2.9. Friedrich Ludwig Weidig
Der 1791 geborene Friedrich Ludwig Weidig, seit 1812 in leitender Position an der Schule in Butzbach, durchlief vor 1820 eine ähnliche politische Sozialisation wie Georg Büchner. Er gründete am 17. November 1814 – einer Anregung von Ernst Moritz Arndt (Arndt 1814) folgend – eine „deutsche Gesellschaft“ in Butzbach, von deren Mitgliedschaft er ausdrücklich Linienoffiziere als „Fürstenknechte und Söldner“ ausschloß, und er schrieb Artikel für die von Joseph Görres herausgegebene Zeitschrift Der Rheinische Merkur, die ein antinapoleonisches und nationalistisches Programm vertrat und im Januar 1816 verboten wurde. Weidig unterhielt Kontakte zu den Gießener „Schwarzen“, stellte Einleitung zu Schülerschriften und Schulhefte eine Anthologie patriotischer Lieder für den Schulgebrauch zusammen und ließ die Schüler unter anderem Lieder aus Ludwig Adolf Follens Sammlung Freye Stimmen frischer Jugend singen.
In Butzbach ließ er das Frag- und Antwort-Büchlein von Wilhelm Schulz kursieren.
Seinen Schülern gegenüber bezeichnete Weidig die „demokratische Staatsverfassung [...] als die beste“ (Friedrich Noellner 1844, 345). Mit alledem erregte er die Aufmerksamkeit des Gießener Hofgerichts, das eine vorläufige Untersuchung gegen ihn einleitete. Außerdem veröffentlichte die „Central-Untersuchungs-Commission“ in Mainz einen Bericht Ueber die Verbreitung demagogischer Umtriebe in Butzbach bey Giesen.
HL Dok 1.3.3. Verhörprotokolle August Becker Weidig trat für einen einheitlichen deutschen Staat ein, und zwar unter anderem mit der religiösen Begründung, daß das deutsche Volk von Gott als „Ein Leib“ geschaffen worden sei. August Becker sagte hierzu am 28. Juli 1837 aus: „`Wir sind, sagte er, nach den Gesetzen der Natur und somit Gottes ein Volk, und was Gott zusammen fügt, soll der Mensch nicht scheiden.´ Die Einheit Deutschlands war es, was ihn eigentlich noch am meisten quälte. Man merkte ihm dabei noch sehr deutlich den früheren Deutschthümler an.“
Zum andern vertrat Weidig in gemäßigter Form das Prinzip der Volkssouveränität und kämpfte für eine Staatsform, die – sei es durch die vorübergehende Delegation der Macht an gewählte Oberhäupter, sei es durch ein Abkommen zwischen dem souveränen Volk und einem Fürsten – auf vertraglicher Basis beruhte.
Nach der Einführung der hessischen Verfassung von 1820, die aus Sicht vieler Oppositioneller den politischen Octroi des Fürsten vertraglich legitimierte, war Weidig bereit, den konstitutionellen status quo zu akzeptieren. Er beschränkte sich in dieser Zeit auf moderate Ziele, wie z. B. 1822 auf Aktivitäten zugunsten des Philhellenismus. 1831 bezog er Stellung gegen den Einsatz militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung bei der Niederschlagung eines oberhessischen Bauernaufstandes im Herbst 1830, indem er ein Teutsches Gesangbuch herausgab, um mit dem Verkaufsgeld die von den Gewaltmaßnahmen betroffene Familien zu unterstützen. Im selben Jahr organisierte er Veranstaltungen zugunsten der polnischen Aufständischen und gründete einen Butzbacher Polenverein. 1832 nahm er teil an der im Hambacher Fest kulminierenden Bewegung. Er reaktivierte seine Kontakte zu südwestdeutschen Oppositionellen, wurde Mitarbeiter bei der von Carl Theodor Welcker und Carl v. Rotteck herausgegebenen, im Juli 1832 verbotenen Zeitschrift Der Freysinnige und nahm Kontakte zu den Marburger Oppositionellen Friedrich Döring und Franz Karl Weller auf.
Weidigs folgende Radikalisierung war eine Reaktion auf die jetzt wieder offen oppressive Politik des Deutschen Bundes nach dem Hambacher Fest (27. Mai 1832). Ausschlaggebend war die Tatsache, dass die konstitutionalistischen südwestdeutschen Kleinstaaten mit Einschluß des Großherzogtums Hessen-Darmstadt im Juni 1832 auf Druck der absolutistisch regierten Großmächte in den sogenannten „Juni-Ordonnanzen“ die konstitutionell zugesicherten Freiheiten widerriefen.
Frankfurter Wachensturm Weidig war an den Vorbereitungen zum Frankfurter Wachensturm (3. April 1833) beteiligt. Vom 21. Mai bis 9. Juli 1833 war er deshalb in Butzbach inhaftiert, wurde aber aus Mangel an Beweisen und nach einer Intervention der zweiten Kammer des Landtags freigelassen.
