WZ 1215
Hermann Marggraff: Zu „Lenz“ und „Leonce und Lena“, in: „Blätter für literarische Unterhaltung“; Leipzig 20. Oktober 1843

Karl Gutzkow.

(Beschluß aus Nr. 292.)

Der dritte Band ist von erheblicherm Interesse, weniger durch Gutzkow’s Notiz über Prof. Meyer, Meidinger’s französische Grammatik, einen Besuch bei Bettina, einen Besuch Immermann’s bei Gutzkow, weniger durch seine eigene Reisen- und Novellenskizzen, obgleich darunter manches Hübsche, als durch zwei Reliquien von Georg Büchner, und um dieser Reliquien willen würden wir, selbst wenn Gutzkow’s Aufsätze gar nichts bedeuteten, diesem die Herausgabe dieser Sammlung gern vergeben. Die erste derselben trägt den Titel „Lenz“, eine Art Novelle, welche den strasburger Aufenthalt des unglücklichen Dichters und sein Verhältniß zu dem bekannten pietistischen Pfarrer Oberlin in Steinthal zum Gegenstande hat. Hier ist wahrhaft poetische Anschauung, die Sprache und Malerei dichterischer Empfindung, Durchgeistigung des Stoffs und Beseelung des blos Körperlichen; dabei hat die Erzählung selbst so etwas wüst Träumerisches, so etwas Halbwahnsinniges, sie wälzt und wühlt und kugelt sich so unheimlich durch seltsame bald knapp abgebrochene, bald traumhaft verlängerte Wortwindungen und Satzverschlingungen, das Thun und Treiben und Wesen schleudert sich und drängt, treibt und stößt sich so willenlos dämonisch, so unruhig absichtslos von rechts nach links, durch Licht und Dunkel, kopfüber, kopfunter, im Gange, im Hüpfen, im Sprunge, im wilden athemlosen Laufe, daß es dem Leser fast erscheint, als lese er hier nicht die Novelle eines Zweiten über einen Wahnsinnigen, sondern habe es mit diesem selbst zu thun, sei wol gar von ihm angesteckt, als sei Büchner Lenz und Lenz Büchner und er, der Leser selbst, Beide zugleich.

Die zweite Reliquie besteht aus Bruchstücken aus einem Lustspiele »Leonce und Lena«, voll gesunden Witzes und echten Humors. Nur ein Beispiel für viele:

König Peter und der Staatsrath.

Peter. Meine Lieben und Getreuen, ich wollte Euch hiermit kund und zu wissen thun, kund und zu wissen thun – denn entweder verheirathet sich mein Sohn, oder nicht (legt den Finger an die Nase) entweder, oder – Ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken. (Steht eine Zeit lang sinnend.) Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht, wer es eigentlich ist, ich oder ein Anderer, das ängstigt mich. (Nach langem Besinnen.) Ich bin ich. – Was hätten Sie davon, Präsident?

Präsident. (Gravitätisch langsam.) Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.

Der ganze Staatsrath im Chor. Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.

Peter. (Mit Rührung.) O meine Weisen! Also von was war eigentlich die Rede? Von was wollte ich eigentlich sprechen? Präsident, was haben Sie ein so kurzes Gedächtniß bei einer so feierlichen Gelegenheit? Die Sitzung ist aufgehoben!

Man kann nicht leugnen, daß diese beiden Reliquien etwas Hervorstechendes in dieser Sammlung sind, und daß sich der Leser, geätzt, geprickelt und gestachelt von so vielen Gutzkow’schen Verstandeswitzen, in diesen romantischen Zwischenpartien gern erholt. Was man aber auch gegen diese »Vermischten Schriften« mit Recht sagen und an ihnen im Ganzen wie im Einzelnen aussetzen kann, sie bilden immer eine interessante Sammlung, sowol durch ihren mannichfaltigen Stoff als durch die meist geistreiche Behandlung des Stoffs. [...]

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Überlieferung
Druck: Hermann Marggraff: Karl Gutzkow. Vermischte Schriften. Von Karl Gutzkow. Drei Bände. Leipzig, Weber 1842. 8. 4 Thlr. 15 Ngr., in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 290–293, 17.–20. October 1843, S. 1161–1163, 1165–1167, 1169–1171, 1173 f., hier S. 1173.