6.2. Michael Perraudin:
Büchner: Empathie und revolutionärer Optimismus

(Als Vortrag gehalten auf der Jahrestagung der Georg Büchner Gesellschaft e.V., im Oktober 2015. Der Text wird demnächst im Georg Büchner Jahrbuch erscheinen.)

 

 

Die folgenden Überlegungen haben ihren Ursprung in einer Kultursendung im BBC-Radio vor einigen Jahren, in der verschiedene in England ansässige Germanisten den noch immer nicht allzu gut bekannten Büchner der britischen Bildungsschicht zu präsentieren suchten.[1] Ich selbst war daran beteiligt, obwohl nicht zentral. Als die Sendung ausgestrahlt wurde und ich sie zum ersten Mal als Zuhörer erlebt habe, hat mich vor allem ein längeres Gespräch frappiert, in dem ein amerikanischer Germanist aus Oxford, kein eigentlicher Büchner-Experte, aber ein kenntnisreicher Mann, sein Verständnis von Büchner ausführlich und entschlossen vorgestellt hat, unter den Stichworten Pessimismus, Verzweiflung, Leere, Nihilismus. Seine Darstellung war gut formuliert, in sich zwingend, in gewisser Weise schwer widerlegbar. Das ist sicherlich ein gängiger Büchner. Es war aber nicht der Büchner, den ich kenne, und ich fühlte mich dazu angeregt, das zum Ausdruck zu bringen.

Büchner ist für mich voller Affirmationen, voll von eigentlich lebensbejahenden Elementen – menschlichen Fähigkeiten, Werten, Einsichten, Erlebnissen, die in seinen Texten erforscht und geradezu gefeiert werden. Das ist vielleicht überspitzt ausgedrückt, und die Vorstellung von Büchner als einem Optimisten könnte zu gewagt sein. Sein Utopismus ist gewiss begrenzt – Büchner ist nicht Heine (und sogar bei Heine hat die Utopie ihre Ambivalenzen). Es ist nicht zu bestreiten, dass die drei großen realistischen Texte Büchners – Danton’s Tod, Lenz und Woyzeck– alles andere als heiter ausgehen. Und dennoch wird in allen seinen literarischen Werken sowie in bestimmten anderen Schriften auf verschiedene Weise, allen Miseren und Ungerechtigkeiten des individuellen und kollektiven Lebens zum Trotz, immer wieder auch Positives identifiziert und zur Geltung gebracht.

Anzeichen eines solchen Impulses finden sich zunächst in manchen seiner Aufsätze. Im Vorlesungstext Über Schädelnerven vom November 1836 wird zum Beispiel versucht, einen bewohnbaren Raum zu finden zwischen dem englischen naturwissenschaftlichen Empirismus (der »teleologischen […] Ansicht« Probevorlesung – einer Welt der Zwecke) einerseits und dem deutschen Idealismus (Apriorismus) andererseits, der Urgesetze voraussetzt und die Welt, wie sie ist, missachtet. Das sind übrigens die Antipoden, die in der Figur des Doktors in Woyzeck verkörpert sind und sich, durchaus witzig, widersprechen – dem Verhaltensbiologen, der gleichzeitig aber auch behaupten kann, »in dem Menschen verklär[e] sich die Individualität zur Freiheit«. Woyzeck Irgendwo zwischen den beiden liegt das »frische […] grüne […] Leben«, so Büchners Vorlesung Probevorlesung – eine Wertschätzung des Lebens um seiner selbst willen. Bei Heine findet sich übrigens in einem Text aus fast genau derselben Zeit – der zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Schrift Verschiedenartige Geschichtsauffassung von 1833 – eine ähnliche Vorstellung, nämlich der Gedanke, dass »jedes Erschaffnis sich selbst bezweckt und jedes Ereigniß sich selbst bedingt, und Alles, wie die Welt selbst, seiner selbst Willen da ist und geschieht. – Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht«.[2]

Dann gibt es Büchners allerdings schon 1830 während der Schulzeit verfassten Aufsatz »Über den Selbstmord«, in dem zum Schluss, wenn auch nicht ganz deutlich, dem krankhaften Hang zum Suizid ein kompensatorischer, psychisch gesunder »Begriff echter und wahrer Menschenliebe« entgegengehalten wird, von dem es heißt, er könne »dem Menschen allein im Schlamme des Lebens die wahre Würde bewahren«. Es ist, als ob in den Jahren, die auf »Über den Selbstmord« folgen, dieser »Schlamm des Lebens« – die philosophischen und anderen Gründe zur Verzweiflung und zum Pessimismus – bei Büchner ständig höher schwappten und bedrohlich näher kämen. Aber es ist immer auch der gegenläufige Wunsch spürbar, Wertvolles zu finden.

