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Wilhelm Schulz: „Nekrolog“; Zürich vor 28. Februar 1837 In: Schweizerischer Republikaner. Nr. 17. 28. Februar 1837.

Nekrolog.

Im Verlaufe weniger Tage hat der Tod zwei ausgezeichnete deutsche Männer den Reihen ihrer trauernden Landsleute und der Genossen ihres Schicksals entrissen. Am 15. Februar wurde Ludwig Börne zu Paris, am 21. Februar Georg Büchner zu Zürich beerdigt. Beide ruhen in fremdem Lande, denn Beiden hatte sich das Vaterland verschlossen. Wenn Börne im heiligen Kampfe für Licht und Recht ein lang erprobter Streiter war, der mit steter Ausdauer die scharfen Geisteswaffen gegen Unterdrückung und Knechtschaft, gegen Heuchelei und Lüge gerichtet hatte; so begrüßten Alle, welche G. Büchner näher kannten, in diesem die frische Jugendkraft, der eine weite Bahn des Ruhms und der Ehre offen lag. Große Hoffnungen ruhten auf ihm, und so reich war er mit Gaben ausgestattet, daß er selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen haben würde.

G. Büchner, der Sohn eines angesehenen Arztes zu Darmstadt, wurde am 17. Oktober 1813 zu Goddelau bei Darmstadt geboren. Nachdem er das Gymnasium dieser Stadt besucht, widmete er sich zu Straßburg vom Herbste 1831 bis zum August 1832, sodann vom Oktober dieses Jahres bis zur Mitte des Jahres 1833 dem Studium der Naturwissenschaften, besonders der Zoologie und vergleichenden Anatomie. In dieser Zeit von einer Unpäßlichkeit befallen, fand er sorgsame Pflege im Hause seines Verwandten, des Pfarrers Jägle zu Straßburg. Während dieser Krankheit verlobte er sich mit der Tochter dieses würdigen Geistlichen, welche durch Geist und Herz in jeder Beziehung seiner würdig war. Die Gesetze seines Heimathlandes riefen ihn im Herbst 1833 auf die Universität Gießen, wo er sein Studium der Naturwissenschaften fortsetzte, und zugleich, nach dem Wunsche seines Vaters, mit der praktischen Medizin sich befaßte. Durch eine Hirnentzündung im Frühjahr 1834 erlitten diese Studien einige Unterbrechung; doch kehrte er nach kurzem Aufenthalte in Darmstadt nach Gießen zurück, wo er bis zum Herbst 1834 verweilte. Von da begab er sich abermals in sein älterliches Haus zu Darmstadt, wo er fortwährend mit Naturwissenschaften, sowie mit Philosophie sich beschäftigte, und zugleich, im Auftrage seines Vaters, anatomische Vorlesungen hielt.

In der letzten Zeit seines Aufenthalts in Gießen wurde Büchner, mit vielen andern Jünglingen seines Sinnes und Alters, in die politischen Bewegungen jener Zeit verwickelt. Der gegen ihn eingeleiteten Untersuchung entzog er sich im März 1835 durch seine Abreise nach Straßburg. Hier gab er entschieden die praktische Medizin auf, und widmete sich mit rastlosem Eifer dem Studium der neueren Philosophie. Besonders tief drang er in die Lehren von Cartesius und Spinoza ein. Eine gleiche Thätigkeit, die ihn häufig seine Arbeiten bis tief in die Nacht fortsetzen ließ, wendete er auf die Naturwissenschaften. Im Dezember 1835 begann er die Vorarbeiten für seine Abhandlung: „Sur le système nerveux du barbeau,“ welcher er die Ernennung zum korrespondirenden Mitgliede der naturforschenden Gesellschaft zu Straßburg verdankte. Durch Einsendung derselben Abhandlung an die philosophische Fakultät zu Zürich erwarb er sich die philosophische Doktorwürde. Von den ausgezeichnetsten Kennern der Naturwissenschaften ist diese Schrift für eine meisterhafte Arbeit erklärt worden, die zu den höchsten Erwartungen berechtige. Gleich bedeutend kündigte er sich durch seine Probevorlesung und seine akademischen Vorträge über vergleichende Anatomie an der Hochschule zu Zürich an, wohin er sich am 18. Oktober vorigen Jahrs zu bleibendem Aufenthalte begeben hatte.

Aber nicht blos die Natur, auch das reiche innere Leben der Menschen, ihre Leidenschaften und Neigungen, ihre Schwächen und Tugenden zogen ihn mächtig an, und was er mit scharfem Blicke aufgefaßt, gestaltete sich seinem produktiven Geiste zu poetischen Schöpfungen. Besonders hatte ihn das große Drama der neueren Zeit, die französische Revoluzion, lebhaft ergriffen. Er studirte gründlich die Geschichte derselben, und bemächtigte sich eines ihrer bedeutendsten Stoffe. In politische Untersuchungen verwickelt, unter mannigfachen Störungen und Beschäftigungen verschiedener Art, vollendete er in wenigen Wochen, während seines letzten Aufenthalts zu Darmstadt, sein dramatisches Werk: „Dantons Tod; dramatische Bilder aus der Zeit der Schreckensherrschaft.“ Einer der strengsten und geistvollsten Kritiker Deutschlands bezeichnete dieses Drama als das Werk des Genie’s, und pries sich glücklich, der Erste zu sein, welcher das deutsche Publikum auf den so hervorragenden Geist aufmerksam mache. In Straßburg gab sodann Büchner sehr gelungene Uebersetzungen der beiden Dramen Viktor Hugo’s, Lucrece Borgia und Marie Tudor, heraus. In derselben Zeit und später zu Zürich vollendete er ein im Manuskript vorliegendes Lustspiel, Leonce und Lena, voll Geist, Witz und kecker Laune. Außerdem findet sich unter seinen hinterlassenen Schriften ein beinahe vollendetes Drama, sowie das Fragment einer Novelle, welche die letzten Lebenstage des so bedeutenden als unglücklichen Dichters Lenz zum Gegenstande hat. Diese Schriften werden demnächst im Druck erscheinen.

