2.10. Fluchtwege aus Hessen
Der missglückte Frankfurter Putschversuch („Wachensturm“) vom 3. April 1833 hatte nicht den von den Verschwörern erhofften politischen Erfolg gebracht. Vielmehr bot er der im Jahr zuvor neu eingerichteten „Bundes-Zentralbehörde“ und den mit ihr zusammenarbeitenden Untersuchungsbehörden einen willkommenen Anlass, um noch schärfer als bereits bisher mit Steckbriefen und Haftbefehlen gegen die „demagogischen Umtriebe“ im Lande vorzugehen. Am 1. August 1834 wurde Karl Minnigerode bei dem Versuch, 139 Exemplare des in Offenbach gedruckten Hessischen Landboten nach Gießen einzuschleusen, verhaftet und erst in Friedberg, dann in Darmstadt inhaftiert. Wenige Wochen zuvor war bereits Wilhelm Schulz zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden. Vorladungen und Verhöre häuften sich, und mit der Festnahme August Beckers am 6. April und Leopold Eichelbergs am 7. April 1835 begann eine Verhaftungswelle, aufgrund derer sich eine ganze Reihe Oppositioneller aus dem Kreis um Büchner und Weidig zur Flucht gezwungen sah. Sie führte die Flüchtlinge besonders häufig nach Straßburg, das einerseits jenseits der französischen Grenze und damit außerhalb des Zugriffs der deutschen Behörden, andererseits im unmittelbaren Einzugsbereich deutscher Sprache und Kultur und in der Nachbarschaft der liberaleren süddeutschen Staaten lag.
Wie verschiedene Berichte belegen, LZ 3690 Wiener, Erinnerung an die Flucht existierte etwa seit Sommer 1834 eine gut organisierte Fluchtroute, eine regelrechte „Flüchtlings-Schnellpost“, die den Flüchtlingen half, aus Hessen und Baden nach Straßburg zu entkommen. LZ 3708 Vogt, Erinnerungen an die Flucht In Mainz, Worms, Germersheim, Speyer und den nahe der elsässischen Grenze gelegenen Orten stand Tag und Nacht ein fahrbereites Gefährt für die Flüchtenden bereit. Ein anderer Weg führte von Oberhessen durch den Odenwald nach Heidelberg, dann bei Karlsruhe oder Kehl, wo ein Gastwirt namens Wilhelm Rehfuß als Anlaufstation genannt wird, über den Rhein. LZ-4260 Ludwig Büchner, Biographische Darstellung Mit diesem Fluchtweg rechnete möglicherweise Ludwig Büchner, wenn er über Georgs Flucht schrieb: „Er nahm seinen Weg durch Würtemberg und Baden und wurde überall von den Anhängern der geheimen Gesellschaften weitergefördert.“
Im Falle von Hermann Wiener, der später besonders detailliert über seine Fluchtroute berichtet hat, war die erste Station ein Spediteur in Bensheim, der ihn bis an den Rhein brachte. In Worms stieg er im Haus des Weinhändlers Johann Philipp Bandel ab, der die Flüchtlinge als Begleiter auf seinen Weinreisen nach Neustadt mitnahm. Von dort wurde Wiener von einem Holzmacher namens Jakob als angeblicher Gerber über Landau nach Bergzabern mitgenommen, der nächste Fuhrmann übernahm den Weg bis zur Grenze bei Weißenburg, von wo aus der Weg mit der regulären Postkutsche weiter nach Straßburg ging. Auch Georg Büchner kann über die Stationen Bensheim, Worms, Neustadt, Landau, Weißenburg/Wissembourg nach Straßburg gelangt sein.
Zeitleiste 7. März 1835Als am 7. März das Honorar für Danton's Tod in Darmstadt eintraf, teilte Ernst Büchner dem Absender, Karl Gutzkow, mit, er habe die Geldanweisung anstelle seines Sohnes in Empfang genommen, denn dieser sei gerade "in Folge einer besonderen Ursache nach Friedberg verreist", werde aber "längstens innerhalb einiger Tage zurück" sein. Büchner hatte also seine Entfernung aus dem Elternhaus mit einer notwendigen Reise nach Friedberg begründet. Möglicherweise gab er Friedberg an, um die Polizei gegebenenfalls auf eine falsche Spur zu lenken. Möglich ist aber auch, dass Büchner eine alibifeste, also zutreffende, Angabe hinterließ, um im Falle einer Befragung durch die Polizei keinen zusätzlichen Verdacht zu erregen. Hldok 6210 Complott zur Gefangenenbefreiung Tatsächlich hatten die Mitglieder der Landboten-Gruppe für genau diese Zeit Vorbereitungen getroffen, um die in Friedberg inhaftierten Mitverschworenen zu befreien, und sie hatten sicher auch die Fluchtwege genau vorbereitet. Der Befreiungsversuch scheiterte daran, dass der als Mithelfer gewonnene Soldat in letzter Minute zufällig abgelöst wurde. Denkbar und sogar wahrscheinlich ist also, dass Büchner nach Friedberg ging, dort die Möglichkeit einer Gefangenenbefreiung noch einmal eruierte und schließlich den Fluchtweg von Friedberg über Mainz und Weißenburg nach Straßburg nahm (vgl. MBA III.2, S. 244).
Dort angekommen, waren bekannte Anlaufstellen die Gasthäuser „Zum Rebstock“ (auch „Rebstöckel“ genannt) und der „Tiefe Keller“.
In einem Brief Georg Büchners an Karl Gutzkow vom Januar 1836 heißt es in diesem Sinne: „Im Fall Sie den Weg über Straßburg nehmen, so fragen Sie nach mir bey Herrn Schroot Gastwirth zum Rebstock.“ Nach Mitte Januar 1836. An Karl Gutzkow in Mannheim
Text: Maximiliane Jäger-Gogoll (Juni 2014) / Burghard Dedner (April 2016); zuletzt bearbeitet: Januar 2017