3.1. Einleitung zu: Schülerschriften und Schulhefte

Von dem Schüler Georg Büchner ist ein handschriftlicher Nachlass überliefert, der etwa 700 Seiten umfasst und in dem sich die „geistige Erziehung und Entwicklung“, die Ausbildung seiner dichterischen „Schreibtechniken“ sowie die „praktische Umsetzung des neuhumanistischen Bildungsideals“ detailliert nachverfolgen lassen (Susanne Lehmann, Editionsbericht, in: Marburger Büchner Ausgabe I.2., S. 25). Wir unterscheiden zwischen Schulheften (die nur in geringem Maße oder gar nicht als selbständige Leistung Büchners gelten können) und Schülerschriften mit Texten, in denen Büchner seine Sätze und Gedanken selbständig formulierte.

Schulhefte

Überliefert sind 23 Hefte (chronologisch geordnet) mit folgenden Inhalten:

1. Einheimische Gartenpflanzen
2. Fragen und Antworten aus der ebnen Geometrie
3. Geographie (Italien, Schweitz, Asien)
4. Übungssätze zur lateinischen Syntax
5. Grundlagen der deutschen Syntax
6. Gedichte
7. Aufsätze
8. Lateinische Übungsstücke über griechische Mythologie
9. Römische Geschichte am Ende des Weströmischen Reiches
10. Prosodik
11. Übersetzung aus Homer: Odyssee
12. Übersetzung aus Sophokles: Aias
13. Übersetzung aus Thukydides: Der Peloponnesische Krieg
14. Geschichte Roms
15. Übersetzung von Ciceros 1. Rede gegen Catilina
16. Übersetzung von Ciceros Rede für Marcus Marcellus
17. Übersetzung aus Homer: Ilias
18. Definitionen aus der Sittenlehre
19. Von der Lyrischen Poesie (der Griechen)
20. Antike Bildhauerei
21. Antike Kleinplastik und Münzkunde
22. Malerei und Farbenlehre
23. Techniken des Holzschnitts usw., vier Kritzelseiten

5 S.
7 S.
26 S.
6 S.
4 S.
ca. 15 S.
4 S.
6 S.
3 S.
1 S.
14 S.
7 S.
6 S.
24 S.
11 S.
ca. 5 S.
44 S.
3 S.
7 S.
11 S.
8 S.
9 S.
7 S.

(Text in Marburger Büchner Ausgabe I.1.)

Gelegenheitsgedichte und Schülerschriften

Im Nachlass Büchners bis heute erhalten sind einige Gelegenheitsgedichte des fünfzehn- und sechzehnjährigen Gymnasiasten. Das älteste ist ein zu Weihnachten 1829 entstandenes und den Eltern gewidmetes Gedicht mit dem Titel "Die Nacht" Schülerschriften. Zum Geburtstag der Mutter am 19. August - und zwar vermutlich 1829 - schrieb Büchner ein weiteres Gedicht mit dem Strophenanfang  „Gebadet in des Meeres blauer Flut“ Schülerschriften , das uns nur in der Abschrift Luise Büchners überliefert ist. Um dieselbe Zeit oder wenig später entstand auch das Gedicht „Leise hinter düstrem Nachtgewölke“ Schülerschriften. Alle drei Gedichte zeigen beachtliche sprachliche Geschicklichkeit; durch besondere Originalität zeichnet sich keines von ihnen aus. Das erste ist im Thema und den Bildern der christlichen Gebrauchslyrik verpflichtet, das zweite ist zusätzlich mit mit antiken Bildungsreminiszenzen angereichert, das dritte enthält  Motive der inzwischen bereits trivial gewordenen Schauerromantik. Büchner schrieb später in das Stammbuch von August Stöber "Verse kann ich keine machen" (vgl. Marburger Büchner Ausgabe Bd. X.2, S.11). Richtig ist wohl, dass er später keine Verse mehr machen wollte. Eine Ausnahme ist möglicherweise das Lied der Rosetta in Leonce und Lena I,3 Leonce und Lena , für das keine Vorlage  bekannt ist.

Im Unterschied zu den Schulheften behandelte Büchner in den eigentlichen „Schülerschriften“ zwar auch vorgegebene Themen und Aufgaben, war jedoch hier gehalten, im Aufbau, den Formulierungen und den Gedanken seine Selbständigkeit zu demonstrieren. Alle drei Schülerschriften handeln vom freiwilligen Tod. Um den kollektiven „Heldentod“ im Krieg geht es im „Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer“, um den politisch-idealistischen Opfertod in der „Kato-Rede“, um Suizid und christliche Ethik in der „Rezension“ des Aufsatzes eines Mitschülers.

