5.3. Burghard Dedner:
Büchner und Shakespeare

Drucknachweis
Burghard Dedner: "Alle Dichter wie Schulknaben" - Büchner und Shakespeare. - Erstdruck in: Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell, hrsg. von Ralf Beil und Burghard Dedner. [Katalog zur Ausstellung des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt, 13. Oktober 2013 bis 16. Februar 2014]. Ostfildern 2013, S. 115–125.

 

Im Begleitbrief zum Danton-Manuskript gestand Büchner ein, dass er „alle Ursache habe, der Geschichte gegenüber roth zu werden“, tröstete sich in seiner Zerknirschung jedoch damit, dass außer Shakespeare schließlich „alle Dichter“ vor der Geschichte und der Natur dastünden „wie Schulknaben“. 21. Februar 1835. An Karl Gutzkow in Frankfurt am Main

Shakespeare und alle andern: so war offenbar das Feld der Dramendichter aufgeteilt. Warum aber sollte es dereinst nicht heißen: Shakespeare, Büchner und alle andern? Wilhelm Schulz äußerte sich 1851 zu dieser Perspektive folgendermaßen: „Keiner wußte es besser, als Büchner selbst, daß er kein Shakespeare war. Aber wenn irgend Einer, so hatte er das Zeug dazu es zu werden.“ LZ 4520 Schulz 1850

Nehmen wir also an, dass Büchner vorhatte, der deutsche Shakespeare zu werden!

Vorerst freilich – so schrieb der gerade mit Woyzeck Beschäftigte am 20. Januar 1837 in einem seiner letzten Briefe – war er nicht „werth“, Shakespeare „die Schuhriemen zu lösen“. 20. Januar 1837. An Wilhelmine Jaeglé in Straßburg

Als der 21 Jahre alte Büchner Danton’s Tod niederschrieb, hatte er sich das Vokabular der Shakespeareschen Dramen bereits vollständig zu eigen gemacht. Die Marburger Büchner Ausgabe ist in den Stellenerläuterungen den Shakespeare-Anregungen nachgegangen, und folgende Zahlen mögen einen Eindruck von deren Umfang geben. Verzeichnet sind für Danton’s Tod Anregungen unter anderem durch Hamlet (18), Julius Cäsar (12), Heinrich VI. Zweiter Teil (11), Macbeth (10), König Lear und Richard III. (9), Heinrich IV. Erster Teil (8), Romeo und Julia (7), Maß für Maß (6), für Leonce und Lena (einschließlich der Entwurfsbruchstücke) unter anderem durch Hamlet (5), Romeo und Julia (3) und Macbeth, Kaufmann von Venedig sowie Viel Lärmen um Nichts (je 2), für Woyzeck durch Othello (9), Macbeth (5), König Lear (3), Hamlet (2). Das Gesamtverhältnis – 89 Einträge für Danton’s Tod, 23 für Leonce und Lena und 21 für Woyzeck – zeigt eine fallende Tendenz. Danton’s Tod steht in der szenischen Gestaltung – so etwa im Wechsel von öffentlichen und nachklappenden privaten Szenen, im oft schroffen Wechsel lyrischer, pathetischer und burlesker Tonarten, aber auch in Einzelheiten des Vokabulars und der Bilder – in der Tradition Shakespeares. In Leonce und Lena liefern neben Shakespeares Lustspielen und Liebestragödien Dramatiker wie der deutsche Romantiker Clemens Brentano und Büchners französischer Zeitgenosse Alfred de Musset neue Orientierungsmuster. Und auch Woyzeck ist formal beeinflusst von der Dramatik der Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz und Johann Wolfgang Goethe sowie von der romantischen Schauertragödie, nicht mehr aber von Shakespeare.