Frankfurter „Union“ Nach der Auflösung des fünften Landtags des Großherzogtums am 2. November 1833 begann Weidig eine neue publizistische Offensive. Er traf sich am 1. Dezember mit den Leitern der Frankfurter „Union“, Friedrich Funck und Friedrich Siegmund Jucho, in Niederwöllstadt bei Friedberg, wo vermutlich zum einen das von der „Union“ herausgegebene Bauernconversationslexikon, zum andern die von Weidig betriebenen Agitationen für die Wahlen zum großherzoglich-hessischen Landtag, also die Blätter des Leuchter und Beleuchter, verabredet wurden.
In dieser illegalen, von Carl Preller in Offenbach gedruckten Flugblattserie machte Weidig unter anderem Propaganda für oder gegen bestimmte Landtagsabgeordnete und äußerte sich über seine sich wandelnde Haltung zur konstitutionellen Ordnung im Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Über Ludewig I., den 1830 gestorbenen ersten Großherzog, schrieb er:
Sein Leben fiel in eine harte Zeit: er nahm gezwungen Theil an dem großen Hochverrathe, den Deutschlands Fürsten am deutschen Reich und Volk begingen, als sie den Rheinbund schlossen […]; aber er erhielt dem Vaterlande das edelste Kleinod: geistige Freiheit. Er beschränkte nie die Presse, verfolgte keine politische Meinung (Leuchter und Beleuchter 2. Blatt, Febr. 1834).
Im 4. Blatt des Leuchter (Mai 1834) schrieb er: Zwar seien „die deutschen Regenten zu unbeschränkten Herrscherrechten […] durch Hochverrath am deutschen Reich und Volk“ gelangt; jedoch sei ihnen zugute zu halten:
Der Drang der Zeiten, ja die ewige Gerechtigkeit kann einen Umsturz des Bestehenden durch Hochverrath fordern und die Zeitverhältnisse können einen Hochverräther begünstigen, aber der Umsturz wird erst dadurch gerechtfertigt, daß mit Zustimmung des Volkes ein neuer Rechtszustand gebildet wird.
Jedes neuere Bemühen, zum „monarchische[n] Prinzip“ zurückzukehren, sei dagegen „doppelt hochverrätherisch, weil es nicht nur die alten unverjährbaren Eide gegen das deutsche Vaterland, sondern auch die neuen Verfassungseide verletzt“.
Allen Zeugnissen zufolge waren die derzeit regierenden Monarchen deshalb für Weidig des Meineids und Volksverrats schuldig und verkörperten also dasjenige, was der Hessische Landbote eine „Teufels-Obrigkeit“ nennt, deren „Wesen und Thun von Gott verflucht“ sei. Einleitung zu Der Hessische Landbote Gegen sie aufzustehen war demnach jeder Christ verpflichtet, ein Glaube, der Weidigs Unbeirrbarkeit im politischen Kampf am besten erklären kann. Am 5. April 1834 wurde Weidig als Rektor in Butzbach beurlaubt und auf eine Pfarre im entlegenen Obergleen bei Alsfeld strafversetzt.
Einleitung zu Der Hessische Landbote Büchner hatte vermutlich im März 1834 mit Weidig die Niederschrift einer Flugschrift vereinbart. Diese wurde Weidig wahrscheinlich Anfang Mai überbracht. HL Dok 1.4.1. Verhörprotokolle August Becker Weidig äußerte dazu,
sie müsse vortreffliche Dienste thun, wenn sie verändert werde. Dieß zu thun, behielt er sie zurück und gab ihr die Gestalt, in welcher sie später im Druck erschienen ist.
Der „Oberhessische Preßverein“ Auf einer politischen Erkundungsreise ins Rhein-Main-Gebiet im Mai und Juni 1834 bereitete er Druck und Verbreitung des Hessischen Landboten vor; am 3. Juli 1834 organisierte er bei einem Treffen oberhessischer Oppositioneller auf der Badenburg bei Gießen den „Oberhessischen Preßverein“.
Am 7. September trat Weidig seine neue Pfarrstelle in Obergleen an. Er organisierte im folgenden noch den Druck des 5. Blattes des Leuchter und Beleuchter mit einem von dem Marburger Politikprofessor Sylvester Jordan geschriebenen Text.
Einleitung zu Der Hessische Landbote Zusammen mit dem Marburger Arzt Leopold Eichelberg organisierte er außerdem den Druck der November-Auflage des Hessischen Landboten.
Aufgrund einer Denunziation wurde Weidig am 24. April 1835 inhaftiert und verbrachte die zwei Jahre bis zu seinem Tod in Isolationshaft . Er verweigerte jede zweckdienliche Aussage, wurde kontinuierlich mit an Folter grenzenden Disziplinarstrafen belegt und verfiel dabei vermutlich in eine schwere Psychose. Weidig verblutete unter ungeklärten Umständen am 23. Februar 1837 in seiner Gefängniszelle.
