden Worten gerechtfertigt hatte:
Was will dieß heißen, gegen die Greuel, welche der Despotismus seit zwei Jahrhunderten verübt hat? Armes tugendhaftes Volk [...], will man Dich bestrafen, daß Du Dich einen einzigen Tag für so viele Schandthaten, die man an Dir verübt hat, gerächt hast? (Unsere Zeit, Bd. I, S. 309; vgl. Reinhard Pabst 1990, S. 263 f.).
Büchner übernahm fast wörtlich Teile dieser Rede in seinen Helden-Tod-Aufsatz (1829) Schülerschriften . Er nannte darin die Französische Revolution einen "Kampf"
der die (Menschheit) in ihrer Entwickelung um mehr denn ein Jahrhundert in gewaltigem Schwunge vorwärtsbrachte, der in blutigem aber gerechtem Vertilgungs-Kampfe die Greuel rächte, die Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der leidenden Menschheit verübt [...].
Eine Spur aus dieser Rede findet sich dann wiederum in der Szene I/2 von Danton’s Tod (I/2). Robespierre sagt:
Armes, tugendhaftes Volk! Du thust deine Pflicht, du opferst deine Feinde. Danton’s Tod
In dem genannten Schulaufsatz bezeichnete Büchner die Französische Revolution außerdem als den – nach der Reformation – „zweite[n] Act, des großen Kampfes, den die Menschheit gegen ihre Unterdrücker kämpft“. Schülerschriften
LZ 1220 Luck an FranzosÜber die „letzte Gymnasialzeit“ ist weiterhin überliefert, dass Büchner und sein Freund Karl Minnigerode „sich nur mit den Worten zu grüßen pflegten: Bon jour citoyen“.
Die Anrede „citoyen“ war nach Gründung der Republik 1792 unter französischen Jakobinern üblich geworden.
In der Straßburger Studentenverbindung „Eugenia“ heißt es über Büchner: LZ 1410 Studentenverbindung „Eugenia“
[D]ieser so feurige u so streng republicanisch gesinnte deutsche Patriot, schleudert einmal wieder, alle mögliche Blitze u Donnerkeule, gegen alles was sich Fürst u König nennt.
Auch diese Charakterisierung war eng verbunden mit der Tradition der Französischen Revolution oder genauer: der Französischen Republik von 1792. Sie wird bestätigt durch Büchners Äußerung im Brief vom Dezember 1831, er werde, falls „die Russen über die Oder gehn“, sich zum Militär melden, und zwar notfalls in Frankreich. Er erwartete sich von dem kommenden Krieg das Ende der „allerdurchlauchtigsten und gesalbten Schafsköpfe“, also der Fürsten in Deutschland. Dezember 1831. An die Eltern in Darmstadt
Sozialrevolutionäre Gesellschaften in Frankreich Die erste Vereinigung, die sich „Société des droits de l´homme et du citoyen“ („Gesellschaft der Menschen- und Bürgerrechte“) nannte, war der im April 1790 gegründete „Club des Cordeliers“, dem u. a. Jean-Paul Marat, Georges Danton, Camille Desmoulins und Jacques-René Hébert als Mitglieder angehörten.
Die nach 1832 in Frankreich dominierende sozialrevolutionäre „Société des droits de l’homme“, der Georg Büchner in Straßburg als Mitglied oder Sympathisant angehörte, stellte sich also schon durch ihren Namen demonstrativ in diese Tradition des radikalen französischen Jakobinismus, und nichts anderes tat auch Büchner, wenn er in Gießen und Darmstadt Sektionen der „Gesellschaft der Menschenrechte“ gründete.
Verbindliches Basisdokument dieser Geheimgesellschaft war die Menschenrechtsklärung in der von Maximilien Robespierre vorgeschlagenen Fassung vom 21. April 1793. Daneben standen Rückgriffe auf die radikalere Gruppierung um Gracchus Babeuf und seine „Verschwörung der Gleichen“ (1795).