Szenische Anregungen: Verschwörungen, Alpträume, Rüpelkomik

Auffällig sind die Anregungen vor allem dann, wenn sie sowohl die szenische Konstellation als auch die sprachlichen Details umfassen. Der Eindruck direkter Abhängigkeit entsteht dennoch nicht, weil Büchner sich meist an mehreren Vorbildern gleichzeitig orientiert und weil er sie zielgerichtet verändert. Hierfür ein Beispiel. St. Just – so im zweiten Teil der Szene I/6 von Danton’s Tod – bespricht mit Robespierre in nächtlicher Zusammenkunft das Vorgehen gegen die Dantonisten. Danton’s Tod Vorbilder sind in Shakespeares Julius Cäsar die Szene II/1 – eine nächtliche Zusammenkunft der Verschwörer gegen Cäsar bei Brutus – und die Szene IV/1 – die Cäsarerben Antonius, Octavius und Lepidus wählen als Beginn der Gegenoffensive die Todeskandidaten unter ihren Gegnern aus. Büchner beginnt die Szene wie Shakespeare die der Cäsarmörder: Robespierre sinniert zunächst wie Brutus im Dunkeln, hört dann, dass Besuch kommt, und verlangt nach Licht. Es folgt – als Anleihe aus der Szene der Cäsarerben – das mit kurzen Kommentaren verbundene Auflisten der Todeskandidaten. Mit seinem Ausruf „auch du Camille“ nimmt Robespierre das letzte Wort des sterbenden Cäsar auf (Julius Cäsar III/1).

Besonders interessant ist, wie Büchner seinen St. Just im Verhältnis zu Brutus gestaltet. Dieser unterscheidet zwischen Cäsar als dem „Haupt“ der Gegner und der Cäsarclique als bloßen „Gliedern“. „Opferer“, nicht „Schlächter“ wolle er sein, „die Glieder“ wolle er verschonen und nur „das Haupt abschlagen“. „Dadurch“ – so sein Kalkül – „wird man uns Reiniger, nicht Mörder nennen“ (Julius Cäsar II/1). Diese törichte Großherzigkeit bezahlt er später im Krieg mit der Niederlage gegen die „Glieder“ und mit seinem Tod.

Mit seiner gewohnt zynischen Klugheit erklärt auch St. Just, er wolle die Liquidierung Dantons feierlich-sakral gestalten, und zwar mit gehörig heidnischem Pomp und deshalb unter Einschluss aller führenden Anhänger Dantons:

St. Just.  Wir müssen die große Leiche mit Anstand begraben, wie Priester, nicht wie Mörder. Wir dürfen sie nicht zerstücken, all ihre Glieder müssen mit hinunter.
Robespierre.  Sprich deutlicher.
St. Just.  Wir müssen ihn in seiner vollen Waffenrüstung beisetzen und seine Pferde und Sclaven auf seinem Grabhügel schlachten.“ Danton’s Tod

Ebenso offensichtlich wie hier folgt Büchner Shakespeares Modellen bei der Gestaltung von Volksszenen in den Szenen II/2 Danton’s Tod und III/10 (vgl. die Erläuterungen in Marburger Büchner Ausgabe III.4). Danton’s Tod Dasselbe gilt für jene posttraumatischen Situationen, in denen ein Täter von der Erinnerung an seine Taten gequält wird. Hieran leiden bei Shakespeare unter anderem die Königsmörder Macbeth und Lady Macbeth, Richard III. sowie Brutus in Julius Cäsar, bei Schiller Franz Mohr in den Räubern, Danton in der Alptraumszene (II/5) Danton’s Tod und schließlich Woyzeck bei seinem Versuch, die Mordwaffe zu reinigen. „Will denn die ganze Welt es ausplaudern? […] Da ein Fleck und da noch einer“, heißt es bei Büchner. Woyzeck „Da ist noch ein Fleck. […] Fort, verdammter Fleck! fort, sag’ ich! […] wollen diese Hände denn nie rein werden?“ heißt es bei Shakespeare (Macbeth V/I).

Deutlich unter Shakespeares Einfluss – und zwar bis in sprachliche Einzelheiten – stehen auch die „Rüpelszenen“ in Danton’s Tod I/2 („Eine Straße“) Danton’s Tod , Danton’s Tod II/6 (Bürgersoldaten „vor Danton’s Haus“) Danton’s Tod oder Danton’s Tod IV/4 (Fuhrleute vor der Conciergerie) Danton’s Tod .

