3.7. Einleitung zu: Woyzeck

Woyzeck

Zum Stoff

Büchners unabgeschlossen gebliebenes Drama Woyzeck zeigt einen Mordfall und seine Vorgeschichte. Woyzeck Qu-Dok 3 Philipp Bopp, Meuchelmord Vor allem zwei historische Vorlagen haben Spuren im Drama hinterlassen:  die Ermordung des Druckereigesellen Bernhard Lebrecht durch den verschuldeten Schustergesellen und Soldaten Johann Philipp Schneider bei Darmstadt am 15. April 1816 Woyzeck Qu-Dok 1 Clarus, Zurechnungsfähigkeit und der Eifersuchtsmord des arbeitslosen Perückenmachers und ehemaligen Soldaten Johann Christian Woyzeck an der Witwe Johanna Christiane Woost in Leipzig am 2. Juni 1821. 

Während der Fall Schneider für Büchner bei der Darstellung der Szenenfolge ‚Mord’ (H1,15-21) Woyzeck relevant wurde, gewann der Fall Woyzeck, der zunächst eine geringere Rolle spielte, während der Arbeit an dem Drama so zentrale Bedeutung, dass Büchner seiner Hauptfigur den Nachnamen „Woyzeck“ gab. Damit bezog er sich explizit auf ein juristisches Verfahren, das einer breiteren Öffentlichkeit durch die Debatte über die Zurechnungsfähigkeit des Täters bekannt geworden war.

Der historische Johann Christian Woyzeck war durch den Leipziger Stadtphysikus Johann Christian August Clarus begutachtet und für schuldfähig erklärt worden. Er wurde daraufhin am 22. Februar 1822 zum Tode verurteilt. Die für den 13. November 1822 anberaumte Hinrichtung musste jedoch wegen Zeugenaussagen, die die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks erneut in Frage stellten, ausgesetzt werden. Woyzeck Qu-Dok 1 Clarus, Zurechnungsfähigkeit Nach einer weiteren Begutachtung, in der Clarus sein Erstgutachten bestätigte, wurde Woyzeck schließlich am 27. August 1824 auf dem Leipziger Marktplatz hingerichtet.

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Das 1825 publizierte zweite Gutachten von Clarus rief in der Fachwelt heftigen Widerspruch hervor. Clarus hatte  moralisierend argumentiert und den Mord als Folge von „Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmäßige[r] Befriedigung der Geschlechtslust [...]" beurteilt. Woyzeck hatte Stimmen gehört; Clarus erklärte dies mit Bluthochdruck am „rechten Ohre“. Woyzeck Dok 21 Carl Moritz Marc 

Liberale Psychiater wie etwa Carl Moritz Marc oder Christian August Grohmann kamen anhand der von Clarus gelieferten Anamnese und Beschreibung der Symptome Woyzecks zu dem entgegengesetzten Urteil. Ihres Erachtens nennt Clarus in seinem Gutachten genügend somatische und psychische Ursachen, um auf eingeschränkte Willensfreiheit bzw. Schuldunfähigkeit zu erkennen. Woyzeck Dok 64 Johann Baptist Friedreich Diese Argumentation der liberalen Psychiatrie kulminierte im Systematischen Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger (1835) des Psychiaters Johann Baptist Friedreich in der Aussage, bei Woyzecks Hinrichtung habe es sich um einen „schauderhaften Justizmord“ gehandelt. 

Büchners Drama partizipiert an dieser Debatte. Es zeigt von der ersten Szene an Woyzeck als einen psychisch gestörten Menschen, und zeigt außerdem die Lebensumstände, die diesen Menschen zerstören. Der Protagonist ist einer Vielzahl von Angriffen auf seine Psyche und Physis ausgesetzt: Armut, Arbeitshetze, das ausbeuterische Militärsystem, ideologische und religiöse Normen und Verhaltensanforderungen, soziale und sexuelle Demütigungen sowie ein ausgedehntes Ernährungsexperiment werden in ihren Wirkungen auf ihn vorgeführt. Letzteres degradiert Woyzeck nicht nur zum Versuchstier, sondern ist auch von zentraler Bedeutung für seine psychische Erkrankung und die damit einhergehenden Halluzinationen, die ihn schließlich zur Mordtat treiben. Woyzeck Woyzeck Woyzeck Damit wird Büchners Drama zu einer kriminalistischen wie psychiatrischen Fallbeschreibung gleichermaßen, die exemplarisch das Leben eines Pauper als ausweglosen sozialen Determinationszusammenhang vorführt. Wäre es 1837 fertiggestellt und publiziert worden, hätte es als literarischer Beitrag zu Debatten um die Schuldfähigkeit von Angehörigen der Armutsschichten gelten müssen.

