LZ 822 und LZ 823
Ludwig Büchner: Briefe an Wilhelmine Jaeglé; 1844 und 1845

LZ 822
Ludwig Büchner: Brief an Wilhelmine Jaeglé in Straßburg; Darmstadt 31. September 1844

Darmst. d. 31: Sept. 44.

Liebe Minna!

Schon fange ich an, Dich einstweilen brieflich zu belästigen; ich habe ja weiter Niemand, als Dich, als Leitfaden in der großen, französischen Stadt, in die der deutsche Musenjüngling nächstens seine bescheidenen Schritte lenken wird. Ich habe schon Bekümmernisse darüber gehabt, wie ich mich wohl ausnehmen würde in meinem deutschen Studentenaufzug unter den wälschen Philistern. Ich bitte daher um einige Data über die Art der Kleidung bei dem französ. Studentenvolk, damit ich mein neu zu richtendes Costüm etwas darnach einrichten kann. Die langen Haare werde ich wohl der tödtenden Scheere überliefern müssen; Nicht? Und wie sieht es mit der Mütze aus u.s.w.? Seitdem Du mich nicht gesehen hast, bin ich aus einem nordamerikanischen Wilden ein ganz zahmer Europa-Junge geworden, der sich in Allem dem Bestehenden zu conformiren sucht; ich pflege mich nicht mehr gegen die eindringende Cultur zu sträuben. Ich komme soeben von einer großen Rheinreise zurück, die mich über Manches belehrt hat. Ich habe den Kölner Dom gesehen und die belgische Eisenbahn; ich habe Ehrenbreitstein gesehen und in Trier Buße gethan vor dem heiligen Rock; ich komme sündenfreier, als der Heiland selber, nach Straßburg. Hast Du nicht auch Lusten, einmal zu wallfahrten? oder hast Du es nicht nöthig? Wie? – Doch über all’ den Geschichten vergesse ich, warum ich eigentlich schreibe. Du sollst mir eine Logis miethen, d. h. Du sollst so gut sein, wenn Du willst. Die Wahl überlasse ich Deinem Geschmack, er ist auch der meinige, und Deine Verantwortlichkeit demnach groß. Wenn es Dir nur nicht zu viele Mühe macht, liebes Schwesterchen! Ich habe wohl das Recht, so zu sagen; ich bin ja jetzt groß und alt, und Du bist klein und – freilich – älter.

Aber ich bin noch nicht fertig mit Verlangen. Außer dieser Mühe will ich Dir noch eine andere, fast größere machen; ich will einen Brief von Dir haben. Ich will wissen, wann die Collegien ihren Anfang nehmen; ich denke wohl, den 1: November; ich komme dann schon ungefähr den 20: Oktober, damit ich mich mit Ruhe und Verstand einrichten kann. Gibt es denn nicht ein Verzeichniß der im nächsten Curs zu haltenden Vorlesungen, das Du mir etwa schicken könntest? es wäre mir dies sehr angenehm. Welche Geldsorte nehme ich wohl am besten von hier mit? Es wird meinem Verstand Mühe kosten, bis er die neue Geldrechnung begriffen hat. Wie ist es mit der Mauth zwischen Straßburg und Kehl? werden alle meine Sachen sämmtlich ausgepackt? Das wäre schrecklich. Existiren Fiaker, die Einem von Kehl nebst Gepäck hinüberbringen? Wieviel Studenten sind in Straßburg? ich habe gehört, diese Leute ständen in großer [Mi] Verachtung dort; und die Universität sei nach Art der Schulen eingerichtet. Ist das wahr? Du siehst, Fragen über Fragen, die Du alle beantworten sollst, Du Arme, Fragen, [++] über deren manche Du selbst vielleicht nichts weißt. Nun, mache es, so gut Du kannst, ich werde Dir unendlich dankbar sein, und werde Dir in Straßburg thun, was Du irgend willst.

Willst Du vielleicht etwas von Darmstadt wissen? ich kann Dir wenig sagen; ich bin selbst erst seit 2 Tagen da. Es sieht aus, just so, wie früher breit, weit, leer, todt. In der Mitte ein neues Ludwigs-Monument; oben auf ein eherner Großherzog, der mit langweiliger und trübseliger Miene auf sein langweiliges und trübseliges Land und ditto Volk heruntersieht. Ich freue mich, bald wieder an den Rhein zu kommen, ich habe das Heimweh nach dem edeln Strom und seinen lebenslustigen, zutraulichen Bewohnern, das Heimweh nach Eisenbahnen und Dampfschiffen. Mathilde gibt mir soeben einen Brief zum Einlegen; sie wird Dir wohl etwas über unsre Familienfreuden u.s.w. schreiben; ich unterlasse das.