Sein Tod, für den der Untersuchungsrichter Konrad Georgi zumindest mitverantwortlich war, war Ausgangspunkt einer längeren publizistischen Debatte über die Praxis der Geheimjustiz und der auf Schriftlichkeit beruhenden Strafverfahren. Führend unter den Verteidigern Weidigs waren Wilhelm Schulz mit seiner Schrift Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Ein actenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurtheilung des geheimen Strafprocesses und der politischen Zustände Deutschlands (Zürich, Winterthur: Verlag d. literar. Comptoirs 1843; Reprint 1975) sowie Schulz und Carl Welcker mit der Schrift Geheime Inqusition, Censur und Kabinetsjustiz im verderblichen Bunde. Schlußverhandlung mit vielen neuen Aktenstücken über den Prozeß Weidig (Karlsruhe: G. Braun 1845). Mit der offiziösen Antwort auf die gegen das Gericht erhobenen Vorwürfe wurde der als Nebenrichter im Landboten-Prozess fungierende Friedrich Noellner betraut. Seine Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig, mit besonderer Rücksicht auf die rechtlichen Grundsätze über Staatsverbrechen und deutsches Strafverfahren, sowie auf die öffentlichen Verhandlungen über die politischen Processe im Großherzogthume Hessen überhaupt und die späteren Untersuchungen gegen die Brüder des D. Weidig (Darmstadt: C. W. Leske 1844) enthält eine Vielzahl von Dokumenten über den Landboten-Prozess.
HL Dok 1.3.3. Verhörprotokolle August Becker Die Zeugenaussagen lassen offen, welche Staatsform Weidig in den 1830er Jahren tatsächlich anstrebte. August Becker äußerte sich so:
„Man hat ihn oft für einen heftigen Republikaner gehalten. Er war es nicht. Wenn ich mit ihm über diesen Gegenstand sprach, führte er immer eine Stelle aus dem Xenophon an, wo Sokrates sagt, daß alle Staatsformen schlecht und gut sein könnten.“
Auch der Weidig-Schüler Carl Zeuner ließ die Frage unentschieden:
„Seine Gesinnungen für eine in Deutschland einzuführende Verfassung sind nur entschieden für die Freiheit gewesen; ob er unter der Form einer Republik oder Monarchie solche am sichersten zu finden geglaubt hat, darüber kann ich nichts Bestimmtes sagen“ (zit. nach Friedrich Noellner, Actenmäßige Darlegung, S. 321).
Ebenso erinnerte sich Ernst Frölich, Apothekergehilfe in Friedberg (zit. nach Noellner S. 304):
„Er sagte übrigens öfter, er sei vor der Hand durchaus nicht dafür, in Deutschland ein republikanisches Princip einzuführen, sondern mehr für die Monarchie, woraus dann später, wenn das deutsche Volk dafür empfänglich wäre, eine deutsche Republik entstehen solle.“
Jedoch fügte Frölich hinzu: Im privaten Gespräch „machte er mir die oben angeführte Eröffnungen, für eine deutsche Republik mitzuwirken.“ Ebenso sagte der Butzbacher Valentin Kalbfleisch aus, Weidig habe sich stets bemüht, „in uns die Ueberzeugung zu erregen und zu kräftigen, daß es für Deutschland besser sei, wenn es ein einziges Reich und zwar eine Republik bilde“ (zit. nach Noellner, S. 294).
Für Büchner, der für die Menschenrechte und dabei vor allem für das Prinzip der Gleichheit kämpfte, war die Institution des Monarchen prinzipiell rechtswidrig, eine Ansicht, die Weidig sicher nicht teilte. Im Unterschied zu Büchner sprach Weidig nicht von „Menschenrechten“, die als solche dem vereinzelten Individuum angehören, sondern er verwendete in den Blättern des Leuchter und Beleuchter eine Reihe verwandter Begriffe wie „Volksrechte“, „Landes-Rechte“, „verfassungsmäßige Rechte“, „Rechte des deutschen Volkes“, „unverjährbare Rechte deutscher Volksstämme“, „Rechte des Volkes“. Die Wortwahl läßt erkennen, daß Weidig sich an Kollektivrechten orientierte. Es kann deshalb nicht überraschen, daß die von Weidig angestrebte Republik nicht notwendig ein gleiches Wahlrecht für alle einschloss. August Becker sagte aus, HL Dok 1.4.1. Verhörprotokolle August Becker
»daß Büchner einst Streit über Wahlcensus mit ihm hatte. Büchner meinte, in einer gerechten Republik, wie in den meisten nordamerikanischen Staaten, müsse jeder ohne Rücksicht auf Vermögensverhältnisse eine Stimme haben, und behauptete, daß Weidig, welcher glaubte, daß dann eine Pöbelherrschaft, wie in Frankreich, entstehen werde, die Verhältnisse des deutschen Volks und unserer Zeit verkenne. Büchner äußerte sich einst in Gegenwart des Zeuner sehr heftig über diesen Aristokratismus des Weidig,wie er es nannte.“