3.4. Einleitung zu: Übersetzungen
Vermutlich im April 1835 fragte der Verleger Johann David Sauerländer bei Büchner an, ob er an der vom Sauerländer-Verlag geplanten 19-bändigen Ausgabe der Werke Victor Hugos in deutscher Übersetzung mitarbeiten wolle. Die Anregung für diese Anfrage kam von Karl Gutzkow, der die Ausgabe betreuen und ein Vorwort dafür schreiben sollte. Büchner informierte Gutzkow von diesem Angebot, dieser riet jedoch ab. Büchner, so meinte er, solle sich literarisch einen Namen durch „Originale“ schaffen und sich nicht mit Übersetzungen verzetteln. 7. April 1835. Von Karl Gutzkow nach Straßburg
Dennoch nahm Büchner – vermutlich Anfang Mai – Sauerländers Angebot an und verpflichtete sich, für ein Honorar von 100 Gulden Hugos Dramen Lucrèce Borgia und Marie Tudor (beide Erstdruck 1833) zu übersetzen. Am 16. Mai wurde er im Verlagsprospekt erstmals öffentlich als Mitarbeiter genannt. Ende Juni oder Anfang Juli schrieb er den Eltern: „Mit meiner Uebersetzung bin ich längst fertig.“ Ende Juni / Anfang Juli 1835. An die Eltern in Darmstadt
Etwa am 10. Oktober erschienen die zwei Dramen als Band 6 von Sauerländers Hugo-Gesamtausgabe (Victor Hugo: Sämtliche Werke. 19 Bände. Frankfurt a. M. 1835–1842).
Victor Hugo, für manche bis heute der bedeutendste französische Dichter, hatte sich zunächst als Romanschriftsteller (seit 1823) und als Lyriker (etwa seit 1825) einen Namen gemacht. Sein internationaler Erfolgsroman Notre Dame erschien 1831. Im Jahre 1827 veröffentlichte er das (seinerzeit nicht bühnentaugliche) Drama Cromwell mit einem programmatischen Vorwort Préface de Cromwell. In ihm verwarf er die in Frankreich noch vorherrschenden klassizistischen Konventionen, sprach sich für Shakespeare aus und verlangte vom Theaterdichter, er solle die auch im Leben dominierende Mischung des Grotesken und des Erhabenen auf die Bühne bringen. Hugos folgendes Drama Hernani löste einen Theaterskandal und die berühmte „Schlacht um Hernani“ aus, bei der sich die junge Generation romantischer Dichter gegen die Klassiker durchsetzte (Frühjahr 1830). Es folgten die Versdramen Marion de Lorme und Le roi s’amuse und schließlich 1833 die beiden Prosadramen, die Büchner übersetzte.
Die jungdeutschen Autoren verfolgten die von Hugo hervorgerufene französische Theaterrevolution mit Interesse. Sie sahen im Theater ein wichtiges Mittel für die Verbreitung ihrer Ideen und ästhetischen Vorstellungen. Hugo erschien ihnen modellhaft als anerkannter Künstler, dem es gelang, in einem populären Medium zu wirken und dabei noch wohlhabend zu werden. Auch die deutschen Bühnen begannen sich für die Stücke zu interessieren, und Übersetzungen wurden in größerer Menge publiziert. Gleichzeitig mit Sauerländer annoncierte der Stuttgarter Verlag L. F. Rieger eine auf „etwa zwanzig Bändchen“ berechnete deutsche Gesamtausgabe, und als Büchner mit der Übersetzung von Lucrèce Borgia begann, hätte er bereits vier schon vorliegende deutsche Übersetzungen zum Vergleich heranziehen können. Auch für Marie Tudor lagen drei Übersetzungen bereits vor; eine vierte erschien im Herbst 1835 etwa gleichzeitig mit der von Büchner. Allerdings war um diese Zeit das Interesse der französischen Theater an Hugos Dramen schon im Abklingen, und auch in Deutschland überwogen inzwischen die kritischen Stimmen.
Gutzkow erklärte Büchner in seinem Brief vom 12. Mai 1835, mit seiner „Besorgung einer Uebersetzung V. Hugos“ wolle er keineswegs „eine große Verehrung vor der romantischen Confusion in Paris an den Tag legen“. Sein scheinbares Engagement für Hugo sei nur eine „Gefälligkeit für einen Buchhändler, der auf mein Anrathen auch Sie ins Interesse gezogen hat“. 12. Mai 1835. Von Karl Gutzkow nach Straßburg
LZ 4570 Karl Gutzkow Büchner hatte sich zuvor schon abfällig über Hugo geäußert. Gutzkow referierte die ihm nicht mehr vorliegende Briefstelle so: „Alfred de Musset zog ihn an, während er nicht wußte, ‚wie er sich durch V. Hugo durchnagen‘ solle, Hugo gäbe nur ‚aufspannende Situationen‘ A. de Musset aber doch ‚Charaktere, wenn auch ausgeschnitzte.‘“
Ähnlich abschätzig äußerten sich gleichzeitig oder bald danach auch andere deutsche Kritiker mit Einschluss Gutzkows über die auf heftige Kontraste und Spannungseffekte abgestellte Dramatik Victor Hugos. Dass Büchner für seine eigenen Dramen von Hugo gelernt hätte, lässt sich nicht nachweisen. Zwar ähneln Büchners theoretische Äußerungen gegen idealisierende und für shakespearisierende Dramatik den Positionen von Hugos Préface de Cromwell. Doch wäre es zu weit gegriffen, hier von einer direkten Beeinflussung Büchners durch Hugo zu sprechen. Einleitung zu Leonce und Lena Unter den zeitgenössischen französischen Dramatikern hat Büchner nicht Hugo, sondern Alfred de Musset geschätzt. Vor allem Mussets Komödie Fantasio (1833) hat deutliche Spuren in Leonce und Lena hinterlassen.
Literaturhinweise:
Marburger Büchner Ausgabe Bd. IV, S. 241–324.
Rosemarie Hübner-Bopp: Georg Büchner als Übersetzer Victor Hugos. Unter Berücksichtigung der zeitgleichen Übersetzungen von „Lucrèce Borgia“ und „Marie Tudor“ sowie der Aufnahme Victor Hugos in der deutschen Literaturkritik von 1827 bis 1835. Frankfurt a. M. 1990.
Text: Tilman Fischer (Juni 2014)