Der Text Büchners, in dem die philosophische Verzweiflung wahrscheinlich am stärksten und eindeutigsten ist, ist das radikal deterministische Drama Dantons Tod. Das Stück inszeniert das, was Büchner im Brief vom Januar 1834 den »gräßlichen Fatalismus« Nach Mitte Januar 1834. An Wilhelmine Jaeglé des historischen Prozesses nennt: Die Vorgänge der Revolution wälzen sich unaufhaltsam voran und die Revolutionsführer, die beinahe ausnahmslos dem Irrtum aufsitzen, sie könnten durch dynamisches individuelles Handeln den Verlauf der Ereignisse verändern, werden davon in Wirklichkeit machtlos mitgerissen. Danton erzählt den ihn plagenden Albtraum (Danton’s TodII/5):

Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung, ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt’ ich in ihrer Mähne und preßt’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gebückt, die Haare flatternd über dem Abgrund. So ward ich geschleift. Danton’s Tod

Danton selbst ist sich der Prozesshaftigkeit der Revolution viel deutlicher bewusst als seine Mitrevolutionäre – aber auch er ist nicht immer fähig, an diesem Verständnis festzuhalten. Die Frage, um die es geht, nämlich das Verhältnis zwischen dem historischen Determinismus und dem frei gewollten individuellen Handeln, ist die, mit der Büchner zuerst in seinen Schulaufsätzen »Helden-Tod«Schülerschriften und »Kato«Schülerschriften gerungen hatte, die er nun aber neu überdacht hat.

Was dabei besonders beeindruckt, ist die Art, wie die Logik implizit weitergeführt wird: Wenn es einen unaufhaltsamen historischen Determinismus gibt, woraus geht dieser hervor? Was genau treibt die Revolution voran? Die Antwort lautet zunächst: die Masse, das Volk. Aber wovon wird das Volk getrieben? Danton’s Tod »Köpfe statt Brod«: Die Blutgier des Volks rührt aus dessen Entbehrungen, das heißt: sie ist das Mittel, mit dem es diese lindert. Hungrige Kinder mit Löchern in der Kleidung werden durch die Guillotine vom eigenen physischen Leid abgelenkt: ein sich wiederholendes Motiv im Stück.

Es ist dies eine Logik des Körpers: Alles menschliche Leben – ja, sogar alles empfindende Leben – wird von den Affekten der Befriedigung und des Schmerzens geleitet, vom Impuls, diese zu finden bzw. zu vermeiden. Das dehnt sich sozusagen über die Biologie hinaus auf den historischen Prozess aus. Es ist die Logik des wissenschaftlichen Neurologen, der Büchner war, des Autors der Dissertation Sur le système nerveux du barbeau sowie der Vorlesung Probevorlesung Über Schädelnerven, von Werken über Nervensysteme.

Solche Logik steht außerdem in Verbindung mit der wiederholten Betonung der Triebhaftigkeit menschlichen Verhaltens im Stück. Dies ist inbesondere der Zweck der »Promenaden«-Szene (Danton’s Tod II/2) Danton’s Tod , welche die Allgegenwart sexueller Begierde unter der gesitteten bürgerlichen Oberfläche aufzeigen soll. Auch Dantons Bloßlegung der Gratifikation, die den Moralismus Robespierres eigentlich motiviert, gehört in diesen Zusammenhang: Robespierre verhält sich tugendhaft, »bloß um des elenden Vergnügens willen, Andre schlechter zu finden als [s]ich«. »Es giebt nur Epicuräer«, Genießer, sagt Danton, »grobe und feine«, und Christus, der die Sünden der Welt auf sich genommen hat, war lediglich »der feinste« von allen. Danton’s Tod

