LZ 1580
Bürgermeisterei Darmstadt. „Verzeichniß der im Jahre 1813. geborenen Militärpflichtigen“; Darmstadt März/April bzw. nach Mitte Mai 1833

Ordnungs-Nummer. 172 H2 [174 H1].

Geschlechts- und Vornamen der Dienstpflichtigen.

Geschlechtsnamen. Büchner
                             77 nur H1 (in Bleistift)

Vornamen. Carl Georg

Geschlechts- und Vornamen der Eltern.

Vornamen des Vaters. Ernst Carl Gr. Medicinal-Rath

Geschlechts- und Vornamen der Mutter. Luise Caroline g. Reuß

Geburts-Tag und Monat. 17. Octbr.

Religion. do: [= dito, gemeint also: luth.]

Handwerk oder Gewerbe. Studiosus H2 [stud: H1]

Vermögen über oder unter 300 fl. über[1]

Ob er mit Pferden umzugehen versteht? –[2]

Bemerkungen. lt. Ueberweisungsliste in Goddlau geboren.[3]
untauglich B[4] nur H2


Überlieferung
H2 („Duplicat“ auf Formular) u. H1 („Concept“ auf Formular): Staatsarchiv Darmstadt, ST 12 A Abt. 8 Fasz. 20; Text zur Verfügung gestellt durch Reinhard Pabst.

Text in H2 in Kolumnen; hier horizontal dargestellt.

Datierung
Vom 16. Februar bis 2. März 1833 war im Darmstädter Rathaus eine Ortsliste mit den Namen der Militärpflichtigen des Geburtsjahrgangs 1813 ausgehängt. Die Musterung selbst fand vom 13. Mai (Montag) bis 15. Mai (Mittwoch) jeweils ab 8 Uhr morgens statt. Sowohl H1 als auch H2 sind auf den Formularen dieser ursprünglichen „Ortsliste“ angelegt. Daneben existierten „Überweisungslisten“ mit den Namen der außerhalb Darmstadts geborenen, aber in Darmstadt lebenden Personen. H1 enthält, wie der letzte Eintrag zeigt, bereits die Nachträge aus den „Überweisungslisten“, ist also nicht das „Concept“ der ursprünglichen Ortsliste, sondern bereits eine im März oder April ergänzte Version mit weiteren Nachträgen der am 15. Mai gezogenen Losnummern (hier die Nummer 77).
H2 enthält mit der Bemerkung „untauglich“ das endgültige Resultat der Musterung, entstand also vermutlich zwischen Ende Mai und dem endgültigen Abschluß des „Musterungs-Geschäfts“ im Großherzogtum am 7. Dez. 1833.