Quellen

Woyzeck Qu-DOK 1 Clarus Büchners Hauptquelle und die einzige, die ihm vermutlich auch beim Schreiben des Dramas vorlag, ist das zweite Clarus-Gutachten: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen. Es war 1824 als Separat-Druck und dann 1825 in der Zeitschrift für die Staatsarzneikunde publiziert worden. Im selben Jahrgang der Zeitschrift publizierte auch Büchners Vater Ernst Büchner einen Artikel. Der Jahrgang war also vermutlich im Elternhaus zugänglich, und Büchner lernte das Gutachten möglicherweise schon dort  kennen.  

Büchner orientierte sich an Clarus' ausführlicher Beschreibung von Woyzecks Krankheitsgeschichte. Dies gilt zunächst für die Anfangsszenen (H4,1 Woyzeck bzw. H2,1 und H2,2 Woyzeck ) Clarus, S.60

- Woyzeck glaubt sich von "Freimaurern" verfolgt. Dies vermerkt Clarus z. B. S. 60, außerdem S. 47, 61, S. 83 und öfter.Clarus, S. 47

- Woyzeck hat Visionen von "Feuer" "am Himmel" (so auch H4,8Woyzeck ). Hiervon spricht Clarus, S. 47. Clarus S. 64

- Woyzeck hört "Getös". Das vermerkt Clarus S. 64. Clarus, S. 46

- Woyzeck nimmt wahr, dass "es" "geht". Dass "es" "gegangen" sei, findet sich bei Clarus z. B. S. 46. Aber diese depersonalisierende Wahrnehmung findet sich auch öfter, z. B. in der Form "Es habe um ihn geschrieen" (Clarus, S. 51).

Besonders dicht ist der Zusammenhang zwischen Büchners Text und dem Gutachten in den Szenen H4,11 bis H4,13. Woyzeck Büchners Woyzeck hört zunächst im Wirtshaus, wie Marie in die Musik hinein "Immer zu" sagt, Clarus, S. 52 f.und er glaubt auf dem Heimweg und später in der Schlafstube, diese Worte zusammen mit einer Aufforderung zum Mord als Stimmen von außen zu hören. Johann Christian Woyzeck (Clarus, S. 52 f.) hatte von der bei Musik tanzenden Geliebten in der Schlafkammer geträumt, dabei die Worte "Immer drauf!" gehört. Später, als er die Tatwaffe kaufte, hörte er schließlich die Aufforderung zum Mord: "Stich die Frau Woostin todt".

Der Gutachter Clarus berichtet einerseits über all diese möglichen Krankheitssyptome durchaus gewissenhaft; andererseits präsentierte er sie so, dass sie sein Gesamturteil, Woyzeck sei psychisch gesund, nicht in Frage stellen. Hier sind einige Beispiele:  Clarus, S. 63

- Dass Woyzeck von Freimaurern phantasiert oder Spuk gesehen habe, entspreche dem verbreiteten Volksglauben (Clarus, S. 63). Clarus, S. 65

- Dass Woyzeck Stimmen gehört habe, erkläre sich durch "seine Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen" (Clarus, S. 65 f.). Clarus, S. 67

- "Dass es ihm immer vor dem rechten Ohr gesaust und gebraust" habe (und nicht vor beiden Ohren), sei ein "ganz unumstößlicher Beweis" dafür, dass "Wallungen des Blutes", also hoher Blutdruck, nicht aber eine psychische Störung die Halluzinationen verursachte (Clarus, S. 67). 

Büchner verwendete diese Informationen in gegenläufiger Intention zum Gutachter, indem er die Symptome psychischer Störung, die bei Clarus in letztlich belanglose Einzelheiten zerfallen, zu einem Gesamtbild verdichtet.