Das ist eine enorm negative, totalisierende Logik. Die Frage ist: Kommt dabei – wie eingangs postuliert – etwas Positives heraus? Sie ist zunächst einmal witzig: Der radikale Zynismus der Argumente hat eine unterhaltsame Seite. Sie ist aber auch und insbesondere sehr klug. Büchners ‘Fatalismus-Brief’ vom Januar 1834 sagt über das »eherne Gesetz« des Geschichtsdeterminismus: »es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich« Nach Mitte Januar 1834. An Wilhelmine Jaeglé Verstehen ist gut. Und Verständnis, Einsicht – also Intelligenz – ist ein Wert, der im Stück durchgehend gefeiert wird: Dantons Haltung der Resignation ist aus seinem Verständnis der weiteren Konsequenzen der an sich richtigen politischen Philosophie seiner Partei entstanden (dass nämlich jeder Mensch frei sein sollte zu genießen, solange den anderen dadurch nicht geschadet wird). Danton ist intelligenter als seine Parteifreunde. Er ist auch intelligenter als sein Gegner Robespierre: Aus dem dialektischen Zweikampf zwischen den beiden (Danton’s Tod I/6) Danton’s Tod geht er siegreich hervor. Das Stück enthält überhaupt viele Kämpfe dieser Art, intellektuelle Machtkämpfe. Man denke nur an Payne (Danton’s Tod III/1), der seinen Mitgefangenen im Kerker des Palais de Luxembourg spöttisch und brillant die Logik der Existenz oder Nichtexistenz Gottes auslegt. Danton’s Tod Oder man denke an Lacroix (Danton’s Tod I/4), der seinem Mitdantonisten Legendre eindringlich die katastrophalen Implikationen von dessen Handlungen im »Jakobinerclubb« erklärt. Danton’s Tod Es gibt manch weitere Beispiele. Sogar Büchners Pariser »Volkshaufe« disputiert ständig (z. B. Danton’s Tod I/2, III/10, IV/4) Danton’s Tod .

Genau betrachtet ist der Triumph des Intellekts ein Aspekt aller Texte Büchners. Prinz Leonce besiegt seine Höflinge, seine Geliebte, seinen Vater argumentativ. Auf ähnliche Weise zeigt sich Lenz in der Diskussion mit dem verhältnismäßig einfältigen Oberlin Lenz sowie dem Denker Kaufmann Lenz als überlegen. Woyzeck gewinnt im Argument gegen den Hauptmann: »Was sagt er da? Was ist das für n’e kuriose Antwort? Er macht mich ganz confus mit seiner Antwort« (Woyzeck H4,5 Woyzeck ). Der Intellekt ist bei Büchner gut. Und das erstreckt sich sogar auf die Freude des Autors am eigenen Intellekt. Die unverhältnismäßig lange Episode mit Payne und seinen Mitgefangenen im Luxemburger Gefängnis (Danton’s Tod III/1) Danton’s Tod dient zum Beispiel auch dazu, den intellektuellen Scharfsinn des Autors zur Schau zu stellen. Bekanntlich wird der Vorwurf intellektueller Arroganz gegen Büchner von Seiten seiner Gießener Kommilitonen auch in einem der Briefe des Autors (nach Mitte Februar 1834 an die Eltern) ersichtlich. Nach Mitte Februar 1834. An die Eltern in Darmstadt

Das andere Vermögen – und zwar ein viel wichtigeres –, das in Danton’s Tod in gewisser Weise transzendierend wirkt, ist die Liebe, die es zwischen den Personen gibt – und die sich der körperlichen Logik des Stücks zu entziehen scheint. Das Schlimmste am Tode für Camille und Danton ist der Verlust ihrer Frauen, Lucile und Julie. Das gilt trotz der Promiskuität Dantons und trotz seiner Aussage über die Kommunikationsbarriere zwischen ihm und Julie: »Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« (Danton’s Tod I/1) Danton’s Tod Büchners Entscheidung, seinem Danton eine langfristige Ehefrau zu geben, die sich für ihn umbringt – während der historische Danton zweimal verheiratet war und seine zweite Frau sogar Büchner überlebte –, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend.