Im „Helden-Tod“-Aufsatz Schülerschriften (geschrieben Wintersemester 1829/30 im Fach „Teutsch“) propagiert Büchner im wesentlichen politische Ideen der antinapoleonischen Bewegung, die auch von Teilen des Lehrerkollegiums vertreten wurden. Vorgegeben war ihm ein im südwestdeutschen Raum mehrfach behandeltes fiktives „Ereignis“, das man jedoch für historisch verbürgt hielt. Vierhundert protestantische Bürger Pforzheims hatten angeblich zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges in einer Schlacht ihr Leben geopfert, um den Rückzug ihres Fürsten zu decken. Ernst Ludwig Posselt, der Erfinder dieser Kriegs-Anekdote[1], hatte die Stoßrichtung der hier geforderten Lobrede bereits vorgegeben. Die Pforzheimer sterben für ihren Fürsten und für die Freiheit ihres Glaubens Schülerschriften . Zugleich beweisen sie mit ihrem Tod die Gleichheit, wenn nicht Überlegenheit der modernen über die antike Gesinnung. Im Vergleichsfall, der Schlacht im Thermopylen-Pass unter dem Spartaner Leonidas im Jahre 480 v. Chr., waren es nur dreihundert Spartaner, also eine geringere Zahl, die sich im Kampf gegen ein übermächtiges persisches Heer aufopferten. Schülerschriften

Die Gleichstellung des modernen mit dem antiken Heroismus, der Zuwachs an idealistischer Gesinnung, den die Reformation gebracht habe, das Aufbegehren der Deutschen gegen zentralistische Machtinhaber – sei es gegen die Römer, die katholische Dynastie der Habsburger oder schließlich gegen Napoleon –: all dies waren beliebte politische Themen im Umkreis der antinapoleonischen Bewegung vor allem in den südwestdeutschen Kleinstaaten und also auch an Büchners Gymnasium.

Die „historischen“ Einzelheiten und Floskeln nahm Büchner aus Posselt Schülerschriften, außerdem einzelne Sätze und auch längere Passagen aus Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (Erstdruck 1808, 2. Aufl., Leipzig 1824), einem der wichtigsten Manifeste der antinapoleonischen Nationalbewegung, das die Untersuchungsbehörden des deutschen Bundes allerdings nach 1820 bereits auf den politischen Index gesetzt hatten. Weiterhin verwendete er Elemente aus Johannes Müllers Darstellung des Fürstenbundes[2], einer föderalistisch argumentierenden Schrift eines bedeutenden Schweizer Historikers. Die Büchners Aufsatz mitbestimmende Vorstellung eines im Mittelalter noch ausgeübten Rechts der Deutschen auf politische Teilhabe und Mitbestimmung taucht 1834 im Hessischen Landboten wieder auf Der Hessische Landbote , wie überhaupt Teile des Landboten sprachlich an Büchners „Helden-Tod“-Aufsatz erinnern. Diese Teile wurden deshalb von der Forschung als dem gereiften Büchner fremd beurteilt und - meines Erachtens zu Unrecht - dem Mitautor Friedrich Ludwig Weidig zugeschrieben.[3] Wie Vorausweisungen auf Danton‘s Tod und auf Büchners für später bezeugte Bejahung der Französischen Revolution wirken außerdem Hinweise auf die Revolutionskriege der 1790er Jahre und die erstaunliche Beurteilung der Französischen Revolution als ein „Kampf“,

„der die Menschheit in ihrer Entwickelung um mehr als ein Jahrhundert in gewaltigem Schwunge vorwärtsbrachte, der in blutigem, aber gerechten Vertilgungs-Kampfe die Greuel rächte, die Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der leidenden Menschheit verübten [...].“ Schülerschriften  

In der „Kato“-Rede Schülerschriften (vorgetragen bei einer Schulfeier am 29. September 1830) verteidigt Büchner den römischen Patrizier Marcus Porcius Cato, der nur als freier Römer und nur in einer Republik leben wollte und sich folgerichtig das Leben nahm, als er dem künftigen Gewaltherrscher Cäsar im Krieg unterlag. Dessen Versöhnungsangebot schlug er aus. Der Zeitgenosse Marcus Tullius Cicero diskutierte in der Schrift De officiis Catos Suizid ausführlich und kam zu dem Schluss, er habe dem Charakter des Cato entsprochen und sei deshalb ebenso anzuerkennen wie bei anderen Bürgern die Unterwerfung unter den neuen Herrscher. Spätere römische und einige neuzeitliche neo-stoizistische Schriftsteller übernahmen dieses Urteil. Die christliche Morallehre verurteilt den Selbstmord bekanntlich uneingeschränkt als Ungehorsam gegen Gott.

