4.4. Zürich zur Zeit Georg Büchners
Die Stadt Zürich, seit dem 10. Jahrhundert urkundlich als Stadt erwähnt und seit 1217 Freie Reichsstadt, war nach dem Austritt der Schweizer Eidgenossenschaft aus dem Heiligen Römischen Reich von 1648 bis 1798 eine souveräne Stadtrepublik. Bereits während des 14. und 15. Jahrhunderts hatte sie sich durch Kauf und Eroberung umfangreiche Territorien angeeignet, die in Größe und Lage weitgehend dem späteren Kanton Zürich entsprachen und der Stadt bis zur Eroberung durch französische Truppen im Jahr 1798 untergeordnet blieben. Die andauernde Benachteiligung des Landes gegenüber der wirtschaftlich und politisch dominanten Stadt führte jedoch zu anhaltenden Konflikten, die auch noch die Verfassungsauseinandersetzungen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bestimmten. Die Verfassung der 1798 unter Napoleon begründeten Helvetischen Republik schrieb zwar erstmalig die politische Gleichstellung der Stadt und der Landschaft Zürich fest, doch wurde diese nach dem Abzug der französischen Truppen schon in der föderalistischen „Mediationsakte“ von 1803 wieder zurückgenommen, die nach dem Sturz Napoleons im Jahr 1815 eingeführte Kantonsverfassung hob sie dann zur Gänze wieder auf. Weil die neue, in der Stadt Zürich ansässige Kantonsregierung außerdem wichtige Infrastrukturmaßnahmen in der sich industrialisierenden Züricher Landschaft offensichtlich zugunsten der städtischen Industrie vernachlässigte, verstärkte sich insbesondere im Umfeld der Pariser Julirevolution von 1830 die revolutionäre Stimmung. Am 22. September 1830 forderten rund 10.000 Landbewohner in der Ortschaft Uster bei Zürich die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Regierung beschloss daraufhin die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. 1831 wurde Zürich als „liberaler Freistaat mit repräsentativer Verfassung“, die neben der Gleichberechtigung von Stadt und Land auch Gewaltentrennung, Volkssouveränität sowie Presse- und Gewerbefreiheit garantierte, zu einem Vorbild für liberale Bestrebungen in ganz Westeuropa (vgl. Gordon A. Craig: Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830–1869. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber. München 1988, S. 56 f.).
Für Georg Büchner, der im Oktober 1836 von Straßburg hierher übersiedelte, mussten Zürich wie auch die Schweiz insgesamt als ein außerordentlich erstrebenswertes Lebens- und Arbeitsumfeld erscheinen. Wenngleich auch hier die politische Dominanz der Geldaristokratie nicht zu übersehen war, war die Schweiz als föderativer Staat mit republikanischer Verfassungsform, parlamentarischer Demokratie und bürgerlichen Einrichtungen bei gleichzeitiger geringer Steuerlast für die Bürger und ohne ein stehendes Heer zu jener Zeit doch das einzige republikanische Staatswesen innerhalb des europäischen Mächtesystems. Mit ihrem liberalen Asylrecht und ihren Grenzen zu Bayern, Württemberg, Baden, Frankreich, Italien und Österreich war sie eines der wichtigsten Asylländer für politische Flüchtlinge. Eben deshalb wurde sie von den restaurativen Mächten in Europa als Bedrohung wahrgenommen. Zumal in den deutschsprachigen Ländern waren Zeitungen aus der Schweiz vielfach verboten, das Land wurde als Ausbund moralischen und politischen Verfalls verschrien. In einem Bericht der Karlsruher Zeitung vom Februar 1834 heißt es:
„Völlerei, Unzucht, Raub, Mord und Brand nehmen in der Schweiz überall mit einer furchtbaren Schnelligkeit überhand; der Gehorsam gegen die Obrigkeit ist überall verschwunden, Achtung vor dem Gesetz dahin. Die Schweiz gleicht einem Schiffe [sic] mit trunkenen Matrosen bemannt, aber ohne Steuermann.“ (Zit. nach Heinrich Schmidt: Die deutschen Flüchtlinge in der Schweiz 1833–1836. Zürich 1899, S. 41)
In einem Brief an die Eltern vom 20. November 1836 bezieht sich Georg Büchner auf die negative Propaganda gegenüber der Schweiz und stellt seine eigene positive Anschauung dagegen:
„Was das politische Treiben anlangt, so könnt Ihr ganz ruhig sein. Laßt euch nur nicht durch die Ammenmährchen in unseren Zeitungen stören. Die Schweiz ist eine Republik, und weil die Leute sich gewöhnlich nicht anders zu helfen wissen, als daß sie sagen, jede Republik sei unmöglich, so erzählen sie den guten Deutschen jeden Tag von Anarchie, Mord und Todtschlag. Ihr werdet überrascht sein, wenn ihr mich besucht; schon unterwegs überall freundliche Dörfer mit schönen Häusern, und dann, je mehr Ihr Euch Zürich nähert und gar am See hin, ein durchgreifender Wohlstand; Dörfer und Städtchen haben ein Aussehen, wovon man bei uns keinen Begriff hat. Die Straßen laufen hier nicht voll Soldaten, Accessisten und faulen Staatsdienern, man riskirt nicht von einer adligen Kutsche überfahren zu werden; dafür überall ein gesundes, kräftiges Volk, und um wenig Geld eine einfache, gute, reinrepublikanische Regierung, die sich durch eine Vermögenssteuer erhält, eine Art Steuer, die man bei uns überall als den Gipfel der Anarchie ausschreien würde.“ 20. November 1836. An die Eltern in Darmstadt
Die „Gesellschaft der Menschenrechte“ in Gießen Gerade die letztgenannte Frage der Steuergesetzgebung bildet einen Schwerpunkt der politisch-ökonomischen Überlegungen, die Büchner im Hessischen Landboten ausformuliert hatte. In der Steuergesetzgebung der Schweiz sah er sein Programm zum Teil verwirklicht.
Die erst im Jahr 1833 gegründete Züricher Universität entsprach dem liberalen Geist von Stadt und Kanton. Am 29. April 1833 von der neuen Züricher Regierung feierlich eröffnet, war die Universitas Turacensis die erste Universität Europas, die nicht von der Kirche oder einem Landesfürsten sondern durch ein demokratisches Staatswesen ins Leben gerufen worden war. Im ersten Semester waren 161 Studenten immatrikuliert, 16 davon im Fach Theologie, 26 in Jurisprudenz, 98 im Fach Medizin und 21 in der Philosophie. 26 Professoren und 29 Privatdozenten waren 1833 an der Züricher Universität tätig, überdurchschnittlich viele der Neuberufenen stammten aus Deutschland, die meisten von ihnen waren aus politischen Gründen nach Zürich emigriert. Das galt auch für den ersten Rektor der Universität, den renommierten Naturforscher, Philosophen und vergleichenden Anatomen Lorenz Oken. Er soll, wie Ludwig Büchner später berichtete, von Georg Büchners Probevorlesung derart „entzückt“ gewesen sein, dass er den Studenten seine Lehrveranstaltungen „vom Katheder herab“ empfahl und auch „seinen eigenen Sohn in dieselben“ schickte.
Text: Maximiliane Jäger-Gogoll (Juni 2014)