Doch das Stück enthält noch viele weitere liebevolle Beziehungen. Camille war vorher Robespierres enger Freund, aber sie sind jetzt, zur Zeit der Handlung, einander entfremdet. Robespierre ist nun einsam, ohne Freunde und misstrauisch, und Camille fehlt ihm. »Mein Camille! – Sie gehen Alle von mir – es ist Alles wüst und leer – ich bin allein«, sind seine letzten Worte am Ende des 1. Aktes. Danton’s Tod Im Guillotinenkorb werden sich die Köpfe Dantons und Héraults küssen (Danton’s Tod IV/7). Danton’s Tod Im Gefängnis vor der Hinrichtung tröstet Danton Camille und wacht zärtlich über ihn, als er schläft (Danton’s Tod IV/3) Danton’s Tod . Beim Aufwachen ist Camille im Dunkeln nicht einmal dazu im Stande, sich ganz von Danton zu unterscheiden: »Das bist du, das ich, so! Das ist meine Hand! ja jezt besinn’ ich mich. O Danton«: Ihre Identitäten verschmelzen.

Das ist ebenfalls ein Muster, das sich in den anderen Texten findet: Leonce – Lena; Leonce – Valerio; Woyzeck – Marie; Woyzeck – Andres; Lenz – Oberlin; Lenz – Friederike. Es gibt Mann-Frau-Beziehungen, die auf Zusammengehörigkeitsgefühl beruhen, die von Gesten und Handlungen der Zuneigung begleitet werden und die für die Personen den eigentlichen Halt im Leben bedeuten. Es gibt Mann-Mann-Beziehungen – bromances, wie man auf Englisch sagt –, die ebenfalls von Akten der Verbundenheit und Zärtlichkeit begleitet werden: zum Beispiel Woyzeck und Andres in der Kasernenszene, wo sie ein Bett teilen, und Andres, der sich um Woyzecks Zustand Sorgen macht und ihn zu beraten sucht (Woyzeck, H4,13); Woyzeck oder Woyzeck, der Andres sein Hab und Gut übergibt, bevor er den Mord begeht, und Andres, der dabei – mutmaßlich vor Entsetzen – »ganz starr« wird (Woyzeck H4,17). Woyzeck Auch die Beziehung Lenz – Oberlin gehört hierher. Oberlin ist für Lenz dessen Halt im Leben: Lenz »mußte Oberlin oft in die Augen sehen«, Lenz er hält seine Hände, hält sich an ihm fest, legt den Kopf in seinen Schoß Lenz ; Oberlin küsst Lenz auf den Mund. Lenz Das Prinzip ist, dass solche Verbindungen für das menschliche Glück unentbehrlich sind, dass mithin ihr Verlust verheerend und das Leben ohne sie kaum möglich ist.

Dieses liebende Prinzip lässt sich weiter verfolgen. Man denke an Woyzeck und sein schlafendes Kleinkind (Woyzeck H4,4): Er sieht es schwitzen, er empfindet seinen aktuellen sowie voraussichtlichen Schmerz mit. Woyzeck Man denke darüber hinaus daran, wie Woyzeck die Katze auffängt und in den Armen hält, so – wie der Doktor sagt – »als wär’s seine Großmutter« (Woyzeck H3,1). Woyzeck Auch an die Szene in Lenz mit Oberlins Katze sei erinnert: Lenz und die Katze starren sich gegenseitig an und stürzen dann aufeinander – das ist nicht unbedingt liebevoll; aber eine Art Identifikation findet statt. Lenz wird zur Katze (und umgekehrt). Lenz Ein Kernaspekt von Lenz’ Zustand ist das Fließende seiner Identität. Büchners Camille in Danton’s Tod (IV/5) spricht einmal abschätzig von den “allgemeinen fixen Ideen, welche man die gesunde Vernunft tauft [...]”, Danton’s Tod dem banalen aber schützenden Realitätsverständnis der meisten Menschen. Lenz fehlt eben eine solche ihn protegierende Begrenztheit oder er ist ihrer enthoben. Sein Zustand wechselt von radikaler Entfremdung – einem Gefühl der Nichtexistenz der äußerlichen Welt sowie der Nichtexistenz des Selbst – zu einer extremen Vertiefung in und Identifikation mit der Naturwelt, mit anderen Menschen etc.:

Nur manchmal [...] riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe that [...].Lenz