Hauptvorlage für Büchners Rede war eine von dem Aufklärungsphilosophen Christian Garve publizierte, reich kommentierte Übersetzung von Ciceros De officiis.[4] Garve ließ darin Ciceros Satz von der Übereinstimmung zwischen Handlung und Charakter nicht gelten und argumentierte, eine so fehlerhafte Handlung wie den Selbstmord könne nur ein fehlerhafter Charakter begehen. Anstatt starrsinnig an der Idee der Republik festzuhalten, hätte sich Cato in die neuen Verhältnisse „schicken“ sollen. Dem widerspricht Büchner vehement. Schülerschriften Zunächst schon könne man „einen alten Römer“ nur nach den Grundsätzen der stoischen Ethik beurteilen, keinesfalls aber „nach dem Katechismus kritisiren“. „Katos große Seele war ganz erfüllt von einem unendlichen Gefühle für Vaterland und Freyheit“. Schülerschriften Da er umgeben von Sklavenseelen „in einer so heillosen Zeit“ lebte, konnte er sich die Freiheit nur im Tode bewahren. Und selbstverständlich werde ein Mensch wie Cato nie bereit sein, sich zu „schicken“, also „sich in eine seinen heiligsten Rechten, seinen heiligsten Grundsätzen widersprechende Lage zu finden“. Wer hier nach dem Nutzen oder Schaden einer Handlung frage, „der hat weder Roms Art erkannt, noch Katos Seele, noch den Sinn des menschlichen Lebens.“ Schülerschriften Büchner zitierte an dieser Stelle aus einer Schrift des Historikers Heinrich Luden[5], eines Befürworters der oppositionellen Burschenschaften, der um 1820 ins Visier der die „Demagogen“ bekämpfenden Untersuchungsbehörden geraten war.

Vermutlich hat Büchner die in der „Kato“-Rede entwickelten Prinzipien eines unbedingten Republikanismus nie aufgegeben. Er hat sie jedoch „materialistisch“ erweitert, deutlich zum Beispiel in einem Brief an die Eltern vom Juni 1833: „Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann […].“ Juni 1833. An die Eltern in Darmstadt

 

 


Anmerkungen

  • [1] Ernst Ludwig Posselt: Dem Vaterlandstod der Vierhundert Bürger von Pforzheim, eine Rede den 29. Januar 1788, in Gegenwart des Hochfürstlichen Hauses [...] gehalten, Karlsruh 1788.
  • [2] Johannes Müller: Darstellung des Fürstenbundes, Erstdruck 1787, 3. Aufl. Tübingen 1811.
  • [3] Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des „Hessischen Landboten“. In: Heinz Ludwig Arnold, Hrsg.: Georg Büchner I/II. München 1979, S. 262 u. ö.; dagegen Burghard Dedner: Zu den Textanteilen Büchners und Weidigs im „Hessischen Landboten“. In: Georg Büchner Jahrbuch 12, 2012, S. 77-141.
  • [4] Christian Garve: Abhandlung über die Menschlichen Pflichten in drey Büchern [...]. Breslau und Leipzig 1801.
  • [5] Heinrich Luden: Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des Alterthumes, Bd. 1, Jena 1819, S. 494‑496.

Literaturhinweise:

Lehmann, Susanne: Georg Büchners Schulzeit. Ausgewählte Schülerschriften und ihre Quellen. Tübingen 2005 (= Büchner-Studien 10)

Lehmann, Susanne (Hrsg.): Georg Büchner. Schülerschriften und Schulhefte. Text bearbeitet von Ingrid Rehme. Darmstadt 2013 (= Marburger Büchner-Ausgabe I.1)

Lehmann, Susanne (Hrsg.) unter Mitarbeit von Ingrid Rehme und Eva-Maria Vering: Georg Büchner. Schülerschriften und Schulhefte. Emendierter und quellenbezogener Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungen. Darmstadt 2013 (= Marburger Büchner-Ausgabe I.2)

Dedner, Burghard (Hrsg.) unter Mitarbeit von Katja Battenfeld: Georg Büchner: Der Hessische Landbote. Text, Editionsbericht, Erläuterungen. Darmstadt 2013, S. 55-134 (= Marburger Büchner-Ausgabe II.1)

 

Text: Burghard Dedner (Juni 2014)