In der Sehnsucht, bald einen Brief zu erblicken, verbleibe ich in unverbrüchlicher Treue

Dein Bruder Louis.

Meine Handschrift ist erbärmlich; entschuldige mich; ich habe seit 4 Wochen zum Erstenmale wieder eine Feder in der Hand.

Überlieferung
H: GSA Weimar


LZ 823
Ludwig Büchner: Brief an Wilhelmine Jaeglé in Straßburg; Darmstadt Februar 1845

Darmstadt, den    Februar 1845.

Liebe Minna! Mein zweiter Brief hat wohl lange auf sich warten lassen; Du wirst mir nicht böse sein. Ein Brief von Mathilde, den ich auf die Post tragen sollte, hat mich an meine Pflicht erinnert. Ich dachte nicht, daß es schon so lange her sein könne als ich meinen ersten Wisch nach Straßburg schickte, und doch – wenn ich mich umsehe, so sehe ich 2 lange Monate dazwischen liegen und fühle, wie ein neues Jahr an uns herankriecht. Die Zeit muß 100 Meilen-Stiefel tragen; wenn wir nur nicht alt dabei würden! Es überläuft mich ein Schauder, wenn ich an meine 21 Jahre denke, und daß ich noch nichts gethan, und daß Andre um diese Zeit schon doctores u. Gott weiß was Alles waren. Ich möchte mit Alexander d. Gr. rufen – doch Du weißt, was er gerufen hat. Vielleicht kommt mir der Verstand erst im 23: Jahr wie dem Goethe. Ein schlechter Trost! – Manchmal denke ich, ungefähr so wie man im Traume denkt, ich sei in Straßburg gewesen, dann sehe ich im Geiste die Eisenbahn, das Münster, die Douane, die alterthümliche Stadt, die enge Schustergasse, ein Haus mit einer Schelle und einem Portier, eine Wendeltreppe, deine behägliche Wohnung, die Stühlchen und die Rechenmaschine, die kleine Minna, die schöne Madam Schmidt, den stummen Onkel; dann steigen aus der dunkeln Tiefe die Geister eines Reuß’schen Ehepaars, eines Baum und Böckel auf, dann sehe ich wieder meine Restauration und den Knoblauchsalat, oder d Salle d’anatomie oder eine Wohnung auf dem alten Fischmarkt u.s.w. Das Ganze drängt sich in lebhaft in einen großen Rahmen; plötzlich ist Alles vorbei und ich zweifle manchmal, ob es Schein war oder Wirklichkeit. – Man hat hier allerhand Hypothesen auf meine Rückkehr gebaut; die Familie ist überzeugt, ich hätte ds Heimweh gehabt und läßt es sich nicht ausreden. Ich weiß, daß mir kein Beweggrund ferner lag, als dieser, und zwar mit großem Rechte. Ich sehne mich jetzt ebenso sehr von hier weg, als ich mich vor 2 Jahren hierher gesehnt habe, oder vielmehr, ich sehne mich gar nicht mehr; ich weiß nicht, nach was ich mich sehnen soll, ich habe mich aus Noth in einen geistigen Indifferentismus begraben. Die Verhältnisse sind es, die uns zu Grunde richten, des bin ich fest überzeugt, die Verhältnisse! Man spricht nicht mit Unrecht von einem Dämon in der deutschen Litteratur, der Dämon hat mehr Opfer verschlungen, als es den Anschein hat; er thut sein Werk im Stillen. Man hat gut reden von Überwinden der Verhältnisse, von Zusammenraffen und dergl. Dingen. Wenn Einer eine wasserlose Wüste durchwandelt und todtmüd und lechzend und verkrüppelt am andern Ende ankommt, dann hat er wohl keinen Lusten mehr, Seiltänzerkünste vor der Welt zu machen. Ich werde überwinden, mich zusammenraffen, um den Taglohn arbeiten, ja, es ist immer besser, ein Hundeleben führen, als gar keins; aber die Freude ist dahin, und von Lohn ist keine Rede.