Dedner: Büchner und GoetheDiese Stelle mutet im weiten Sinne romantisch an. Neben Bezügen zu Goethes Werther (die Burghard Dedner im Kapitel »Büchner und Goethe« aufgezeigt hat) lässt sie an Liebesdarstellungen bei Schriftstellern der Büchner vorangehenden Generation denken – etwa in Bergszenen bei Tieck, bei Byron sowie bei Heine auf der Brockenspitze in Die Harzreise: eine Liebe, die tatsächlich persönlich-sentimental-amourös ist oder sein kann, aber gleichzeitig zu der mystischen Kraft gehört, welche die Welt zusammenfügt und von der das angemessen sensibilisierte (‘romantisierte’) Subjekt ein Teil werden kann. Lenz’ sogenannter Wahnsinn ist gleichzeitig auch die Fähigkeit, die Welt zu erkennen, wie andere das nicht können (es aber sollten). Neu und unromantisch an Büchners Variante ist nur die Beobachtung des Körperlichen: das Keuchen, der gebogene Leib, der offene Mund.

Auch wichtig in der Lenz-Novelle ist die Verbindung zwischen Lenz’ Sensibilität und seiner Ästhetik: Im Gespräch mit Kaufmann stellt Lenz eine nichtidealistische – realistische – Kunst vor, die auf empathischer Identifikation mit gewöhnlichen Menschen basiert:

Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im Hofmeister und den Soldaten. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. Man muß nur Aug und Ohren dafür haben. Lenz

Was hier beschrieben wird, ist Lenz’ besondere Fähigkeit (und zugleich sein Problem). Es ist aber auch das, was Büchner selbst tut. Alle drei nichtkomischen literarischen Werke Büchners sind Dokumentarmaterial, das mit empathischen Vorstellungen einer alternativen, inneren Perspektive ergänzt und vervollständigt wird (im Falle Woyzecks gar der Perspektive einer ganzen sozialen Klasse: wir sehen die Welt vom Standpunkt des unbeachteten Volkes aus). Wie es im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 heiβt:

[D]er Dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. 28. Juli 1835. An die Eltern in Darmstadt

Büchner war in der Tat ein hoch empathischer Schriftsteller. Es ist interessant zu sehen, wie bei ihm die Intellektualität – ziemlich nüchtern erscheinende Zurschaustellungen der Intelligenz – mit Momenten stärkster Emotionalität einhergeht. Einer der merkwürdigsten Abschnitte von Danton’s Tod ist derjenige, in dem die Gefangenen in der Conciergerie auf ihre Hinrichtung warten und anschließend (nach einer kurzen Zwischenszene) auf dem Revolutionsplatz zur Guillotine gehen (IV,5, IV,7). Danton’s Tod Die beiden Szenen zeichnen einen detaillierten emotionalen Ablauf nach: ein dichtes Nacheinander von Scherz und Neckerei, Schreckensangst, Depression, Begierde, Bombast und Draufgängertum, Sehnsucht und Bedauern, körperlichem Unbehagen, Zärtlichkeit und Fürsorglichkeit, Liebe. Der Gefühlsgehalt dieser Szenen ist äußerst feinsinnig und präzise imaginiert.

An der Novelle Lenz sind abgesehen von schönen Episoden wie derjenigen mit der Katze besonders die Natur- und Landschaftswahrnehmungen und -empfindungen bemerkenswert und erstaunlich: etwa die Art, wie Lenz die Landschaft (Berghänge, Horizonte, Himmel) nichtkategorial – als Linie und Fläche und Textur und Bewegung – sieht; oder der ihm fehlende fixe Sinn einer eigenen individuellen Beziehung zum Raum: Er kommt sich endlos klein oder endlos groß vor, mal im Stande, riesige Entfernungen im Nu zu überschreiten, mal infinitesimal beschränkt und winzig. Lenz Oder man betrachte eine Passage wie die folgende:

Er ging des Morgens hinaus, die Nacht war Schnee gefallen, im Thal lag heller Sonnenschein, aber weiterhin die Landschaft halb im Nebel. Er kam bald vom Weg ab, und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur von Fußtritten mehr, neben einem Tannenwald hin, die Sonne schnitt Krystalle, der Schnee war leicht und flockig, hie und da Spur von Wild leicht auf dem Schnee, die sich ins Gebirg hinzog. Keine Regung in der Luft als ein leises Wehen, als das Rauschen eines Vogels, der die Flocken leicht vom Schwanze stäubte. Alles so still, und die Bäume weithin mit schwankenden weißen Federn in der tiefblauen Luft. Lenz

Der Vogel, der den Schnee von seinem Schwanz abschüttelt; die wehenden weißen Federn der Baumzweige bis in die weite Ferne gegen das Blau des winterlichen Himmels – es geht hier gewiss in erster Linie darum, die subtilen Wahrnehmungen der Figur Lenz zu veranschaulichen und zu thematisieren. Aber es sind eben auch, gleichsam objektiv, von Seiten des Autors, besonders subtile Wahrnehmungen.

