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Ferdinand Scriba über  Eduard Scriba. Brief an Hermann Haupt (?) vom 22.4.1899 

Hochgeehrtester Herr Professor!

In bereitwilliger Erwiederung Ihres Werten vom 15. d. M. kann ich Ihnen in Betr. Gießer Burschenschaft leider nur sehr wenig Material aus dem Leben meines Bruders Eduard darbringen. Derselbe bezog mit 18 Jahren (1826) die Universität Gießen, studierte zunächst Jura, und von 1829-32 Theologie mit Unterbrechung von 1828, wo er wegen Teilnahme an einer verbotenen Verbindung mit etwa 50 Leidensgenossen relegiert war, und von 1830, als er als Hausgenosse von Ernst Moritz Arndt in Bonn studierte. Im Jahre 1831 nach Gießen zurückgekehrt, wurde er daselbst 1832 nach wohlbestandenem schriftlichem, nur noch des mündlichen ermangelnden Examen abermals, und zwar damals ohne besondere gerichtliche Untersuchung, nur nach der „moralischen Überzeugung“ des Universitätsgerichts (Arends) mit 6 anderen in gleicher Verdammnis stehenden Kommilitonen relegiert, und damit seine hessische Laufbahn in Staat und Kirche zertrümmert. – Was ich aus jener Zeit teils aus meines Bruders eigenen Erzählungen, teils aus dem Munde nahe- stehender Freunde, teils auch schon aus eigener Anschauung sonst noch weiß, erlaube ich mir Ihnen, wie es mir gerade noch einfällt hier ergebenst mitzuteilen.

 Die erste Verbindung, zu der mein Bruder gehörte von 1826-28 nannte sich „Waffenverbindung“ und trug die Farben: blau-rot-gold. – Sie war damals wohl noch vorwiegend, wie sie hieß, eine „Waffenverbindung“, bei der das Duell eine Hauptrolle spielte. Mein Bruder, der damals für den stärksten und besten Schläger galt, hat viele Duelle und meist siegreich ausgefochten, auch nach damaliger Sitte an anderen Universitäten wie Heidelberg, Bonn, Würzburg etc. Gastrollen gegeben, wovon er auch mir, dem 10 Jahre jüngeren, in seiner lebhaften, begeisternden Weise gerne erzählte und die Kampflust und den großen Respekt vor ihm frühe in mir weckte, wo zu die Narben auf seiner Brust und Schulter und die größere auf seinem Kopfe nicht wenig beitrugen. Ob diese „Waffenverbindung, wie mir nachgerade scheinen will, nicht doch schon eine nur maskierte Burschenschaft war, bleibe dahingestellt, jedenfalls hielt sie sich nach außen hin frei von politischen Tendenzen; aber sicherlich war sie durch strenges Halten auf Sittenreinheit, auf turnerische Übungen und tapfere Schlagfertigkeit die geeignetste Vorarbeit für die Burschenschaft. Diese bildete sich nun bald nach der Rückkehr meines Bruders nach Gießen, – vielleicht auch unter dem anregenden Einfluß Arndts in Bonn – heraus mit dem schwarz-rot-goldenem Bande, das heimlich auf dem bloßen Leibe oder doch unter den Unterkleidern getragen, und nur in ganz verschwiegenen Kreisen, wol auch wenn ich recht brav war, je und je mir, als Heiligtum gezeigt wurde. An den schwarzen Mützen trug man das rot-gold durch eine schwarze Borde verdeckt. Die Demagogenriecherei ging damals so weit, daß sich so zu sagen – in allen Stunden, so gar unter den Demagogen selber Angeber fanden, welche die Augen der Polizeibehörden auf diesen oder jenen Verdächtigen lenkten. Ich trug damals in der Tertia u Sekunda in Büdingen eine von meinem Bruder abgelegte, schwarze Mütze, – das war Grund genug, den Zorn und die Verdächtigung eines meiner Lehrer auf mich zu ziehen, und in das Abgangszeugnis des 14jährigen Knaben schrieb deshalb, wie zu meiner Legitimierung der mir wohlgesinnte Direktor Tudichum: „einer Hinneigung zu ungebürlichem, politischem Treiben hat er sich nicht schuldig gemacht.“

Derartige häßliche Demagogenriecherei und Quälereien erklären es auch teilweise, weshalb die Burschenschaft, zumal nach dem polnischen Aufstand und den politischen Ereignissen in Belgien und Frankreich so rasch eine politische Färbung annahm. Bald flutete sie nicht bloß über die Grenzen des sogenannten, engeren Bundes in die weiteren Kreise, sondern erfaßte auch die bedeutenderen Leute unter den Corps, wie z. B. Schüler Rosenstiel, etc. und suchte und fand Fühlung in der Bürgerschaft und in Professoren- und Beamtenkreisen. Es kam jetzt zu größeren Versammlungen und Verbrüderungen, wie denn auch eine solche – irre ich nicht – auf dem Gleiberg standfand, wobei mein Bruder, um die aufgeregte Masse von Excessen in der Stadt abzulenken, von der Lahnbrücke in begeisterter und begeisternder Rede die Menge aufforderte: Arm in Arm und patriotische Lieder singend in die Stadt einzuziehen, was den äußeren Anlaß zu seiner Relegation gab.

