5.2. Burghard Dedner
Büchner und Goethe

Drucknachweis
Burghard Dedner: "In Shakespeare finden wir es ... in Göthe manchmal." Büchner und Goethe. - Erstdruck in: Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell, hrsg. von Ralf Beil und Burghard Dedner. [Katalog zur Ausstellung des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt, 13. Oktober 2013 bis 16. Februar 2014]. Ostfildern 2013, S. 293–305.

 

„Das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe, [...] sey das einzige Kriterium in Kunstsachen“, sagt die Hauptfigur von Büchners Lenz-Erzählung. „Übrigens begegne es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen.“ Lenz

Über Goethes – trotz der Einschränkung – herausragenden Rang sagt Lenz wohl, was Büchner auch selbst gesagt hätte. Büchner schätzte den Morphologen Goethe, las in Dichtung und Wahrheit und nutzte die Werke des jungen Goethe – Urgötz in den Sprachexperimenten des Woyzeck, Egmont in Danton’s Tod, die Gretchentragödie des Faust in Woyzeck, die Gelehrtentragödie des Faust und Werther in Lenz – als Anlass zu produktiver Weiterverarbeitung. Es sind dies Werke, die Goethe in der bis etwa 1776 reichenden Sturm und Drang-Periode entweder publiziert oder konzipiert hat. Deren Kenntnis geht bei Büchner bis in die Schulzeit zurück. Büchner mag auch einige der späteren Werke Goethes gekannt haben; Spuren haben sie kaum hinterlassen. Wahrscheinlich „tönte es“ ihm aus ihnen nicht „entgegen“.

Inhalt
1. Faust, Werther und Lenz beschwören den Erdgeist
2. Vom kleinbürgerlichen Gretchen zur armen Marie
3. „Danton’s Tod“ als Gegenentwurf zu „Egmont“

1. Faust, Werther und Lenz beschwören den Erdgeist

„Die Worte des verschwindenden Erdgeistes: du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir, sie sind es, welche Faust von seiner Höhe in den Abgrund der Verzweiflung hinabstürzen“, schrieb der eben achtzehnjährige Georg Büchner in seinem letzten Schuljahr (Marburger Büchner Ausgabe I.1, S. 127). Anlass der Bemerkung war eine Diskussion nicht über faustisches Streben, sondern über Selbstmord, wozu neben dem Cäsar-Gegner Cato von Utica natürlich auch die Goetheschen Helden Faust und Werther Anlass gaben. Bei seinen Studien zu dem suizidgefährdeten Dichter Lenz, den Goethe in Dichtung und Wahrheit (14. Buch. In: Goethe: Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Stuttgart u. Tübingen 1829, Bd. 25, S. 248) als verspäteten Werther beschrieb, begegnete Büchner dem Thema aufs Neue. Er nutzte Einzelheiten aus Goethes Roman, um weiße Flecken in seinem Lenz-Porträt auszufüllen, und fügte Züge aus Faust hinzu. Und wieder ging es nicht um „das Faustische“, sondern um seelische Vorgänge.

Als Goethes Faust den Erdgeist beschwört, ruft er aus: „Ha! wie’s in meinem Herzen reißt! / Zu neuen Gefühlen / All’ meine Sinnen sich erwühlen!“ (Faust I, V. 477-479) Ist es allzu klinisch-nüchtern, wenn man bei dieser Selbstbeschreibung an Techniken der Autosuggestion denkt? Und bestätigt nicht Mephisto diese Deutung, wenn er über den inzwischen zum Stürmer und Dränger verjüngten Faust spottet: „In Nacht und Thau auf den Gebirgen liegen, / Und Erd und Himmel wonniglich umfassen, / Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen, / Der Erde Mark mit Ahnungsdrang durchwühlen“ (Faust I, V. 3274-3286). Anscheinend beschwört auch der verjüngte Faust den Erdgeist, jetzt freilich ohne Magie.