Auch Büchner nennt eine Reihe somatischer Symptome (zum Beispiel "Zittern", "es wird mir dunkel", "ungleicher Puls" unter anderem in H3,1Woyzeck ), und auch hier orientiert er sich an dem Gutachten. Aber diese somatischen Symptome entkräften nicht wie bei Clarus die psychopathologischen. Auch bietet Büchners Doktor mit seinem Ernährungsexperiment (H4,8 Woyzeck und H3,1Woyzeck ) eine somatische Gesamterklärung für Woyzecks psychischen Zustand an. Aber diese Erklärung belastet nicht wie bei Clarus den Täter Woyzeck. Was ihn krank macht, sind die sozialen Umstände, in denen er lebt, und schuldig ist der Teil der Gesellschaft, der seinen Nutzen aus dem zieht, was Woyzeck krank macht. Hierzu gehören neben dem augenscheinlich kriminellen Experiment des Arztes auch möglicherweise gut gemeinte, aber erniedrigende Bemerkungen des Hauptmanns. "Er ist ein guter Mensch", sagt der in penetranter Wiederholung (H4,5)Woyzeck . "Er habe sich daher auch geärgert, wenn die Leute von ihm gesagt hätten, daß er ein guter Mensch sey, weil er gefühlt habe, daß er es nicht sey", hatte Johann Christian Woyzeck dem Gutachter mitgeteilt (Clarus, S. 43).

Als weiteres Gutachten kannte Büchner vermutlich das von Ernst Horn im Fall Schmolling aufgrund fehlenden Tatmotivs erstellte, das im Archiv für medizinische Erfahrung im Gebiete der praktischen Medizin und Staatsarzneikunde 1820 publiziert worden war. Woyzeck Qu-Dok 3 

Ferner verwendete Büchner Philipp Bopps Bericht Meuchelmord über den Mordfall Schneider in der Bibliothek gewählter Strafrechtsfälle (1834; Erstdruck 1816). Lz 0969 Carl von Bechtold: TagebucheinträgeDen Mordfall selbst kannte er vermutlich durch mündliche Überlieferung, zum Beispiel auch dadurch dass sein Vetter Carl von Bechtold an der Ermittlung gegen den Mörder beteiligt war und das Kommando zu dessen Füsilierung befehligt hatte.


Woyzeck Qu-Dok 3 Philipp Bopp, Meuchelmord Bopps Bericht lieferte Büchner offenkundig die Struktur für den Mordkomplex in H1,15–21: vom Mord Woyzeck über die zurückgelassene Tatwaffe, den Besuch eines Wirtshauses in blutverschmierter Kleidung, die Rückkehr zum Tatort und den Versuch, die Kleider auszuwaschen, bis hin zur Entdeckung der Tat durch einen Barbier. Möglicherweise kannte Büchner auch noch Bopps Bericht Zurechenbarkeit oder nicht? über den Mordfall Dieß in der Zeitschrift für Staatsarzneikunde (1836), in dem ebenfalls die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Debatte stand.

Daneben bezog Büchner eine Fülle von Anregungen aus literarischen Werken, insbesondere aus Dramen von Goethe, Lenz und Shakespeare sowie Texten von Tieck und Jean Paul. So finden sich in der Szene H4,4, in der Marie zwei Ohrringe, das Werbegeschenk des Tambourmajors, anprobiert, Büchner und Goethe deutliche Anleihen an ähnliche Szenen in Lenz’ Drama Die Soldaten und an die Schmuckszene Gretchens in Goethes Faust I. Woyzeck

Der in H3,1 eingeführte „Professor“ befiehlt Woyzeck: „beweg den Herren doch einmal die Ohren“. Woyzeck  LZ 2265 Carl Vogt, Erinnerungen Dieser Teil der Szene geht zurück auf Erzählungen über den Gießener Professor Johann Bernhard Wilbrand (1779–1846), der angeblich seinen Sohn Julius gelegentlich herbei rief, um vor Studenten die Ohren zu bewegen.