Von da ab war mein Bruder in Verbindung mit anderen Führern, insbes. Weidig in Butzbach, Dr. Gerth in Frankfurt p.p. zum Verschwörer geworden. Bald nach seiner Relegation fand er eine Hauslehrerstelle auf dem gräfl. stoltenbergischen Hofgute Neuhof (Luisenlust) bei dem dortigen Gutsverwalter Hildebrand. Dort und in der Umgebung gelang es seinem Enthusiasmus bald, Propaganda für seine Ideen zu machen, und namentlich einige einflußreiche Personen, wie z. B. den Hüttenbesitzer B. zu gewinnen, der auch nochmals in der Ständekammer manch gutes, kräftiges Wort gesprochen.

Ende 1832 reiste er mit dem damals in Burkhards als Hauslehrer beschäftigten alten Burschenschaftler August Becker, dem in 1848 berümt u berüchtigt gewordenen sogen. „Bartbecker“ nach Gießen. Mich nahmen die beiden mit. Man konnte sich schon auf meine Verschwiegenheit und meinen Eifer für die „gute Sache“ verlassen. Überall, wo sich irgend Gelegenheit fand, wurden die Bauern haranguiert. In Reiskirchen, wo wir Abends eintrafen, fanden wir die ganze Wirtsstube voller Leute. Die glühenden Freiheitsreden riefen helle Begeisterung hervor, die aber wahrscheinlich gleich nach unserem Weggang ebenso schnell wieder verdampfte. In Gießen musste sich mein Bruder, weil noch unter dem Banne der Relegation stehend, geheim halten. Wir logierten damals bei dem intimen Freunde meines Bruders, dem hochbegabten stud. philol. Hermann Wiener von Darmstadt, der späterhin ebenfalls in die politischen Umtriebe verwickelt in die Schweiz flüchtete, und dort vor 2 Jahren als Professor der griechischen Sprache in Lausanne gestorben ist, dessen Freundschaft ich nach dem Tode meines Bruders geerbt und bis an sein Ende treu gehegt und gepflegt habe. Wiener wohnte damals in einem isoliert stehenden Nebengebäude des Oberbaurat Hofmann’s Hofreithe gleich links am Seltersberger Thorhaus. Trotz des strengen Inkognitos meines Bruders und der Weihnachtsferien ging es doch in den paar Tagen unseres Hierseins wie in einem Taubenschlag. Die Neujahrsnacht brachten wir auf der Burschenschaftskneipe (ich glaube Café Ebel) zu. Ein falscher Bart machte meinen Bruder unkenntlich. Patriotische Lieder wechselten mit patriotischen Reden und geheimnisvollen Plänen und Mitteilungen. Es war mehr ein revolutionärer Club als eine studentische Kneipe.

Bei Gelegenheit dieser Reise waren wir auch einige Tage in Butzbach bei Weidig, dem eigentlichen Haupte der Freiheitsleute. Die Namen Kuhl, ZeunerBraubach sind mir von dort noch im Gedächtnis geblieben. –

Bald darauf begannen in der Nähe und Ferne die Vorbereitungen zu dem Frankfurter Attentat am 3ten April 1833, ebenso kindisch unklug und hoffnungsreich begonnen, als kläglich gescheitert. Der Reaktion bot es die willkommene rechtliche Handhabe zur Unterdrückung und Verfolgung der hochgesunden Freiheitsbestrebungen. Meinem Bruder gelang es sich der Einkerkerung auf eine schier wunderbare Weise durch die Flucht in die Schweiz zu entziehen. Dort brachte er als Präses des „sogen[?]jungen Deutschlands“ diese vorzugsweise meist aus deutschen Handwerksgesellen zusammengesetzte, revolutionäre Verbindung von kleinem Anfang zu großer Blüte. Es war gedacht: Die jungen Leute, sollten wieder in die Heimat zurückkehren, sich dort als Meister festsetzen und so aller Orten den Revolutionsgeist weiter ausbreiten.

Für meinen Bruder hatte diese entfachte Handwerkerbewegung die Wirkung, daß er auf Betrieb der heiligen Allianz aus der Schweiz ausgewiesen wurde. Das geschah im Oktober 1836. Ich war seit ¼ Jahr zu ihm gekommen, und die Schweizer Behörden waren so gütig, mich mit ihm auszuweisen. So wurden wir auf Kosten Frankreichs von Gendarmen, und durch 18 Gefängnisse als Nachquartier durch Frankreich transportiert und in England freigegeben. Nach achtwöchentlichem Aufenthalt in London waren uns zwei Lehrerstellen in Liverpool in dem großen Knabeninstitute des alten Burschenschaftlers vom Jahre 1817-19 Karl Völcker zugesagt. Am Weihnachtsabend kamen wir dort an, und am 4ten Januar 1837 starb mein Bruder an den schwarzen Blattern im 29ten Lebensjahre. Ich übergehe den Schmerz, der mir das Herz zerriß. Er wäre doch nicht zu beschreiben. – Noch 2 ½ Jahre blieb ich in Liverpool. Im Sommer 1839 kehrte ich wieder nach Deutschland zurück. Die Wogen der Revolution hatten sich beruhigt, die burschenschaftlichen Bewegungen auf den Universitäten waren erloschen. Als ich im Früjahr 1840 die Universität Gießen bezog, war keine Spur davon zu finden. Das Treiben der Corpsverbindungen, die damals aufkamen, war weit entfernt von dem sittlich reinen Geiste der alten Burschenschaft und noch weiter von der Politik. –