In Hamlet (V/1) gibt ein Totengräber folgendes Rätsel auf: „Wer baut fester als der Maurer […]?“ Die Antwort: „Der Todtengräber. Die Häuser, die er baut, währen bis zum jüngsten Tage.“ In Danton’s Tod (V/1) fragt einer der für Delinquententransporte lizensierten Fuhrleute: „Wer ist der beste Fuhrmann“? Die Antwort: Wer die Leute „am weitesten“, nämlich „aus der Welt fährt“. Danton’s Tod

Auch in der nur in einem Entwurf überlieferten Polizistenszene in Leonce und Lena folgt Büchner noch einmal einer Rüpelszene, diesmal aus Viel Lärmen um Nichts (III/3 und IV/2).

Punktuelle Anregungen

Von den unzähligen punktuellen Anregungen sei hier nur kurz auf zwei thematisch verwandte Gruppen hingewiesen, auf Äußerungen zu Tod und Liebe oder zu beidem zugleich. Zu Füßen seiner Frau Julie sitzend, sinniert Danton über den Spruch „Grab und Ruhe seyen eins“. Wenn er zutreffe, dann

„lieg’ ich in deinem Schooß schon unter der Erde. Du süßes Grab, deine Lippen sind Todtenglocken, deine Stimme ist mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel und dein Herz mein Sarg“ Danton’s Tod

Eine Vergleichsstelle aus Heinrich VI. Zweiter Teil (III/2) lautet:

„Ich kann nicht leben, wenn ich von dir scheide;
Und neben dir zu sterben, wär’ es mehr
Als wie ein süßer Schlummer dir im Schooß?
Hier könnt’ ich meine Seele von mir hauchen,
So mild und leise wie das Wiegenkind,
Mit seiner Mutterbrust im Munde sterbend.“

Darf man sagen, dass Shakespeares sanfte Variante der Liebestodmotivik – in Prosa zurückübersetzt – auch von Büchner stammen könnte?

Prominenter freilich figurieren die Schrecken des Todes, die Enge des Grabes und der faulende Körper, beides auch einmal im Umschlag gegen eine vorangegangene Demonstration von unerschrockenem Mannesmut. „Nein, muß ich sterben, / Grüß ich die Finsterniß als meine Braut, / Und drücke sie ans Herz!“ lautet die Tirade, mit der Claudio in Maß für Maß (III/1) seine Todesverachtung ausdrückt. Wenige Repliken später erkennt er den Ernst der Lage, und panische Todesangst befällt ihn: „Da liegen, kalt, eng eingesperrt, und faulen; […] das ist zu entsetzlich“.

Büchner verteilt beide Reaktionen auf zwei Sprecher und unterschiedliche Zeitpunkte. „Wir werden wenigstens nicht mit Schwielen an den Fingern der hübschen Dame Verwesung die Wangen streicheln“, intoniert Hérault in Danton’s Tod III/1 beim Eintritt ins Gefängnis. Danton’s Tod

 „Da liegen allein, kalt, steif in dem feuchten Dunst der Fäulniß, mit Bewußtseyn vielleicht sich wegzufaulen!“ ruft Camille in Danton’s Tod III/7 nach dem ersten Prozesstag aus. Danton’s Tod