Recht schmerzlich hat mich Dein abermaliger doppelter Verlust berührt. Ds Schicksal hat Launen. – Wie hast Du die Weihnachten zugebracht? Hast einen Baum geputzt? Ds interessirt mich all, weil ich so nahe daran war, es mitzumachen, und – ich hoffe auf eine verdiente Antwort. Du hast ja ++++dlich viel Zeit mit mir verplaudert; so wirst Du [eine] auch eine halbe Stunde schriftlich plaudern können. Wie stehen Deine Angelegenheiten wegen der zu gründenden Lehranstalt?

Ich habe Dir, soviel ich weiß, noch Nichts in Bezug auf jenes Mädchen geschrieben, dessen Fall uns in so große Unruhe versetzt hat. Es war die Tochter eines hiesigen Arztes, den ich nicht kannte, im Begriff, sich einige Wochen später zu verheirathen. Sie fiel beim Ausschütteln ihres Hochzeitteppichs. Man zweifelte lange an ihrem Aufkommen, die Verlobung wurde in Folge des Sturzes aufgehoben; sie selbst ist halb verrückt (in Folge des Sturzes) vom Krankenlager aufgestanden. Jetzt sitzt sie da und betrachtet mit stierem Blick ihre Hochzeitgeschenke. Ds ist schön, nicht wahr? o über ds edle Wesen, das Mensch heißt! und über die unendliche Barmherzigkeit des Himmels!

Was sagst Du denn zu dem folgenreichen Ereigniß, das sich in der katholischen Kirche zugetragen hat? wenn der Saame hinüber fliegt nach Frankreich, dann könnt ihr eine große Umwäl[t]zung bekommen, und euer Münster hört vielleicht noch die Autorität des Papstes in seinen Hallen verfluchen. Wenn er nur nicht vor Schauder zusammenzittert! Es ist immer ein Fortschritt und zu loben. Der europäische Staat war zwar dem Inhalt nach schon lange frei von den hierarchischen Fesseln, doch es ist Zeit, daß er sich auch in den Formen freimache, und dazu ist er auf dem besten Wege.

Wir haben hier vor 2 Wochen einen Maskenball bei Onkel Reuß gehabt, nach Art desjenigen, welchem Du vor 2 Jahren beigewohnt. Doch war er dießmal bei weitem brillanter. Ich habe mein Möglichstes gethan und bin in 4 verschiedenen Formen aufgetreten. Zuerst als Mephistopheles, dann als französischer Bauer, als welcher ich eine Quadrille tanzen half, welche einen allgemeinen Enthusiasmus hervorbrachte; dann erschien ich als ein Ablaßkrämer und hielt eine wohlgesetzte mittelalterliche Rede in Versen an die verderbte Welt, führte aber zugleich 50 heilende Zettel bei mir für die Sünden der mannichfaltigsten Art. Denke Dir, 50 Ablaßzettel in zierlichen Reimen; ds war keine Kleinigkeit für den Dichter; und alle pikant und verdaulich zu gleicher Zeit. Nicht wahr, ich verstehe mich zu loben? Außerdem hatte ich aber noch eine heroische Travestie auf die Antigone von Sophokles in Gemeinschaft mit Louise und Alexander gedichtet, und so folgte denn als Krone des Abends die Aufführung dieser schauerlichen Tragödie in altgriechischen Gewändern. Ich erntete als König Kreon einen ungetheilten Beifall, und seitdem bin ich auf alle Fälle beruhigt wegen meiner Zukunft. Man hat mir erklärt, ich sei ein vollendeter Schauspieler.

Du siehst, liebe Minna, ds Papier (ds schlechte) geht zu Ende, und obwohl ich Dir noch Manches zu erzählen wüßte, muß ich doch schließen, indem ich um Verzeihung bitte, daß ich in meinem Brief so viel von meiner eignen Person geredet. Ich freue mich recht sehr auf Deine Hierherkunft zu Ostern; Du wirst Wilhelm als zärtlichen Ehegemahl finden. Wen Du von meinen Straßburger Verwandten {etc} siehst, den grüße vielmals in meinem Namen; besonders Madam Schmidt. Ein junger Mensch, Student, den ich in Straßburg kennen gelernt, hat mich kürzlich auf seiner Durchreise

Überlieferung
H: GSA Weimar; d (Ausschnitt): Hauschild 1985, S. 74 f.

Text
Auf einem Doppelblatt, bis zum Ende von S. 4 eng beschrieben; Textschluss, vmtl. auf einem Beilegblatt, nicht überliefert. 

Eingestellt Juni 2017