Es findet sich Ähnliches in Woyzeck, zum Beispiel in der Szene H4,2 mit Marie, als Woyzeck mit Anzeichen der Geistesstörung nach Hause kommt. Marie sagt:

Bist du’s Franz? Komm herein! [...] Was hast du Franz? [...] Mann! [...] Franz! [...] Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind nicht angesehn. [...] – Was bist so still, Bub? Furchst’ Dich? [...] ich halt’s nicht aus [...]. Woyzeck

Die Figur fühlt und empathisiert – sie ist der Reihe nach liebend, zärtlich, besorgt, mitleidsvoll, beängstigt, niedergeschlagen – und der Text empathisiert ebenfalls. Etwas später, in Maries Zimmer (H4,6 und H4,7), Woyzeck können wir ihren Stimmungsverlauf noch einmal verfolgen: In Aufeinanderfolge werden wir zuerst durch Begierde, dann Stolz, dann Spott, dann Schuldbewusstsein, dann eine stärkere, wütende Begehrlichkeit, dann Resignation geführt; und anschließend kommen Angst, dann Mitleid, dann Ausflucht, dann Trotz – eine regelrechte Skala der Gefühle. Es ist angesichts der sprachlichen Kürze solcher Passagen leicht, die Nuanciertheit und Komplexität der hier dargebotenen Erfahrungswiedergabe zu übersehen. Sogar der erste Teil der Szene H4,2 Woyzeck – als Marie zum ersten Mal den Tambourmajor begehrt, ihn bewundernd ansieht, ihn ihrem Kind zeigt, ihre vorwurfsvolle Nachbarin verhöhnt – führt eine Art naturhaften Gefühlsablauf vor.

Auch die Rolle des Kindes – der wohl am meisten vernachlässigten Figur des Stückes – gehört in diesen Kontext. In den meisten Aufführungen des Dramas wird es als Baby von einer Plastikpuppe dargestellt. In Wirklichkeit aber ist seine Funktion gar nicht so unbedeutend. Es hat sogar einen Namen: »Christian«, »Christianche« (in der Szene H3,2, »Der Idiot. Das Kind. Woyzeck«). Woyzeck In der Szene H4,2 »Marie (mit ihrem Kind am Fenster)«, »wippt« sie das Kind, Woyzeck singt ihm zu, zeigt ihm, wo es hinschauen soll, spricht es an, stellt ihm Fragen – alles vom Autor genau beobachtet und nachempfunden. In der ersten Kammerszene sitzt es auf Maries Knie; sie redet ihm zu, zu schlafen; es verdeckt seine Augen; sie blinkt es mit dem Spiegel an, erzählt ihm Geschichten. Dann kommt Woyzeck, sieht es im Schlaf schwitzen, erleichtert seine Schlafposition. Woyzeck In der Szene, in der Marie in der Bibel liest (H4,16), Woyzeck langt das Kind nach ihr, sie bemitleidet es, der Narr nimmt es von ihr und hält es im Arm. In »Der Idiot. Das Kind. Woyzeck«, im Anschluss an den Mord, wird das Kind wieder vom Narr auf dem Schoß gehalten, Woyzeck versucht es zu liebkosen, es wendet sich ab und heult, er verspricht ihm ein Gebäck, es widersetzt sich nochmals, und der Narr läuft mit ihm weg, Hoppe, Hoppe Reiter spielend. Woyzeck Es geht in dieser letzten Episode hauptsächlich um Woyzecks Abweisung und Alleinsein – Erfahrungen, die ebenfalls Empathie hervorrufen sollen. Aber die Interaktionen der anderen Figuren mit dem Kleinkind sind insgesamt ausnehmend wichtig: Eigentlich sind sie leitmotivisch. Und die Empathie des Texts mit dem Kinde ist, so kann man sagen, ein Schlüsselelement unserer Erfahrung des Werks.