„Kalt da zu liegen, ohne Gefühl und Gedanken, Würmern eine Wohnung, todt, vermodert“, hieß es zuvor schon in Ludwig Tiecks Erzählung Abdallah (Ludwig Tieck: Schriften, Berlin 1828–1854, Bd. VII, S. 78), die Büchner vermutlich kannte. Verursacher und Produkte der Verwesung sind die bei Shakespeare wie bei Büchner ubiquitären Würmer, die aus den Leichen hervorgehen. Über die Gefangenen, die er zur Guillotine transportiert, sagt ein Fuhrmann, sie seien sein „Brod“. „Wurmfraß“ seien sie, berichtigt ihn der Kollege. „Meine Kinder sind auch Würmer, und die wollen auch ihr Theil davon“, repliziert der Erste. Danton’s Tod Nehmen wir zum Vergleich die Stelle, an der man Hamlet fragt, wo die Leiche des von ihm ermordeten Polonius sei. „At supper. […] Not where he eats, but where he is eaten“, antwortet dieser und lässt eine Anspielung auf die „diet of worms“ folgen, was im Englischen sowohl den „Reichstag zu Worms“ als auch „Würmerdiät“ bezeichnet (Hamlet III/2).

Aus der von Shakespeare inspirierten Reihe der sexuellen Anspielungen sei nur folgende erwähnt: „Ihr seyd spitz, gnädiger Herr, ihr seyd spitz“, reagiert Ophelia auf eine Bemerkung Hamlets. „Ihr würdet zu stöhnen haben, ehe ihr meine Spitze abstumpftet“, antwortet dieser (HamletIII/2). Ein Soldat und eine gewisse Rosalie kommen bei Büchner durch folgenden Dialog in Kontakt: „Soldat.  Du bist sehr spitz. / Rosalie.  Und du sehr stumpf. / Soldat.  So will ich mich an dir wetzen“. Danton’s Tod

Shakespeare als Kultfigur

Man erklärt sich Büchners Hang zu drastischen Anspielungen auf körperliche Vorgänge mit seinen beruflich bedingten Aufenthalten in Seziersälen. Das ist sicher ein Faktor. Die sprachlichen Mittel für diese Anspielungen erlernte Büchner jedoch bei Shakespeare. Seine Dramen waren noch wenig berührt von jenem „Prozess der Zivilisation“ (Norbert Elias), in dessen Verlauf die europäischen Oberschichten gegen das Spucken vorgingen, bei Tisch mit der Gabel zu essen begannen, die verbale Tabuisierung des Leiblichen einführten und die Bühnen zu Sprechtheatern machten und Dezenznormen unterwarfen. Shakespeares Dramen sind noch weitgehend indezent. Deshalb waren sie bis 1750 auf dem Kontinent als barbarisch verschrien, und dies war einer der Gründe, warum sie danach in den Jugendbewegungen kultischen Status genossen. Hinzu kam unter anderem, dass Shakespeare noch in der Lage war, fantastische Elemente ins Drama zu integrieren und dass er noch über Erfahrungen mit politischer Öffentlichkeit verfügte, die bis zur Französischen Revolution durch die in der Zwischenzeit dominierende Kabinettspolitik verloren gehen sollten. So kam niemand, der das volle Repertoire bühnensprachlicher Möglichkeiten kennenlernen wollte, an Shakespeare vorbei. Das erklärt seinen Siegeszug in Deutschland nach 1740 bei den Jungen, nach 1770 im Sturm und Drang, um 1800 bei den Romantikern und schließlich nochmals bei Büchner. Dieser hatte außerdem den Vorteil, dass er als erster deutscher Dramatiker von Rang auf den deutschen Shakespeare-Thesaurus, also auf die von August Wilhelm Schlegel begonnene, von Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin ergänzte Übersetzung sämtlicher Dramen Shakespeares zurückgreifen konnte. Als er sich nach Danton’s Tod anderen Mustern zuwandte, blieb er noch immer in derselben Tradition. Auch Lenz und der junge Goethe, Brentano und Musset waren Shakespeare-Adepten.

In seinen Annäherungen an Shakespeare verhielt sich Büchner nie als einfacher Nachahmer. In den am wenigsten interessanten Fällen erfand er Variationen auf die shakespeareschen Vorbilder, in den anderen bereicherte er das vorgegebene Material und gab ihm eine neue Bedeutung. In Leonce und Lena zum Beispiel greift er en passant eine Märchenfantasie Shakespeares aus dem Sommernachtstraum (III/1) auf und verwandelt sie in politische Satire. Die Feenkönigin Titania gibt ihrem derzeitigen Liebhaber Zettel „zur Bedienung“ folgenden Hofstaat: „guter Musje Spinnweb. […] Guter Herr Bohnenblüthe […] Lieber Musje Senfsamen“.