Der so reich begabte junge Mann war mit zu viel Thatkraft ausgerüstet, als daß er bei der jüngsten Bewegung im Völkerleben, die eine bessere Zukunft zu verheißen schien, in selbstsüchtiger Ruhe hätte verharren sollen. Durch seinen frühe gereiften Geist auf eine heitere Höhe gestellt, blieb er indessen in seinen politischen Ansichten von manchen Täuschungen frei, welchen sich die Jugend willig hinzugeben pflegt. Ein Feind jeder thöricht unbesonnenen Handlung, die zu keinem günstigen Erfolge führen konnte, haßte er doch jenen thatenlosen Liberalismus, der sich mit seinem Gewissen und seinem Volke durch leere Phrasen abzufinden sucht, und war zu jedem Schritte bereit, den ihm die Rücksicht auf das Wohl seines Volkes zu gebieten schien. So haben denn in gleicher Weise die Wissenschaft, die Kunst und das Vaterland seinen frühzeitigen Verlust zu beklagen. Dieses Vaterland hatte er verlassen müssen, aber der Genius ist überall zu Hause. In Zürich hätte er eine zweite Heimath gefunden; dafür bürgt die Anerkennung, die ihm seine Talente erwarben, dafür die Theilnahme, die von so vielen der ausgezeichnetsten Bewohner dieser Stadt seinem Andenken am Tage der Beerdigung bezeigt wurde.

Keiner seiner Freunde hatte diesen Tag noch vor wenigen Wochen nahe geglaubt. Außer einigen leichten Unpäßlichkeiten war Büchner während seines Aufenthalts in Zürich stets gesund geblieben. Sein Aeußeres schien mit seinem Innern in Harmonie zu stehen, und die breit gewölbte Stirne schien noch lange seinem umfassenden Geiste eine sichere Stätte zu sein. Doch mochte er selbst ein Vorgefühl seines frühen Endes haben. Wenigstens vergleicht er in einem hinterlassenen Tagebuche den Zustand seiner Seele mit einem Herbstabende, und schließt seine Bemerkung mit den Worten: „Ich fühle keinen Ekel, keinen Ueberdruß; aber ich bin müde, sehr müde. Der Herr schenke mir Ruhe!“

Am 2. Februar mußte er sich zu Bette legen, das er von jetzt an nur für wenige Augenblicke verließ. Trotz der Sorgfalt der Aerzte und der Pflege seiner Freunde machte die Krankheit unaufhaltbare Fortschritte, und bildete sich bald zum heftigen Nervenfieber aus. Am 12. Tage fingen die Delirien an. Der Gegenstand seiner Phantasieen waren seine Braut, seine Eltern und Geschwister, deren er mit der rührendsten Anhänglichkeit gedachte, und das Schicksal seiner politischen Jugendgenossen, die seit Jahren in den Kerkern seiner Heimath schmachten. Wie vor seiner Krankheit, so sprach er auch jetzt in bitteren aber wahren Worten, die im Munde eines Sterbenden ein doppeltes Gewicht haben, über jene Schmach  unserer Tage sich aus, über die verwerfliche Behandlung der politischen Schlachtopfer, die nach gesetzlichen Formen und mit dem Anschein der Milde in Jahre langer Untersuchungshaft gehalten werden, bis ihr Geist zum Wahnsinne getrieben und ihr Körper zu Tode gequält ist. „In jener französischen Revoluzion,“ so rief er aus, „die wegen ihrer Grausamkeit so verrufen ist, war man milder als jetzt. Man schlug seinen Gegnern die Köpfe ab. Gut! Aber man ließ sie nicht Jahre lang hinschmachten und hinsterben.“ Später jedoch, als ihm der Tod näher gerückt war, schien er sich bereits von allen irdischen Banden losgerissen zu haben, und mit gehobener Sprache, deren Worte die erhabensten Stellen der Bibel ins Gedächtniß riefen, ergoß sich seine Seele in religiöse Phantasieen.

Auf die erste Nachricht von seiner Krankheit eilte seine Verlobte an das Krankenbett ihres Bräutigams. Die Nähe der Geliebten leuchtete freundlich in seine Träume hinein, und seine sichtbar freudige Bewegung weckte einen letzten Schimmer der Hoffnung bei denen, die ihm nahe standen. Aber es war nur ein kurzes Aufflackern des verglimmenden Lebens! Von Landsleuten und Freunden umgeben, starb er am 19  Februar, Nachmittags gegen 4 Uhr, und seine treue Braut schloß ihm das gebrochene Auge. Sein Verscheiden war schmerzlos und sanft, denn der Segen der Liebe ruhte auf ihm!

Überlieferung
Erstdruck: Schweizerischer Republikaner. Nr. 17. 28. Februar 1837, S. 71 f.