1. Juni 1836. An Eugène Boeckel in Wien
D. 1. Juni. Straßburg.
Mein lieber Eugen!
Ich sitze noch hier, wie Du aus dem Datum siehst. „Sehr unvernünftig!“ wirst Du sagen und ich sage: meinetwegen! Erst gestern ist meine Abhandlung vollständig fertig geworden. Sie hat sich viel weiter ausgedehnt, als ich Anfangs dachte und ich habe viel gute Zeit mit verloren; doch bilde ich mir dafür ein sie sey gut ausgefallen – und die société d’histoire naturelle scheint der nämlichen Meinung zu seyn. Ich habe in 3 verschiednen Sitzungen 3 Vorträge darüber gehalten, worauf die Gesellschaft sogleich beschloß sie unter ihren Memoiren abdrucken zu lassen; obendrein machte sie mich zu ihrem correspondirenden Mitglied. Du siehst, der Zufall hat mir wider aus der Klemme geholfen, ich bin ihm überhaupt großen Dank schuldig und mein Leichtsinn, der im Grund genommen das unbegränzteste Gottvertrauen ist, hat dadurch wider großen Zuwachs erhalten. Ich brauche ihn aber auch; wenn ich meinen Doctor bezahlt habe, so bleibt mir kein Heller mehr und schreiben habe ich die Zeit nichts können. Ich muß eine Zeitlang vom lieben Kredit leben und sehen, wie ich mir in den nächsten 6-8 Wochen Rock und Hosen aus meinen großen weißen Papierbogen, die ich vollschmiren soll, schneiden werde. Ich denke: „befiehl du deine Wege.“ und lasse mich nicht stören.
Habe ich lange geschwiegen? Doch Du weißt warum und verzeihst mir. Ich war wie ein Kranker der eine ekelhafte Arznei so schnell, als möglich mit einem Schluck nimmt, ich konnte nichts weiter, als mir die fatale Arbeit vom Hals schaffen. Es ist mir unendlich wohl, seit ich das Ding aus dem Haus habe. – Ich denke den Sommer noch hier zu bleiben. Meine Mutter kommt im Herbst. Jezt nach Zürich, im Herbst wider zurück, Zeit und Geld verliren, das wäre Unsinn. Jedenfalls fange ich aber nächsten Wintersemester meinen Kurs an, auf den ich mich jezt in aller Gemächlichkeit fertig präparire.
Du hast frohe Tage auf Deiner Reise, wie es scheint. Ich freue mich darüber. Das Leben ist überhaupt etwas recht Schönes und jedenfalls ist es nicht so langweilig, als wenn es noch einmal so langweilig wäre. Spute Dich etwas im nächsten Herbst, komme zeitig, dann sehe ich Dich noch hier. Hast Du viel gelernt, unterwegs? Ist Dir die Kranken und Leichenschau noch nicht zur Last geworden? Ich meine eine Tour durch die Spitäler von halb Europa müßte einem sehr melancholisch und die Tour durch die Hörsäle unsrer Professoren müßte einem halb verrückt und die Tour durch unsre teutschen Staaten müßte einem ganz wüthend machen. 3 Dinge, die man übrigens auch ohne die drei Touren sehr leicht werden kann z. B. wenn es regnet und kalt ist, wie eben; wenn man Zahnweh hat, wie ich vor 8 Tagen, u. wenn man einen vollen Winter und ein halbes Frühjahr nicht aus seinen 4 Wänden gekommen, wie ich dieß Jahr.
Du siehst i[ch] stehe viel aus und ehe ich mir neulich meinen hohlen Zahn ausziehen lassen, habe ich im vollständigsten Ernst überlegt, ob ich mich nicht lieber todtschießen sollte, was jedenfalls weniger schmerzhaft ist.
Baum seufzt jeden Tag, bekommt dabey einen ungeheuren Bauch und macht ein so selbstmörderisches Gesicht, daß ich fürchte, er will sich auf subtile Weise durch einen Schlagfluß aus der Welt schaffen. Er ärgert sich dabey regelmäßig jeden Tag, seit ich ihn versichert habe, daß Aerger der Gesundheit sehr zuträglich sey. Das Fechten hat er eingestellt und ist dabey so entsetzlich faul, daß er zum großen Verdruß Deines Bruders noch keinen von Deinen Aufträgen ausgerichtet hat. Was ist mit dem Menschen anzufangen? Er muß Pfarrer werden, er zeigt die schönsten Dispositionen.
Die beyden Stöber sitzen noch in Oberbrunn. Leider bestätigt sich das Gerücht hinsichtlich der Frau Pfarrerin. Das arme Mädel hier ist ganz verlassen und unten sollen die Leute über die poetische Bedeutung des Ehebruchs philosophiren. Letztes glaube ich nicht, – aber zweideutig ist die Geschichte.
Was macht unser Freund und Vetter, Zipfel? Ist ihm die Zeit nirgends weiter gezündet worden? Siehst Du meinen Vetter aus Holland zuweilen? Grüße Beyde vielmals von mir.
Wilhelmine war lange Zeit unwohl, sie litt an einem chronischen Friesel, ohne jedoch je bedenklich krank gewesen zu seyn.
à propos, sie hat mir Deine beyden Briefe, unerbrochen gegeben, dennoch hätte ich es passender gefunden Du hättest schicklichkeitshalber eine Couverte um Deinen Brief gemacht; konnte ein Frauzimmer ihn nicht lesen, so war es unpassend ihn auch an ein Frauzimmer zu adressiren; mit einer Couverte ist es etwas andres. Ich hoffe Du verdenkst mir dieße kleine Zurechtweisung nicht.
Jedenfalls bin ich die nächsten 4 Wochen noch hier, während des Drucks meiner Abhandlung. Wirst Du mich noch mit einem Brief erfreuen, ehe Du aus Wien abreisest? à propos, Du machst ja ganz ästhetische Studien, Dem. Peche ist eine alte Bekanntin von mir.
Lebw[oh]l Dein G. B.