Der Professor sagt zu Beginn der Szene „wenn wir nur eins von den Dingen nehmen, worin [sich] die organische Selbstaffirmation des Göttlichen, auf einem der hohen Standpunkte manifestirt.“ Auch dies ist möglicherweise eine Karikatur auf Eigentümlichkeiten Wilbrands beim Sprechen und Schreiben.

Die Dramenpersonen sprechen in in vielen Szenen Kinderreime oder singen Volkslieder. Für einige der Volkslieder ließen sich keine vorangehenden Drucküberlieferungen finden; sie wurden also von Büchner erstmals nach dem Gehör schriftlich fixiert. Dedner, Schreibstrategien. Die Arbeit mit Quellen In dem bekannten „Großmuttermärchen“ (H1,14) Woyzeck  variierte Büchner Vorlagen aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, wobei er die Glücksverheißungen der Märchen ins Trostlose umwandelte. Auffällig sind auch Anleihen an die Sprache der Lutherbibel oder Zitate daraus. Woyzeck

Im Woyzeck werden erstmals in der internationalen Theatergeschichte Personen der Unterschicht im ernsthaften Drama dargestellt. Zu Büchners Leistungen gehört es, dass er für dieses Personal eine adäquate Bühnensprache entwickelte, die sich von der üblichen Annäherung des Plebejischen ans Komische gänzlich fernhielt.

Entstehung

Durch die Analyse der Papiersorten und der verwendeten Tinten lassen sich die überlieferten vier Entwurfshandschriften (H1–H4) zu Woyzeck zeitlich ordnen. Sie entstanden in Straßburg (H1 Woyzeck und H2 Woyzeck ) und Zürich (H3 Woyzeck und H4 Woyzeck ). An ihnen ist die sukzessive Entstehung des Dramas ablesbar, ein vollständiger Text entsteht so jedoch nicht.

Büchner begann frühestens Anfang Juli 1836 mit der Arbeit an dem Stück, das gemeinsam mit Leonce und Lena als Buch erscheinen sollte.

Für die Zeit bis Anfang Oktober 1836 ist von zwei Arbeitsschritten auszugehen. Büchner entwirft in H1 in einer vermutlich blockweisen Niederschrift zunächst die Handlungsfolge in noch wenig ausgeführten Szenen. Am einen Ende des Spektrums stehen bloße Notate einer einzelnen kurzen Replik, die nur den Kern einer Situation festhalten (vgl. die Szenen H1,3, H1,9, H1,12 und H1,21) Woyzeck , am andern Ende stehen weiter ausgeformte Szenen, die bereits wechselnde Situationen an einem szenischen Ort vereinen (vgl die Szenen H1,2, H1,14 und H1,17). Woyzeck In der nur scheinbar längeren Szene H1,11 sucht Büchner in mehrmaligem Anlauf für ein und dieselbe Situation den angemessenen sprachlichen Ausdruck. Woyzeck

Das in H1 Notierte dürfte den ersten zusammenhängenden Entwurf des Dramas darstellen. Es lassen sich dabei drei Handlungskomplexe unterscheiden: erstens die Jahrmarktsszenen (H1,1 – H1,3), zweitens Woyzecks Eifersucht (H1,4 – H1,14) und drittens der Mord mit der Flucht des Täters und dem Auffinden der Leiche (H1,15 – H1,21).

Mit H2 folgt eine Erweiterung des ersten Drittels von H1. Der Hauptmann und der Doktor kommen als Figuren hinzu und mit letzterem auch das Ernährungsexperiment, das möglicherweise Woyzecks Halluzinationen erklärt. Woyzeck Hier sind nun auch die Szenen stärker ausgearbeitet, die beiden Hauptpersonen Louis und Margreth in Woyzeck und Louise umbenannt. Abgesehen von H2,9 sind die Szenen dieses zweiten Entwurfs bereits ausgearbeitet und enthalten eine längere Reihe von Repliken, gelegentlich (H2,2 und H2,7) auch mehrere Auftritte.