Der Faust „auf den Gebirgen“ gleicht einem Stürmer und Dränger, und Büchners Lenz ist ihm verwandt. Auf seinem anfänglichen Gang „durch’s Gebirg“ „riß es ihm in der Brust“ – wie zuvor Faust „in [s]einem Herzen“ – und wie dieser „dehnte“ er „sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein.“ Lenz Zuvor schon hatte Lenz wahrgenommen, wie „die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen“. Ähnliche Geräusche hört auch Mephisto bei einer nächtlichen Bergtour: „Hörst du Stimmen in der Höhe? / In der Ferne, in der Nähe? / Ja, den ganzen Berg entlang / Strömt ein wüthender Zaubergesang!“ (Faust I, V. 3952-3955.) Mephisto beschreibt Töne vom Hexensabbat auf dem Blocksberg, während Büchners Lenz nur hört, was man mit etwas Phantasie an einem stürmischen Tag im Gebirge wohl hören kann. So teilt er Fausts Empfindungs- und Verhaltensweisen, ist allerdings aufs Reale reduziert.

Auch dem Werther ist Lenz verwandt. Büchner nutzte den hohen Bekanntheitsgrad des Romans und gewann für die Äußerungen seines Lenz gelegentlich ein Mehr an Bedeutung dadurch, dass er ihn Sätze Werthers sagen ließ. „Doch mit mir ist’s aus“, sagt Lenz zu Oberlin, als der ihn zur Heimkehr zum Vater bewegen will. Lenz „Mit mir ist’s aus“, sagt Werther wiederholt mit leichten Variationen in den Wochen vor dem Selbstmord. „Das fiel auf ihn“, sagt der Erzähler über Lenz Lenz , als der ein Klagelied über die Entfernung von der Geliebten hört. „Das fiel auf sie wie ein Donnerschlag“, heißt es über Werthers Lotte. Gerade nämlich hat Albert sie angewiesen, dem geliebten Freund Pistolen, also die Instrumente für den Selbstmord, auszuhändigen, und die ominösen Worte hinzugefügt: „Ich lasse ihm glückliche Reise wünschen.“ (Goethe: Die Leiden des jungen Werther. In: Goethe: Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Stuttgart u. Tübingen 1829, Bd. 16. S. 185.)

Wie in einem Hohlspiegel versammelte Büchner diese verstreuten Partikel aus Faust und Werther zu Beginn der Erzählung in einem Satz, der zu den längsten der deutschen Literatur gehört und der seine Vorbilder in den Briefen des Werther vom 10. Mai und vom 12. Dezember des hat. Im Brief vom 10. Mai findet sich das unvergessliche, in einen langen Satz gepackte Manifest eines ekstatischen Pantheismus. In einer aufschwellenden Reihe von wenn-Sätzen gibt Werther Naturwahrnehmungen wieder und beschreibt dann in kürzeren abschwellenden dann-Sätzen seine psychischen Reaktionen.

„Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, ich dann im hohen Grase liege; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmennäher an meinem Herzen fühle, und fühledas Wehen des Allliebenden, wenn’s dann um meine Augen dämmert; dann sehne ich mich oft, und denke.“

Der Brief vom 12. Dezember bietet den Absturz und redet von selbstmörderisch-ekstatischem Todesverlangen:

„Und wenn dann der Mond wieder hervortrat, und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich-herrlichem Wiederschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach mit offnen Armen stand ich gegen den Abgrund und athmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinab zu stürzen! dahin zu brausen wie die Wellen! O Wilhelm! wie gern hätte ich mein Menschseyn drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluthen zu fassen!“

Büchner übernimmt in seinem Langsatz die Syntax der pantheistischen Exaltation, erweitert die wenn-wenn-Schwellungen erheblich, findet dabei aber keinen Ruhepunkt im „Wehen des Alliebenden“, sondern deutet vielmehr neben den faustischen Anspielungen auch die Todessehnsucht aus Werthers Brief vom 12. Dezember an:

„Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, [...] oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb [...], riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe that [...].“ Lenz

Dass es bei alledem um den Auf- und Abschwung autosuggestiv herbeigeführter Exaltationen geht, wird später in der Erzählung, in den Tagen vor der versuchten Kindeserweckung und der folgenden Atheismus-Krise, noch deutlicher. Es heißt jetzt: „Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter“, und zwar wohl „nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt hinriß“. Lenz Dies erinnert zum einen an die Worte des Gymnasiasten Büchner über Faust, der „von seiner Höhe in den Abgrund der Verzweiflung hinabstürz[t]“, zum andern an Fausts Selbstcharakterisierung als „der Unmensch ohne Zweck und Ruh? / Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen braus’te / Begierig wüthend nach dem Abgrund zu.“ (Faust I, V. 3349-3351.) Lenz aber hat in dieser Phase die Suche nach dem Erdgeist längst aufgegeben und die Rituale des Sturm und Drang verabschiedet. Er sucht jetzt den christlichen Gott und übt sich in Praktiken christlicher Ekstase, die der Erzähler nüchtern unter dem Stichwort „religiöse Quälereien“ zusammenfasst:

„Er verzweifelte an sich selbst, dann warf er sich nieder, er rang die Hände, er rührte Alles in sich auf; aber todt! todt! Dann flehete er, Gott möge ein Zeichen an ihm thun, dann wühlte er in sich, fastete, lag träumend am Boden. Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei gestorben [...].“ Lenz

Die Verfahrensweisen der Stürmer und Dränger und der christlichen Gottessucher sind geradezu austauschbar. Das scheint bei aller Empathie eine sehr nüchterne Deutung dieser großen literarischen Gestalten.

2. Vom kleinbürgerlichen Gretchen zur armen Marie

Faust ist nicht nur die Gelehrtentragödie, sondern auch das bürgerliche Trauerspiel von Gretchens Verführung und dem anschließenden Kindsmord. Auch Die Soldaten, Lenz’ wichtigstes Theaterstück, handeln von einer Verführung, die dann den Ruin einer bürgerlichen Familie herbeiführt. LZ 4260 Ludwig Büchner 1850  Und Büchners Woyzeck, von Ludwig Büchner als „Fragment eines bürgerlichen Trauerspiels ohne Titel“ bezeichnet, behandelt dieses Thema von neuem. In der Technik der pointierten Kurzszene ist es deutlich von Lenz beeinflusst, und in einer Szene übernimmt Büchner auch den Szenenkopf und die Szenenanweisungen von Lenz:

„Marie sitzt, ihr Kind auf dem Schooß, / ein Stückchen Spiegel in der Hand. / (bespiegelt sich)“ Woyzeck

In Lenz’ Soldaten hieß es:

Mariens Zimmer. Sie sitzt auf ihrem Bette, hat die Zitternadel in der Hand, und spiegelt sich damit, in den tiefsten Träumereien (in: Gesammelte Schriften von J. M. R. Lenz. Hrsg. von Ludwig Tieck. Berlin 1828, Bd. 1, S. 270).

Ein junger Adliger hat Marie mit ins Theater genommen. Zum Abschied hat er ihr eine „Zitternadel“ geschenkt, die er zuvor von Maries Vater erworben hat – auf Rechnung, die er nie bezahlen wird. Eigentlich ist Marie ja mit einem braven Tuchwarenhändler verlobt, aber was ist ein Tuchwarenhändler gegen einen Baron und eine Zitternadel? Lenz setzt die bisher pantomimische Szene so fort: „Der Vater tritt herein, sie fährt auf und sucht die Zitternadel zu verbergen.“ Büchner schreibt: „Woyzeck tritt herein, hinter sie. Sie fährt auf u verste[ckt] den Schmuck“ (Marburger Büchner-Ausgabe VII.1, S. 59). Dann ändert Büchner die Formulierung so: „Sie fährt auf u verste den Schmuck mit den Händen nach den Ohren“. Woyzeck

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Woyzeck H4,4 (Ausschnitt; Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv)

Büchner übernimmt von Lenz die Szenenanweisung zunächst nahezu wörtlich und passt sie dann den Umständen in Woyzeck an. Aus der „Zitternadel“ sind Ohrringe geworden; deshalb der Griff nach den Ohren.