Der Ausgang des Stücks ist zugegebenermaβen nicht erfreulich: Marie wird ermordet; Woyzeck ist am Schluss allein und vernichtet. Dennoch wird in dem Stück so viel Kostbares signalisiert – und zwar sowohl intellektuell (Woyzecks wachsende soziale Einsichten und seine Intelligenz, trotz seines Unvermögens, dies alles in gebildeter Weise zu artikulieren) als auch emotional (Ehe, Freundschaft, familiäre Liebe) wie auch sozial und kulturell (Zusammengehörigkeit der Gemeinschaft und sehr viel kollektive kulturelle Praxis) –, dass es den pessimistischen Aspekt weit übersteigt. Dass sie unterdrückt und tyrannisiert werden, verhindert nicht, dass diese Menschen wertvoll und eigentlich schön sind: feinfühlend, empathisch und authentisch.

In einem früheren Aufsatz zum Thema »Büchner und das Volk« habe ich die Volkselemente in Büchners Texten bis hin zu Woyzeck verfolgt: Volkslieder, Märchen, Kinderspiele, Formen der Unterhaltung und Freizeitgestaltung, soziale Strukturen, Sprache. [3] Meine Interpretation lief darauf hinaus, dass Büchner in diesen Erscheinungen viel Wertvolles findet. Ich setzte dies in Verbindung zu Büchners Behauptung in seinem Brief an Gutzkow vom 1. Juni 1836, man müsse, statt auf Reformen zu setzen, die von der »gebildeten Klasse« ausgehen, »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen«. Etwa 1. Juni 1836. An Karl Gutzkow in Framkfurt am Main Ich bin immer noch der Ansicht, dass das zutreffend ist und außerdem dass in dem Brief wie im Stück eine weitere Form des Optimismus enthalten ist: Eine unterdrückende Gesellschaft ist tatsächlich dabei, Woyzeck und sein Familienglück zu zerstören, aber er hat – ansatzweise – ein Verständnis der Prozesse, die sein Leben bedingen:

Sehn Sie wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und en anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft seyn. Es muß was Schöns seyn um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl. Woyzeck

Woyzeck beginnt hier wie an anderer Stelle das Ausmaß der Macht der ihm höher Gestellten über ihn zu erkennen, die nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch geistig ist.

Büchner hat die Resignation oder Fast-Resignation von Danton’s Tod hinter sich gelassen und baut eine Art deterministische Logik auf, die doch auf eine verwirklichte Sozialrevolution hinweist. Sie basiert auf dem, was er in seinem Schulaufsatz »Über den Selbstmord« »echte und wahre Menschenliebe« genannt hatte. Sie ist sogar in positivem Sinne utopisch – wenn es auch ein eher nüchtern konzipierter Utopismus ist. Ich finde hier nicht einmal das Wort Optimismus unangebracht. Es ist vielleicht nicht der philosophische Optimismus des 18. Jahrhunderts, der hinter den Greueln und Grausamkeiten der Welt eine wohlwollende göttliche Absicht entdeckt. Optimistisch ist aber Büchners Sicht doch im schwächeren Sinne, dass er erstens ein bescheidenes Maß an lebensbejahendem Trost in einer deterministischen Welt findet und zweitens zumindest in seinem letzten Text andeuten kann, dass der Fortschritt zu einer sozial und moralisch besseren (nachrevolutionären) Welt in gewisser Weise vorprogrammiert ist und bevorsteht.


Anmerkungen

  • [1] BBC Radio 3, Sendung von Peter Thompson, 13. Februar 2013, 21.30 Uhr: »The World is Out of Order! – The Life, Work and Legacy of Georg Buchner« [sic].
  • [2] Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, 16 in 23 Bden., Hamburg 1973-1997 (Düsseldorfer Ausgabe), Bd. 10, S. 302. Link
  • [3] Vgl. Michael Perraudin, Literature, the ‘Volk’ and the Revolution in Mid-Nineteenth Century Germany (Oxford: Berghahn, 2000), Kap. 2: »Towards a New Cultural Life. Büchner and the Volk«, S. 37-63. Davor in: Modern Language Review, 86 (1991), S. 627-644.