Daraus macht Büchner (Leonce und Lena I/1) folgende Fantasie seines Narren Valerio:

„Ha, ich bin Alexander der Große! Wie mir die Sonne eine goldne Krone in die Haare scheint, wie meine Uniform blitzt! Herr Generalissimus Heupferd, lassen Sie die Truppen anrücken! Herr Finanzminister Kreuzspinne, ich brauche Geld! Liebe Hofdame Libelle, was macht meine theure Gemahlin Bohnenstange? Ach bester Herr Leibmedicus Cantharide, ich bin um einen Erbprinzen verlegen. Und zu diesen köstlichen Phantasieen bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brod, ein gutes Bett und das Haar umsonst geschoren, – im Narrenhaus nämlich“. Leonce und Lena

Dieser im Königreich Popo imaginierte Hofstaat besteht aus teils grotesken, teils blutsaugerischen Insekten, ein verbreitetes Gebrechen sind Probleme bei der Zeugung von Thronfolgern, die man mit den stimulierenden Aussonderungen des Kantharidenkäfers behandelt. König zu sein: das ist eine Narrenfantasie. Die durch Shakepeare vorgegebene Form gab der Satire eine Leichtigkeit, mit der sie die Zensur passieren konnte. In zensurwidriger Form sprach man im nahe gelegenen Frankfurt über die Fürsten so: „Alle aber sind von dem Wahn besessen, daß sie von Gott und Rechtswegen über das Volk zu herrschen haben – einem Wahn, von dem sie nichts anderes heilen wird als der Strang.“ (Artikel „Republik“ in der Frankfurter Flugschriftenserie Bauernconversationslexicon, Frankfurt 1834, S. 3, zit. nach Marburger Büchner Ausgabe II.1, S. 248).

Zehn Jahre Shakespeare-Begeisterung

Büchner entdeckte Shakespeare spätestens im 14. Lebensjahr, als im Sommer 1828 im Darmstädter Hoftheater zwei Shakespeare-Dramen aufgeführt wurden. Die Schauspielerin Therese Peche, die 1828/29 in Darmstadt gastierte, gab in der zweiten Junihälfte 1828 die Julia in Romeo und Julia und im Juli und August die Porcia in Der Kaufmann von Venedig (Vgl. Erich Zimmermann: Die Schauspieler Carl Seydelmann und Therese Peche in Darmstadt, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N.F. 41, 1983, 133–149). Der 22-jährige Büchner bezeichnete sie später im Brief an Eugène Boeckel vom 1. Juni 1836 als „alte Bekanntin von mir“. 1. Juni 1836. An Eugène Boeckel in Wien

Vermutlich ebenfalls 1828 versammelten Büchners Klassenkameraden Friedrich und Georg Zimmermann einen Kreis von Shakespeare-Enthusiasten um sich. Sie waren es, so der Schulkamerad Ludwig Wilhelm Luck,

„die uns Andre mit ihrer Begeisterung für Shakespeare ansteckten, daß wir uns verabredeten, in dem schönen Buchwald bei Darmstadt an Sonntagnachmittagen im Sommer, die Dramen des großen Britten zu lesen, die uns die anregendsten u theuersten waren, als den Kaufmann von Venedig, Othello, Romeo u Julia, Hamlet, Kg. Richard III u. s. w. Wir hatten Momente innigster u. wahrster Hingerissenheit u Erhebung z. B. beim Lesen der Stelle: ‚Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft‹ u. ‚der Mann, der nicht Musik hat in sich selbst, – trau keinem solchen.‘“ LZ 1220 Luck an Franzos