Ohrringe waren es bereits in der Schmuckkastenszene in Faust. Sie sind Teil eines üppigen Werbegeschenks, das Mephisto beschafft hat. Gretchen zieht sich aus, singt dabei das Liebeslied vom „König in Thule“ und findet dann das Kästchen mit den Ohrringen. Büchners Marie bespiegelt sich mit den Ohrringen, sucht sich an die mit dem Geschenk verbundene Erklärung des Gebers zu erinnern, beruhigt ihr Kind, singt ein Liebeslied vom „Zigeunerbu“ und sinniert dann laut über den Schmuck.

Sie putzt sich damit auf und tritt vor den Spiegel
Was ist das? Gott im Himmel! Schau,
So was hab ich mein Tage nicht gesehn!
Ein Schmuck! Mit dem könnt eine Edelfrau
Am höchsten Feiertage gehn.
Wie sollte mir die Kette stehn?

Wenn nur die Ohrring meine wären!
Man sieht doch gleich ganz anders drein.
Was hilft euch Schönheit, junges Blut?
Das ist wohl alles schön und gut,
Allein man läßt's auch alles sein;
Man lobt euch halb mit Erbarmen.
Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach wir Armen!
(Faust I, Vers 2790‑2804)

Marie sitzt, ihr Kind auf dem Schooß, / ein Stückchen Spiegel in der Hand. / (bespiegelt sich) Was die Steine glänze! Was sind’s für? Was hat er gesagt? [...]

(spiegelt sich wieder) S’ist gewiß Gold! Wie wird mir’s beim Tanze stehn? Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel und doch hab’ ich einen so rothe Mund als die großen Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen Herrn, die ihnen die Händ’ küssen; ich bin nur ein arm Weibsbild. Woyzeck

Das ist inhaltlich nahezu gleich. In puncto natürliche Schönheit – so wissen Gretchen und Marie – können sie es mit Herzoginnen oder „großen Madamen“ aufnehmen. Aber Schönheit kommt nicht an gegen Schmuck, den Ausweis von Reichtum und gesellschaftlichem Rang. Sprachlich besonders nahe sind die Sätze „Wie sollte mir die Kette stehn?“ bei Goethe und „Wie wird mir’s beim Tanze stehn?“ bei Büchner. Dieser tilgte dann den Satz mit einer Vielzahl von Kringeln.

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Woyzeck H4,4 (Ausschnitt; Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv) 

Vielleicht schien er ihm zu nahe. Die Unterschiede sind schnell genannt. Gretchen spricht in Versen, Marie in umgangssprachlicher Prosa, die eine hat Ohrringe von echtem, die andere von eingebildetem Wert, bei der einen hängt an der Wand ein Spiegel, die andere hält in der Hand eine Scherbe, die eine pflegte einmal kurzfristig ein Kleinkind, ihren Bruder, die andere zieht ihr „Hurenkind“ in ihrer Kammer auf, und wenn es draußen dunkelt, kann sie sich drin kein Licht leisten.

Woyzeck ist die erste wirkliche Tragödie des gewöhnlichen Lebens. […] Büchner wendete als erster die Feierlichkeit und das Mitleid der Tragödie auf die niedrigste Menschenschicht an“, schrieb der englische Gelehrte George Steiner in seiner Abhandlung Der Tod der Tragödie (Frankfurt a. M. 1981, S. 216 f.; zuerst unter dem Titel: Death of Tragedy. New York 1961). Hier verwirklichte Büchner, was er seinen Lenz fordern lässt: „Man […] senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel“. Er habe „dergleichen versucht“, nimmt Lenz für sich in Anspruch. Lenz Dass dies auch Goethe „manchmal“ gelungen sei, hatte er zuvor schon gesagt.