Mit der Übersiedlung nach Zürich am 19. Oktober und nach Fertigstellung der Probevorlesung zur Erlangung einer Privatdozentur an der Züricher Universität entsteht vermutlich ab dem 5. November 1836 und bis zum Ausbruch von Büchners tödlicher Erkrankung am 2. Februar 1837 die Entwurfshandschrift H4. Sie stellt eine Überarbeitung und Erweiterung der vorherigen Entwürfe dar. Szenen, die Büchner von dort übernimmt und verändert, streicht er in den früheren Handschriften mit einem (meist) senkrechten Strich durch.

Außerdem kommen neue Szenen hinzu, so beispielsweise H4,4 und H4,5. Woyzeck Büchner akzentuiert jetzt stärker die Verführung Louises, die jetzt Marie heißt, zieht sozial schärfere Konturen und betont Woyzecks Armut, seine soziale Deklassierung und die zwanghafte Eifersucht. Fünf nicht berücksichtigte Szenen aus H1 und H2 waren mit diesem Arbeitsschritt konzeptionell überholt, zwei weitere (H4,3 Woyzeck und der zweite Teil von H4,9 Woyzeck ) hätte Büchner aufgrund der Vorstufen in H1 und H2 noch ausführen müssen.

H4 repräsentiert die am weitesten fortgeschrittene Entwurfsstufe von Woyzeck, bleibt aber aufgrund zahlreicher Arbeitslücken und dem Handlungsabbruch bei der Testamentsszene vor dem Mord Fragment. Woyzeck Nach der Szenenüberschrift „Buden. Lichter. Volk.“ (= H4,3) bleiben etwa zwei Drittel der Seite sowie die folgende Seite unbeschriftet, und zwar offenbar in der Absicht, das in H1,1 bis H1,3 sowie in H2,3 und H2,5 vorliegende Material zu überarbeiten und hier einzufügen.

Die zwei in H3 notierten Szenenentwürfe sind als Ergänzung zu H4 zu betrachten und entstanden vermutlich zeitgleich zur Arbeit an H4. Mit der Szene „Der Hof des Professors“ Woyzeck erweitert Büchner die in H2,6 bzw. H4,8 dargestellte Situation, in der Woyzeck wie ein Versuchstier vorgeführt wird. Was uns hier handschriftlich vorliegt, ist ein nicht ganz ausgeführter und flüchtig geschriebener erster Entwurf. In Bühnenfassungen wurde er bisher entweder nach H4,17 („Kaserne“; so Werner R. Lehmann ) oder nach H4,3 (Jahrmarktszenen; so Henri Poschmann) untergebracht. Die erste Platzierung ist angesichts von Woyzecks längst ausgereiftem Mordentschluss zu spät, die zweite unterbricht den sehr engen und folgerichtigen Zeitablauf des ersten Morgens, den Woyzeck mit dem Besuch bei Marie beginnt und mit dem Rasieren des Hauptmanns und der Urinabgabe beim Doktor fortsetzt. In unserer Lesefassung platzieren wir die Szene deshalb im Anschluss an die Begegnung Woyzecks mit Hauptmann und Doktor (H4,9) Woyzeck . Mit „Der Idiot. Das Kind. Woyzeck.“ notierte Büchner einen Zusatz zu dem in H1,14 bis H1,21 entworfenen Mordkomplex, vermutlich also die Schlussszene des Dramas. Woyzeck Was von den Szenen zur Mordhandlung Büchner aus H1 übernommen und wie er es überarbeitet hätte, lässt sich nicht bestimmen. Gleiches gilt für die Jahrmarktszenen (H4,3).

Beobachten lässt sich im Laufe der Bearbeitung eine Straffung und Verdichtung des ohnehin zeitlich eng verknüpften Handlungsverlaufs. Während H1 noch rund vier Tage umfasst, erstreckt sich die Handlung in H4 über weniger als zweieinhalb Tage. Gleichzeitig verschiebt sich Büchners Augenmerk vom Handlungsgerüst des Mordgeschehens hin zur Vorgeschichte der Tat, die er zum Teil seinen Quellen entnimmt.

