LZ 2255
Carl Vogt: Erinnerungen an Büchner; Genf um 1891

So hörte ich denn im ersten Winter nur menschliche Anatomie bei Wilbrand, präparierte, wenn Leichen vorhanden waren, was nur selten vorkam, und folgte zugleich einem Privatissimum bei Prosektor Wernekinck über vergleichende Anatomie. Dieser, ein gemütlicher, dicker Mann, ausgezeichneter Violoncellspieler und trefflicher Präparator, hatte keinen großen Respekt vor den anatomischen Kenntnissen seines Vorgesetzten und besaß eine eigene Sammlung, welche er niemals seinem Chef zur Verfügung stellte. „Er versteht nichts davon,“ sagte er, „und zerbricht alles mit seinen ungeschickten Händen!“ Dieses Privatissimum hatte mich sehr interessiert; Wernekinck demonstrierte uns die damals landläufigen Wirbeltheorien und gab sich alle Mühe, uns in das Heiligtum der vergleichenden Anatomie an der Hand Cuviers und Meckels einzuführen. Es wurde ihm dies um so leichter, als nur drei Zuhörer dies Privatissimum belegt hatten: ein Nassauer Namens Kratz, ich und Georg Büchner, der Verfasser von „Dantons Tod“, der später in der Blüte seiner Jahre als Privatdozent der vergleichenden Anatomie in Zürich starb.

Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Cylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der „rote August“ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu thun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: „Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!“ – Er that, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei. In Wernekincks Privatissimum war er sehr eifrig und seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns beiden andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche uns Respekt einflößten. Zu einer Annäherung kam es aber nicht; sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab.

Überlieferung
Druck: Carl Vogt, Aus meinem Leben, 1896, S. 120 f.