16. Januar 1836. Von Eugène Boeckel nach Straßburg

Mademoiselle Wilhelmine Jägle

Entschuldigen Sie gütigst die Freiheit die ich mir nehme den Brief an Sie zu adressiren, ich thue es um mir das Vergnügen zu machen, mich meiner Freundinn ins Gedächtniß zurückzurufen, u. um unserm George Unannehmlichkeiten zu ersparen[.]

Ihr Freund Eugène.

N. B. Da in dem Brief medicinische Gegenstände zur Sprache kommen muß ich Sie bitten zu thun was Ihnen gefällt.

Mein lieber George, wahrscheinlich wirst Du schon einiges von meiner Reise erfahren haben durch meinen Bruder u. Deine Eltern, bey denen ich gerne länger verweilt hätte wenn es die Jahreszeit u. die übrigen Umstände gelitten hätten. Es war mir auf jeden Fall angenehm u. intereßant die Familie meines lieben Freundes kennen zu lernen, Deine Mutter ist übrigens eine der angenehmsten u. unterhaltensten Personen welche ich jemalen gesehn habe, ich würde mich sehr freuen Deine Mutter u. Deine Schwester in Straßburg nächsten Ostern zu sehn wenn es möglich wäre – Dein Vater ist billig aber mit Recht etwas ungehalten über Dich – Deine Großmutter ist besonders gut conservirt – Dein kleiner Bruder Louis gleicht Dir außerordentlich. Du kannst leicht denken daß wir sehr viel von Dir u. delle Wilhelmine sprachen –

In Heidelberg wurden wir sehr gut von Nägele empfangen, ich logirte daselbst auf Kosten des Großherzogs in der Geburtshülflichen Anstalt mit 36, andern schwangern Weibern, ich konnte ohne Übertreibung kaum einen Schritt im Hausgang machen ohne an eine wohlbeleibte Person zu stoßen. Übrigens bewohnte ich ein großes hübsches Zimmer wo gewöhnlich die vornehmen Sünderinnen sich ihrer Last u. Sünde zu entledigen pflegen. Von Heidelberg bis Frankfurth hatten wir einige aventuren, deren Erzählung Du mir ersparen wirst da ich von Cassel aus schon einen ziemlich detaillirten Brief hierüber an meine Familie geschrieben habe. In Cassel hielten wir uns einen Tag auf u. bestiegen daselbst die Wilhelm’s Höhe, die Gegend um Cassel herum ist eine der schönsten u. anziehensten in der schönen Jahreszeit, aber wir treffen leider überall Schnee, Regen, Näße u. Kälte an, so daß wir eigentlich die Schönheiten einer Gegend nicht beurtheilen können, dies sah ich namentlich bey heidelberg das ein sehr tristes Ausehn hatte in dieser Winterzeit. Durch Giesen fuhren wir Nachts so daß ich Deine liebe Musen-Stadt nicht recht genießen konnte. In Marburg hielten wir uns eine halbe Stunde auf, ich sah doch soviel davon um mich zu überzeugen daß es viel hübscher gelegen ist als Giesen. Wirklich sitze ich in Göttinguen wo ich den 15ten ankam, den 20sten dieses Monats reisen wir nach Berlin den 22sten werde ich in Berlin ankommen si diis placet. Wir hatten zuerst beschloßen über Braunschweig u. Magedeburg durch den Harz zu reisen allein das geht nicht bey dieser Jahrszeit. Zu Fuß können wir nicht gehn wegen des Kothes u. der kurzen Tage u. zu Wagen geht es langsam u. unbequem u. theuer. Reisen wir mit Eilwagen über Braunschweig u. Magdeburg so müßen wir entweder blos durch diese Städte fahren ohne etwas zu sehn oder an jedem Ort mehrere Tage liegen bleiben. Also sind wir entschloßen den kürzesten Weg über halle zu nehmen. Dafür bleiben wir fünf Tage in Göttinguen denn ich denke es ist beßer wenig Universitäten recht zu sehn als blos sich einen Tag aufhalten damit man sagen kann ich bin dort gewesen.

Studirt habe ich nicht viel während meiner Reise, ich glaube auch es wäre sehr deplacirt gewesen – Blos in heidelberg habe ich während acht Tagen einen Theil von Siebold, Frauenzimmerkrankheiten, u. Cooper über Blasen-Kkht. studiert, ich hatte daselbst beynahe Hausarrest wegen meines podagra’s[.] In heidelberg habe ich das Clinicum von Chelius u. Nägele besucht, u. hauptsächlich mich im touchiren geübt weil die Gelegenheit dazu vortrefflich war bey meinen 36 Hausgenoßen – In Göttinguen besuchte ich diesen Morgen Langenbeck, Siebold u. Conradi, von beyden leztern wurden wir besonders gut empfangen u. hauptsächlich von Dr. Conradi, Sohn des Profeßors, welcher den ganzen Tag mit uns

herumlief, u. uns alle möglichen renseignemens über die hiesige Universität gab. Morgen werden wir bey Konradi den Café trinken. Auf der ganzen Reise mußten wir unsere Päße blos in Kehl u. Frankfurth vorweisen, an keinem andern Ort kümmerte sich irgend ein Polizei-Diener um uns.

Wie geht es Dir mein lieber? ist die dissertation geschrieben, werden wir Dich in Zürich treffen. kommst Du oft zu Baum – Deine Mutter [läßt] Dir sagen Du sollst nicht oft Nachts arbeiten, u. ich füge mein[e] Bitte u. meinen wohlmeinenden ärtzlichen Rath bey, allein ich fürch[t]e vergebens, ferner sollst Du die Fechtstunde fortsetzen u. dies thue mir[,] Deiner Mutter, u. Deiner Gesundheit zu gefallen –

Frage meinen Bruder ob der Doctor den Brief erhielt den ich ihm von heidelberg aus schrieb, ferner ob Dr. Schützenberger meinen Brief erhielt, u. endlich ob die Epistel angelangt die ich von Cassel aus an Me Marie Boeckel schrieb, diese Aufträge vergiß nicht. Sage auch meinem Bruder daß ich den 22 Januar in Berlin anlange meiner Berechnung nach u. man soll mir dorthin schreiben, poste restante, was tante Schneegans macht. Sobald ich am Ziel meiner Reise bin schreibe ich an Baum meine Adresse, wenn ich ihm nicht noch diese Tage von Göttinguen aus schreibe, es ist meine lieblings-Beschäftigung mich Abends mit meinen Freunden u. Freundinnen schriftlich zu unterhalten weil es mir unmöglich ist mich mündlich zu unterhalten mit ihnen – Mit meinem Reise-Compagnon Dr. Schwebel bin ich complet zufrieden, er läßt Dir einen freundlichen Gruß entbieten, er sizt in diesem Augenblick bey mir u. schreibt an seine Eltern. Die Aufträge an hoffmann habe ich ausgerichtet darüber ausführlicher an Baum – Ich habe die chronologische Ordnung in meinem Briefe nicht befolgt weil ich meine Reise in dieser Ordnung an meine Familie beschrieb u. weil ich mich nicht entschließen kann zweimal daselbe zu schreiben. Grüße mir Baum, Deinen Schwager u. Gust. Schneegans, wenn Du mit ihm Schach spielst so denke an mich.

Dein Freund Eugène.

Göttinguen, den 16 Januar 1836.

Sage meiner Familie ich sey immer lustig u. immer bey Gelde, depensirt habe ich in den 14 Tagen 160 fr. circiter immer economisirt, freilich auf der Reise muß man an table d’hôte essen, Wein u. Café trinken, sich nichts abgehn laßen