Die wachgerufene Erinnerung an alte Zeiten, vielleicht auch die garrulitas senilis, hat mich weiter geführt, als ich wollte. Verzeihen Sie, hoch verehrter Herr Professor, diese Weitschweifigkeit und ziehen Sie ab und heraus, was in ihren Plan gehört und paßt. Schriftliche Aufzeichnungen meines Bruders aus seiner Studentenzeit sind keine vorhanden, unter den wenigen aus seiner 3jährigen Schweizer Flüchtlingszeit befinden sich in meinem Besitz ein gutes Miniaturbild von ihm in Bleistiftzeichnung von de Schwanden, und eine weniger gute Copie in Pastell von dem selben Meister (das Original hat sich mein Neffe, der Pfarrer Ellenberger in Ortenberg zugeeignet), sodann 2 große Reisebeschreibungen durch die Schweiz, – die eine im Jahre 1834 mit seinen Lausanner Institutsknaben, die andere im Jahre 1835 mit seinem eben erwähnten Freunde H. Wiener (beide für seine Braut Elise Lang, nachmals verehelichte Dr. Jost und erst vor 2 Jahren gestorben, verfaßt, beide dieser von starker, persönlicher Färbung in glänzend blühender Sprache, in letzterer sieht man überall die Fäden der ausgesponnenen Verschwörungspolitik hervorleuchten.) Ein Stück Frankfurter Journal nebst den bezeichnenden Steckbriefen, sowie eine Abschrift aus der schwarzen Liste des Bundestags über die Flüchtlinge lege ich bei (letztere bitte ich mir gelegentlich zurück) ein ganz nettes Geburtstagsgedicht in Hexametern vom Jahre 1835 kann ich Ihnen, wenn Sie es wünschen, noch abschreiben und nachsenden.

Die verwandtschaftlichen Beziehungen, die Sie so freundlich am Schlusse ihres lieben Briefes erwähnen, sind mir eine Ehre und Freude, und ich hoffe, wenn ich jetzt D. V. gleich nach Pfingsten mein Domicil in Laubach aufgeschlagen haben werde, Ihnen soweit entgegengekommen zu sein, daß, da ich bei meinem 81jährigen Altersgebresten, Sie nicht in Gießen aufsuchen kann, wir doch die jetzt schriftlich angeknüpfte, gegenseitige Bekanntschaft dann auch in Laubach angenehm erweitern können. In dieser Hoffnung verbleibe ich mit vetterlichem Gruß

Ihr ergebenster

Ferdinand Scriba Pfr.

Sprendlingen, Kr. Offenbach 22.4.1899

 

Transkribiert unter Beibehaltung der Rechtschreibung und Zeichensetzung von Regine Cöster-Bondick im März 2021. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Familienbundes Scriba/Schreiber e. V.

Anmerkungen:

  • Ferdinand Scriba schrieb den Brief vermutlich an Herman Haupt, der in „Hessische Biographien“ (2. Bd., Darmstadt 1927, S. 109-111) eine ausführliche Biografie über Eduard Scriba aufgenommen hat. Als Quelle wird dort u. a. angegeben: „Briefliche Mitteilungen und Tagebücher des verstorbenen Bruders, Pfarrer Ferdinand Scriba“.
  • Zu der von Ferdinand Scriba beschriebenen Wanderung mit seinem Bruder Eduard und August Becker von Burkhards nach Gießen vgl. Eberhard Kickartz: „Der Rote Becker“ – Das politisch-publizistische Wirken des Büchner-Freundes August Becker (1812-1871). Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 110. Darmstadt und Marburg 1997 (Diss. Universität Bochum) S. 20: Becker hatte „1832 ... eine Stelle als Hauslehrer bei der Familie des Steuereinnehmers Karl August Höflinger in Burkhards angenommen“ – Beckers Aussage in einem Polizeibericht 1835.
  •   In Burkhards lebte ab 1830 Eduards und Ferdinands Schwester Amalie mit ihrer Familie. Sie war mit Konrad Koch verheiratet, der etwa 10 Jahre Pfarrer in Burkhards war. Die Scriba-Brüder waren der Familie Koch eng verbunden (vgl. Federflug 23, Kapitel 2, ab S. 22 und Kapitel 7.3, ab S. 109).
  • Die von Ferdinand Scriba erwähnte Reisebeschreibung „Eduard Scriba: Reise durch die Schweiz im Spätsommer 1835 mit Hermann Wiener“ ist als Federflug 24  vom Familienbund Scriba/Schreiber e. V. 2019 veröffentlicht.