Überlieferung

Überliefert ist ein titelloses Konvolut aus verschiedenen Entwurfshandschriften. Es besteht aus
– fünf Doppelblättern (Doppelblatt I–V) in Folioformat. Hierauf notiert sind H1 mit 21 und und H2 mit neun Szenen);
– einem Einzelblatt im Quartformat. Hierauf notiert sind die Szenen H3,1 und H3,2;
– sechs Doppelblättern in Quartformat, gelegt in drei Lagen von je zwei Doppelblättern (Lage I–III). Hierauf notiert ist H4 mit 17 Szenen. Vermutlich haben sich alle Entwürfe zu dem Drama so erhalten, wie sie 1837 in Büchners Sterbezimmer gefunden wurden. Die Handschriften befanden sich spätestens 1850 im Darmstädter Familienbesitz. Sie wurden 1875 zu Karl Emil Franzos zur Erstpublikation nach Wien geschickt, 1918 mit dem übrigen Darmstädter Nachlass vom Insel-Verlag erworben und 1924 mit dem größten Teil des übrigen Nachlasses dem Goethe- und Schiller-Archiv übergeben.

Rezeption

Büchners überlieferte Entwurfshandschriften sind schwer entzifferbar und schwer in einen Zusammenhang zu bringen. Eine erste Transkription des überwiegenden Textmaterials von H4 und H3,1 durch Büchners Brüder Alexander und Ludwig führte nicht zur Aufnahme des Textes in die von Ludwig Büchner herausgegebenen Nachgelassenen Schriften (1850).

Eine Teilveröffentlichung des Dramas erfolgte erst 1875 durch den Schriftsteller und Publizisten Karl Emil Franzos in der Neuen Freien Presse, dann im Oktober 1878 in der Wochenschrift Mehr Licht! als Wozzeck. Ein Trauerspiel-Fragment von Georg Büchner sowie 1879 in den von ihm herausgegebenen Sämmtlichen Werken und handschriftlicher Nachlass Büchners. Franzos nahm an, Büchner habe die Szenen ohne Rücksicht auf die intendierte Reihenfolge notiert und leitete daraus das Recht ab, die Szenen in eine ihm plausibel scheinende Reihenfolge zu bringen. Er las zahlreiche Textstellen falsch – so entzifferte er den Namen des Protagonisten als „Wozzeck“. Außerdem veränderte er den Text nach Belieben und fügte von ihm selbst verfasste Textpassagen hinzu.

Eine Revision der Szenenfolge nahm dann Paul Landau (1909) vor, dessen Fassung auch die Grundlage für Alban Bergs Oper Wozzeck (1921) wurde. Franzos’ Eingriffe in den Text wurden 1920 durch Georg Witkowski aufgedeckt, nachdem bereits 1914 mit der Wiederentdeckung des Clarus-Gutachtens durch Hugo Bieber der Bezug zum historischen Fall Woyzeck hergestellt werden konnte. Es folgten Neulesungen der Manuskripte und eine korrekte Anordnung der Szenenfolge u. a. durch die Ausgabe von Fritz Bergemann (1922).

Auf der Bühne entfaltete jedoch zunächst und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Textfassung von Karl Emil Franzos ihre Wirkung. Die Uraufführung des Wozzeck fand am 8. November 1913 im Münchner Residenztheater unter der Regie von Eugen Kilian statt. Alban Bergs gleichnamige Oper wurde erstmals 1925 aufgeführt; sie steuert die internationale Rezeption bis heute ebenso sehr wie Büchners eigentlicher Woyzeck-Text. 1947 fand mit dem DEFA-Spielfilm von Georg C. Klaren die erste Verfilmung des Woyzeck statt. Ihr folgte 1979 die von Werner Herzog und 1994 die aktualisierende ungarische Produktion von János Szász. Eine Musical-Version des Woyzeck von Robert Wilson mit der Musik von Tom Waits kam im Jahr 2000 auf die Bühne.

Zum Text

Eine Edition der Handschriften ist mit einer Vielzahl von editionsphilologisch komplizierten Fragestellungen konfrontiert, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können (vgl. dazu ausführlich den Editionsbericht in Marburger Büchner Ausgabe VII.2; S. 71–247). Transkriptionsprobleme ergeben sich vor allem bei der Bewertung von Verschleifungen bzw. Apo- und Synkopierungen. In Büchners Handschrift des Dramas lassen sich solche Abbreviationen als Mittel identifizieren, Hoch- und Umgangssprache zu differenzieren und Sprache zur sozialen Charakterisierung (nicht aber als regionales Dialektspezifikum) einzusetzen.