HL Dok. 7.6. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung 1842 Auch Büchner scheint sich in der Darmstädter „Gesellschaft der Menschenrechte“ der Menschenrechtserklärung in Robespierres Fassung bedient zu haben. Adam Kochs Aussage, das Ziel der Gesellschaft habe in der „Herbeiführung einer völligen Gleichstellung Aller“ bestanden, lassen erkennen, dass Büchner die radikaleren Programme in der Nachfolge von Babeuf jedenfalls nicht fremd waren.
Die „Gesellschaft der Menschenrechte“ in Gießen Dasselbe zeigen Gustav Clemms und August Beckers Äußerungen über kommunistische Tendenzen in der Gießener Sektion
An die Französische Revolution knüpft auch der Hessische Landbote mehrfach an. Das Motto der Flugschrift lautete „Friede den Hütten! Krieg den Pallästen“. So lautete der offizielle Schlachtruf der Revolutionstruppen im Januar 1792 nach dem Überschreiten der französischen Grenze. Der Hessische Landbote
7.6. Burghard Dedner: Büchners Ansichten über revolutionäre Gewalt Auch in seinem Exkurs über die Französische Revolution äußert sich der Landbote positiv nicht nur zur Erklärung der Menschenrechte und zum Prozess gegen Ludwig XVI., sondern auch zu den folgenden Revolutionskriegen:
Die junge Freiheit wuchs im Blut der Tyrannen und vor ihrer Stimme bebten die Throne und jauchzten die Völker. Der Hessische Landbote
In Danton’s Tod (III/4) gebraucht Danton wenig später ähnliche Metaphern:
Ich habe im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristocraten geätzt. Danton’s Tod
Als Büchner schließlich im März 1835 nach Straßburg flüchtete, schrieb er an Karl Gutzkow – nur halb im Spaß –, er wünsche sich „dabei“ zu sein, „wenn noch einmal das Münster eine Jacobiner-Mütze aufsetzen sollte“, eine Anspielung auf die Überkrönung des Münsters mit einer vier Meter hohen blechernen Jakobinermütze im Frühjahr 1794. Mitte März 1835. An Karl Gutzkow in Frankfurt am Main
Straßburg, Münster mit Jakobinermütze, Nachbildung auf einem Wirshausschild (Foto: "Schlagetter-p. de")
Aus diesen durchweg positiven Urteilen über die Französische Revolution einschließlich der von Robespierre ausgehenden Traditionen folgt allerdings nicht, dass Büchner auch die „terreur“ der Jahre 1793 und 1794 bejaht hätte. In der Nachfolge der „Société des droits de l’homme“ unterschied etwa Louis Blanc zwischen zwei Seiten Robespierres: den politischen Theoretiker schätzte er, den Politiker der „terreur“ lehnte er ab (vgl. Marburger Büchner Ausgabe II.2, S. 344). Büchner nahm möglicherweise einen ähnlichen Standpunkt ein.
7.2. Burghard Dedner: Der Fatalismusbrief Im Januar 1834 „studirte“ Büchner, wie er an Minna Jaeglé schrieb Nach Mitte Januar 1834. An Wilhelmine Jaeglé in Straßburg, „die Geschichte der Revolution“. Er bezog sich dabei vermutlich auf die Lektüre von Louis Adolphe Thiers’ Standarddarstellung Histoire de la Révolution française (Paris: Lecointe et Durey 1823–1827). Wohl mit Blick auf den Regierungsterror schrieb er: „Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser.“ Zugleich zeigte er sich „zernichtet“ angesichts der Schilderungen von nicht mehr steuerbarer Gewalt, die im Verlauf der Revolution zutage trat.
In Danton’s Tod bedient sich Danton – jetzt in der Erinnerung an die Septembermorde – ganz ähnlicher Begriffe. Danton’s Tod
In einem späteren Brief an die Eltern vom 16. Juli 1835 kontrastiert Büchner dann die Anwendung von Gewalt gegen politische Gegner im revolutionären Frankreich mit jener in den deutschen Gefängnissen. Dort heißt es: „Ein Todesurtheil, ein Schaffot, was ist das? Man stirbt für seine Sache. Aber so im Gefängniß auf eine langsame Weise aufgerieben zu werden! Das ist entsetzlich!“ 16. Juli 1835. An die Eltern in Darmstadt
Text: Burghard Dedner (Juni 2014/Dezember 2015), zuletzt bearbeitet: Januar 2017