Luck rief sich das Bild Büchners vor Augen; es sei „ähnlich einem alten Bilde Shakespeares, von bürgerlich gediegnem, thatkräftigen aber auch liebenswürdig übermüthigen Ausdruck“. In ihrem „jugendlichen Übermuth“ hätten er und andere „während des Gymnasialgottesdienstes statt des jedesmal z. singenden Liederverses halblaut die Worte des Todtengräbers im Hamlet [gesungen]: Und o eine Grube gar tief u hohl für solchen Gast muß sein“, womit er „gegen den ihm ungenügenden Vortrag des Predigers als Hohlheit demonstrirte“. Diese Erinnerung wird bestätigt durch Kritzelseiten im letzten Schulheft, die der nun 17-Jährige mit Zitaten von Karl Follen, dem radikalsten unter den deutschen Revolutionären der 1810er-Jahre, aber auch von Goethe und Shakespeare füllte.

Schulbesuch in Darmstadt

 Zu ihnen zählt das von Luck erwähnte Totengräberlied aus Hamlet. Shakespeares Bühnenanweisung: „Erster Todtengräber […] , (Er gräbt und singt.)“ (Hamlet V,1) gab Büchner möglicherweise die Anregung für seine Szenenaweisung: „1. Henker (steht auf der Guillotine und singt)“. Danton’s Tod Über den teils an Gedankenjagd leidenden, teils auch von katatonischen Anfällen bedrohten Lenz schrieb Büchner 1835: „Er sprach, er sang, er recitirte Stellen aus Shakespeare“. Lenz Am Ende der Schulzeit verfügte Büchner über so viele Kenntnisse zu Shakespeare, dass er im Ernstfall zu demselben als Heilmittel greifen konnte.

Programmatischen Charakter haben dann die Äußerungen gegen „Idealdichter“ wie den eigens genannten Schiller und für „Realdichter“ wie „Goethe und Shakspeare“ im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 28. Juli 1835. An die Eltern in Darmstadt, in dem Büchner die Sprache und Personengestaltung in seinem Drama gegen mögliche Einwände verteidigt. Ebenso programmatisch ist der Satz in der Erzählung Lenz: „das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe, […] sey das einzige Kriterium in Kunstsachen. […] in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen. Alles Übrige kann man ins Feuer werfen.“ Lenz

Die Überzeugung, dass Shakespeare Vorbild und Lehrmeister sei, blieb erhalten, auch wenn die Anleihen an das Vorbild in Leonce und Lena und Woyzeck sehr viel spärlicher ausfallen als in Danton’s Tod.

Solange der Schüler lernt, muss er die gegebenen Muster ernstnehmen; sobald er selbst ein Meister ist, kann er mit ihnen spielen. Dieses Avancement zum spielerischen Umgang zeigt Büchner in Danton’s Tod in der Figur des Souffleurs Simon, dem die Wörter der Dramatiker – vor allem die Wörter Shakespeares – die eigene Sprache geraubt haben; er zeigt ihn vielleicht auch am Ende von Danton’s Tod. Die Hamlet-Tragödie beginnt mit den Repliken:

Bernardo. Wer da?
Francisco. Nein, mir antwortet: steht und gebt euch kund.
Bernardo. Lang’ lebe der König! 

Das Danton-Drama endet mit den Repliken:

Ein Bürger.  He werda?
Lucile.  Es lebe der König!
Bürger.  Im Namen der Republik.
(sie wird von der Wache umringt und weggeführt.) Danton’s Tod

Ist das ein Zufall? Oder eine bewusst kryptisch formulierte, spielerische Form der Huldigung?

 

Editorische Notiz
Die Übereinstimmungen zwischen Büchners und Shakespeares Texten werden im einzelnen nachgewiesen in den Stellenerläuterungen zu Büchners Werken in den entsprechenden Bänden der Marburger Büchner Ausgabe.

Alle Shakespeare-Zitate werden mit dem Dramentitel sowie Akt/Szene nachgewiesen. Sie erfolgen nach der Ausgabe der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, und zwar in der Druckfassung der „Neuen Auflage« (Berlin 1821–1823), die Büchner vermutlich benutzte.