Der hier präsentierte Text fußt auf dem Emendierten Text in MBA 7.2 (2005), S. 1–32, wurde aber an einigen Stellen (von Gerald Funk) neu gelesen und verbessert. Diese verbesserte Fassung wurde 2013 publiziert (Georg Büchner: Werke und Briefe. Hrsg. von Arnd Beise, Tilman Fischer, Gerald Funk. Illustriert von Benjamin Kniebe. Darmstadt: Lambert Schneider 2013). Weitgehend normiert wurden die Zeichensetzung im Szenenkopf, die Sprecherbezeichnungen und die auf eine Sprecherbezeichnung folgenden Szenenanweisungen. Kleinschreibung nach Punkt sowie Szenenanweisungen innerhalb des Sprechtextes oder zwischen den Repliken blieben unverändert. Vermutliche Arbeitslücken sind gekennzeichnet, Randzeichnungen und Kritzeleien blieben unberücksichtigt. Alle übrigen Herausgebereingriffe sind durch eckige Klammern [   ] markiert. Nicht entzifferte Buchstaben wurden durch + gekennzeichnet.

Zur Lesefassung

Die hier präsentierte Lesefassung Lesefassung ist aus den Handschriften in folgender Form abgeleitet: 

Die ab November 1836 in Zürich geschriebene  Handschrift H4 bildet den Grundstock der Lesefassung.

H4 besteht aus drei Heften zu je acht Seiten. Die ersten zwei Hefte weisen zwei Lücken auf, die wir auffüllen mussten:

Von der Szene H4,3 Woyzeck (in Heft 1) hat Büchner den Szenentitel "Buden. Lichter. Volk" ausgeschrieben und danach in der Handschrift Platz für eine spätere Ausarbeitung frei gelassen. Unsere Szene "Lesefassung Szene 3" ist aus Teilen der früher geschriebenen Szenen H1,1-3 Woyzeck und H2,3-5 Woyzeck ergänzt. Woyzeck Lesefassung

- Am Schluss der Szene H4,9 "Hauptmann. Doctor." Woyzeck (am Ende von Heft 2) hat Büchner einen Freiraum gelassen. Offenbar war er mit der Fassung dieser Szene in H2,7 Woyzeck noch nicht zufrieden, hatte aber noch keine bessere Lösung gefunden. Wir ergänzen hier den Rest der Szene notgedrungen nach H2,7. Woyzeck Lesefassung

Die Handschrift H4 endet mit der "Testamentsszene" (H4,17 = Lesefassung Szene 18). Offenbar wurde Büchner durch die Erkrankung gehindert, den Rest des Dramas niederzuschreiben. Wir ergänzen notgedrungen die in H4 noch fehlenden Szenen durch Szenen aus dem ersten Entwurf H1. Die Szenen H1,14 bis H1,20 Woyzeck erscheinen in der Lesefassung als "Lesefassung Szene 19" bis "Lesefassung Szene 26". Woyzeck Lesefassung Die Hauptpersonen tragen in H1 noch andere Namen als in H4. Wir haben für die Lesefassung die Namen angeglichen. Aus "Louis" (H1) wurde "[Woyzeck]", aus "Margreth" (H1) wurde "[Marie]".

In der Züricher Zeit schrieb Büchner außerdem die zwei Szenen der Handschrift H3 "Der Hof des Professors" (H3,1)Woyzeck und "Der Idiot. Das Kind. Woyzeck." (H3,2) Woyzeck . Wir integrieren diese zwei Szenen in die Lesefassung an folgenden Stellen:

- H3,1 als "Lesefassung Szene 10". Sie steht damit am Übergang zwischen Heft 2 und Heft 3 der Handschrift und fügt sich an dieser Stelle am besten ein in den Handlungsablauf. Woyzeck Lesefassung

- H3,2 als Szene "Lesefassung Szene 27" am Schluss des Dramas. Woyzeck Lesefassung

 

Text: Tilman Fischer (Juni 2014); erweitert durch Burghard Dedner (Dezember 2015); zuletzt bearbeitet Juni 2018.