3. „Danton’s Tod“ als Gegenentwurf zu „Egmont“

Lenz: ein Faust ohne Magie und Mephisto. Marie: ein Gretchen im desolaten Armutsmilieu. Auch in Danton’s Tod, dem dritten Werk mit markanten Goethe-Spuren, verändert Büchner vorgegebene Motive ins Realistische und Härtere. Geradezu gegenläufig dazu verleiht er ihnen aber gelegentlich auch ein Mehr an Bedeutung. Er macht aus dem, was Goethe eher realistisch nüchtern darstellt, Sinnbilder der menschlichen Existenz. Die Rede ist von Egmont, dem 1788 veröffentlichten und also zwischen Sturm und Drang und Klassik angesiedelten Werk Goethes, das auf Danton’s Tod vor allem gewirkt hat.

Wie Danton ist Egmont ein Sympathieträger. Er geht lieber „zum Liebchen“ als zu seinen politischen Geschäften, vertraut seinem guten Stern und tappt prompt in die Falle, die ihn direkt zum Schafott führt. Büchner hat Danton einige dieser Züge verliehen, weitgehend übrigens in Übereinstimmung mit dem historischen Material. „Ils n’oseront pas“, sagte der historische Danton den Quellen zufolge über die feindlichen Pläne seiner Gegner (Louis Adolphe Thiers: Histoire de la Révolution française. Bd. 6, Paris 1825, S. 148). „Nein, sie wagen nicht das Panier der Tyranney so hoch aufzustecken“, sagt Egmont (Egmont II/2). „Sie werden’s nicht wagen“, sagt Büchners Danton (I/5). Danton’s Tod

Auch etliche andere Äußerungen schaffen eine Nähe zwischen den beiden Helden: „Ich bin des Hängens müde“, sagt Egmont (Egmont II/2); „ich will lieber guillotinirt werden, als guillotiniren lassen. Ich hab es satt“, sagt Danton (II/1). Er fährt dann fort: „wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen? Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden.“ Danton’s Tod Wo Egmont eine vereinzelte administrative Entscheidung traf, stellt Danton die Frage nach der Natur des Menschen. Diese Ausweitung der Diskurse ins Universelle lässt sich öfter beobachten. Egmont hasst enge Räume, weil er nun mal so ist. Danton macht aus Kerker und Grab Sinnbilder menschlicher Existenz: „Wir sind Alle lebendig begraben und wie Könige in drei oder vierfachen Särgen beygesezt, unter dem Himmel, in unsern Häusern, in unsern Röcken und Hemden. / Wir kratzen 50 Jahre lang am Sargdeckel“ (III/7). Danton’s Tod

Es passt zu dieser Ausweitung des Horizontes, dass der angebliche Realist Büchner die einschränkenden Gesetze realistischer Dramatik, die Goethe in Egmont gerade respektiert hatte, auch einmal missachtet. Zwei ebenso ähnliche wie unterschiedliche Sterbeszenen – sie betreffen Egmonts Geliebte Clärchen und Dantons Frau Julie – sind dafür ein gutes Beispiel. Clärchen greift heimlich zum Giftbecher, während sie sich im Haus ihrer Mutter mit Brackenburg, ihrem unglücklich liebenden Freund, unterredet (Egmont V/3):

„Halt! Halt! Nun ist die Zeit! mich scheucht des Morgens Ahnung in das Grab. (Sie tritt an’s Fenster, als sähe sie sich um, und trinkt heimlich.) [...] ich geh’ zur Ruhe. Schleiche dich sachte weg, ziehe die Thür nach dir zu. Still! Wecke meine Mutter nicht!“

