LZ 4280
Wilhelmine Jaeglé : Brief an Eugen Boeckel in [Paris]; Straßburg 5. März 1837

Straßburg den 5. März.

Werther Freund!

Sie versagen mir wohl den Trost nicht, mich Ihnen, dem treuen Freunde meines geliebten George, schriftlich zu nähern? Es ist mir Erleichterung, auch glaube ich ganz im Sinne meines theuern Heimgegangenen zu handeln, wenn ich Ihnen von seiner letzten Lebenszeit spreche, da Sie ja gewiß unbekannt sind mit den genauern Umständen seines Todes. Sontag d 12 erhielt ich einen Brief von fremder Hand, man meldet mir daß George ein gastrisches Fieber habe. Blos fünf Worte von ihm selbst geschrieben, sagen mir daß er lebt, sonst hätte ich gleich das Schrecklichste geahnet. Übrigens ließ er mich beruhigen; da er wieder auf dem Wege der Beßerung sey. Ich war auf der Folter, ich wollte fort, hin zu ihm eilen, seine Pflege übernehmen; man ließ mich nicht gehen. Montag, Dienstag ohne Nachricht. Dienstag packte ich zusammen mit dem Bedeuten daß ich mich jetzt nicht mehr halten ließe. Ich war dem Wahnsinne nahe. Da mußte man sich nach einer Begleiterin umsehen, weil man meinen Bruder, der sich losgemacht hätte, nicht für hinreichend fand mich zu beschützen! O armselige Rücksichten. Endlich trat ich Mitwoch Abend mit dem Kehler Eilwagen meine Reise an, und kam erst Freitag morgens gegen 11 Uhr in Zürich an. Ich mußte den Ausspruch von Dr Schönlein, der zwischen 12-1 Uhr kam, abwarten. Es hieß für den Kranken könne mein Anblick nicht schädlich wirken, denn er würde mich ja doch nicht erkennen – aber mir dürfe man nicht gestatten das entstellte Antlitz zu schauen. Sie können denken daß sobald nur mein Ich in Betracht kam, man mir den Eingang ins Krankenzimmer nicht mehr wehren durfte. Dr Zehnder führte mich hinein, noch vor der Thüre sagte er mir: fassen Sie sich, er wird Sie nicht kennen. Nein, er wird mich kennen, war meine Antwort. Und er hat mich erkannt, er fühlte meine Nähe und ich habe Ruhe über ihn gebracht. Er ist sanft eingeschlummert, ich habe ihm die Augen zugeküßt, Sontag d 19 Feb. um halb 4. Der Jammer der Eltern ist gränzenlos. Über meine übrigen Lebenstage ist ein schwarzer Schleier geworfen. Der Himmel möge sich meiner erbarmen und mich nur noch so lange leben lassen, als meinen alten Vater. Leben Sie wohl, Sein Freund ist auch der Meinige. W Jägle.

[Adresse:]

Monsieur / Mr. E. Boekel.

Überlieferung
H: ZB Zürich, Nachlaß Boeckel, Ms. Z. XII 384, Nr. 9; d1: Strohl 1936a, S. 78 f.

Erläuterungen
Vgl. die Darstellung in LZ 4270 Caroline Schulz: Bericht über Krankheit und Tod
Als Begleiterin fungierte Margareta Salome Schmidt, die Frau eines Straßburgers Pfarrers. 

Eingestellt Juni 2017