So schließt Brackenburg die Haustür in aller Stille, damit Clärchens Mutter nicht aufwacht. Es ist beeindruckend, was Büchner dieser doch eher banalen Szene abgewinnt. Auch Julie schließt eine Tür, aber die zwischen Leben und Tod. Und sie schließt sie ebenfalls in aller Stille, damit „kein Hauch, kein Seufzer“ die Erde „aus dem Schlummer wecke.“

„(sie tritt an’s Fenster.)
Es ist so hübsch Abschied zu nehmen, ich habe die Thüre nur noch hinter mir zuzuziehen. (sie trinkt.)
Man möchte immer so stehn.
Die Sonne ist hinunter. Der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch jezt ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. [...] Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, daß kein Hauch, kein Seufzer sie aus dem Schlummer wecke. Schlafe, schlafe.“ (IV/6) Danton’s Tod

Reinhold Grimm hat Danton‘s Tod als Gegenentwurf zu Egmont bezeichnet und festgestellt, dass Goethe in seinem 1788 publizierten Drama trotz aller tragischen Züge noch die heitere Gewissheit des vorrevolutionären Schriftstellers bewahre (Reinhold Grimm: Danton’s Tod – ein Gegenentwurf zu Goethes Egmont? in: Germanisch-romanische Monatschrift, N. F. 33 (1983), S. 424–457). Büchners Stück sei dagegen geprägt von nachrevolutionärer Verdüsterung. Ein gutes Beispiel hierfür ist Egmonts oft zitierte Allegorie der „Sonnenpferde“ seines Schicksals, die er in diesen unruhigen Zeiten nur schwer auf der Bahn halten kann.

„Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als muthig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken.“ (Egmont II/2)

Danton hat weder „Sonnenpferde“ noch „Zügel“; er wird geschleift.

„Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung, ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt’ ich in ihrer Mähne und preßt’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gebückt, die Haare flatternd über dem Abgrund. So ward ich geschleift. [...]
Puppen sind wir, von unsichtbaren Gewalten am Draht gezogen.“ (II/5) Danton’s Tod

Diese nachrevolutionäre Verdüsterung ließ Büchner härter werden. Bei Goethe unterhalten sich zwei Handwerker so:

Zimmermeister. Ein schöner Herr! 
Jetter. Sein Hals wär’ ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter. Es ist mir nun so. Wenn ich einen schönen langen Hals sehe, muß ich gleich wider Willen denken: der ist gut köpfen. (Egmont II/1)

Die Parallele in Danton’s Tod lautet:

„1. Weib.  Ein hübscher Mann, der Hérault.
2. Weib.  Wie er beym Constitutionsfest so am Triumphbogen stand da dacht’ ich so, der muß sich gut auf der Guillotine ausnehmen, dacht’ ich. Das war so ne Ahnung.“ (IV/8) Danton’s Tod

Die ständigen Gewaltszenen haben Jetters Phantasie verrohen lassen, aber sein moralischer Sinn ist intakt. So fügt er erschrocken hinzu: „Die verfluchten Executionen! Man kriegt sie nicht aus dem Sinne.“ Wenn bei Büchner das „2. Weib“ davon schwärmt, wie die Schönheit des Delinquenten Hérault bei der Guillotinierung so richtig zur Geltung kam, so erschrickt sie keineswegs, sondern präsentiert sich mit der geschwätzigen Selbstgefälligkeit einer Vorstadtprophetin, die wieder mal recht hatte. Die Schreckbilder des Terrors haben hier wahrhaft schreckliche Folgen.

Literaturhinweis:

Reinhold Grimm: Danton’s Tod – ein Gegenentwurf zu Goethes Egmont? in: Germanisch-romanische Monatschrift, N. F. 33 (1983), S. 424–457.

 

Zuletzt bearbeitet Dezember 2016