Erläuterungen
Dass Büchner bei der Musterung persönlich anwesend war, ist möglich, aber unwahrscheinlich. Die gesetzlichen Bestimmungen sprechen – aber nur bei strikter Auslegung – für seine Anwesenheit; dagegen spricht, dass er anscheinend zunächst nur als „zweifelhaft untauglich“ eingestuft wurde.
Die Musterung fand in Anwesenheit des Bürgermeisters, des Kreisrats und des Rekrutirungs-Commissärs der Provinz Starkenburg, Georg Christian Karl Zimmermann, sowie der Kommissions-Ärzte im Rathaussaal statt. Nach § 40 der „Verordnung, die Vollziehung des Recrutirungsgesetzes vom 20. Juli 1830 betr.“ (und nach Art. 29 dieses Gesetzes) hatten „sämmtliche Militärpflichtige [...] unfehlbar“ zu dieser Musterung zu erscheinen, „mit alleiniger Ausnahme derjenigen, welche durch Bevollmächtigte erklären lassen, daß sie sich im Militärdienste vertreten lassen wollen“ (Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 36, 11. Mai 1831, S. 248; Rekrutierungsgesetz ebd., Nr. 45, 4. August 1830, S. 241-252, vgl. auch Wagner IV, 1831, 124 ff.). Als weitere Entschuldigungsgründe für „Nichterscheinen“, das ansonsten „ohne Rücksicht“ mit dem Einzugsbefehl geahndet wurde, werden „absolute physische Hindernisse“ oder Inhaftierung genannt (ebd. § 40).
Der zu Musternde konnte als „tauglich“, „untauglich“ oder „zweifelhaft untauglich“ eingestuft werden. Hierfür war als Procedere festgelegt, daß der Vorgeladene, tunlichst bereits mit einem ärztlichen Gutachten versehen, die Kommission auf seine für den untersuchenden Arzt „durch die Sinne nicht wahrnehmbare“ Behinderung („z. B. Schwerhörigkeit, Kurzsichtigkeit, fallende Sucht etc.“) aufmerksam machte, worauf dann die weitere medizinische Kontrolle auf diesen Punkt beschränkt blieb (Verordnung 1831, §§ 10 u. 122). Die Beurteilung der Untauglichkeit war ausschließlich den Ärzten der Recrutirungs-Commission bzw. des Recrutirungsrats persönlich vorbehalten (Verordnung 1831, § 44, 122 u. Formular VII). „Mängel des Sehvermögens, durch welche das Erkennen der Gegenstände, nämlich einzelner Personen nach ihrer Kleidung, Waffenart u.s.w. in einer Entfernung von 30 Schritten gehindert ist, als Kurzsichtigkeit (Myopia)“, waren nach dem entsprechenden, detaillierten „Reglement“ vom 23. Mai 1827 ein Grund für Untauglichkeit (Großherzogl. Hess. Regierungsblatt, Nr. 18, 8. Juni 1827, S. 105, § 9. XX. d). Wenn den Ärzten über den Grad der Behinderung Zweifel blieben, konnten sie den Gemusterten vorläufig und so lange als „zweifelhaft untauglich“ einstufen, bis er durch weitere „Attestate der Geistlichen, der Schullehrer, der Bürgermeister und Gemeinderäthe, sodann eidliche Zeugnisse unbescholtener Männer“ sein „Gebrechen“ glaubhaft belegen konnte (Verordnung 1831, §§ 44, 127 u. Formular VII).
Auf die Musterung folgten die Auslosung und die Entscheidung über Stellvertretung. Die „Kriegs-Dienstpflicht“ im Großherzogtum Hessen war durch Art. 29 der Verfassung von 1820 geregelt, wonach unter den tauglich Gemusterten „das Loos“ über die tatsächliche Einberufung zum sechsjährigen Militärdienst entschied, allerdings „mit Gestattung der Stellvertretung“. Da es zur Ergänzung des vom Deutschen Bund festgelegten hessen-darmstädtischen Truppenkontingents von 1% der Bevölkerung (etwa 6500 Mann) bei 6 Jahren Dienstzeit genügte, jeweils nur den geringeren Teil eines Musterungsjahrgangs tatsächlich „marschieren“ zu lassen, sorgte nach der Musterung eine Lotterie mit Losnummern entsprechend der Anzahl der Tauglichen und der ihre Vertretung Beantragenden für die vorgesehene Reduktion. Wer persönlich – oder durch seinen Bevollmächtigten – eine der niederen Nummern zog (in Darmstadt 1833 die Nrn 1-34 unter 116 „Aufrufsfähigen“ auf der Ortsliste), wurde selbst verpflichtet oder hatte für seine Vertretung durch einen sog. „Einsteher“ zu sorgen, den er in der Regel mit etwas über 200 Gulden zu entlohnen hatte. Büchners Jahrgangskamerad Ludwig Nievergelder wählte zum Beispiel diesen Weg der Vertretung. Gegen dieses Risiko konnte man sich allerdings auch in einer von mehreren privaten Militärvertretungsanstalten des Großherzogtums gegen rund 90 Gulden versichern lassen (eine dieser für die Betreiber äußerst lukrativen Anstalten gehörte Büchners entfernterem Verwandten Ernst Emil Hoffmann). Da es sich bei den „Einstehern“ meist um Angehörige der ländlichen Unterschichten vor allem aus Oberhessen handelte, war auf diese Weise praktisch ausgeschlossen, daß ein Bürgersohn – es sei denn er hätte sich als Freiwilliger dazu gedrängt – seiner Militärpflicht selbst nachkommen mußte, was in den Landständen auch offen dargelegt wurde (vgl. im einzelnen Fleck 1984). Als „zweifelhaft untauglich“ Eingestufte beteiligten sich an der Auslosung (Verordnung 1831, § 49).
Büchner wird in H2 endgültig als „untauglich“ eingestuft. Der Grund war vermutlich seine mehrfach bezeugte (vgl. LZ 1190 Carl Dilthey: Exemtionsschein und HL Dok 3.4.10) Kurzsichtigkeit. Aus der Tatsache, dass Büchner an der Auslosung beteiligt war, geht jedoch hervor, dass er zunächst als „zweifelhaft untauglich“ eingestuft wurde. Auf ihn fiel dabei die Nummer 77, die in H1 unter seinem Namen eingetragen wurde, so dass er in jedem Fall nicht hätte „marschieren“ müssen. Sieben Namen – dabei „Büchner“ mit Nr. 77 an erster Stelle – sind noch zusätzlich auf der letzten Seite von H1 mit Bleistift notiert. Vermutlich handelt es sich um eine Liste zweifelhafter Fälle, die zur Erinnerung des Bürgermeisters an noch bestehenden Handlungsbedarf angelegt wurde.
Sonstige Informationen sprechen nicht gegen eine Anwesenheit Büchners bei der Musterung. Büchner war am 1. und am 19. Mai bei seiner Großtante Margarete Reuss, kann also zwischen dem 13. und 15. Mai in Darmstadt gewesen sein. Andererseits kam er weder in den Weihnachts- noch in den Osterferien nach Hause zurück, und auch sonst ist der Straßburger Zeit mit keiner Reise nach Dasrmstadt zu rechnen. Wir können als zumindest annehmen. dass Büchner versucht hätte, as Erscheinen vor der Musterungskommission zu verschieben.
Fraglich ist, ob Büchners Auslandsaufenthalt im Mai 1835 als „absolutes physisches Hindernis“ gelten konnte. Wenn nicht, so musste Büchner erscheinen. Er hätte dann das Attest seines Vaters über seine Kurzsichtigkeit und folglich Wehrunfähigkeit vorlegen können. Dass aber die Behörden dieses Attest des zweithöchsten Medizinalbeamten im Großherzogtum als „zweifelhaft“ beurteilt und weitere Belege verlangt hätten, ist auszuschließen. Wahrscheinlicher ist demnach, dass die Behörden den Auslandsaufenthalt als Hinderungsgrund anerkannten, dass sie Büchner am Losverfahren beteiligten und die endgültige Einstufung „untauglich“ erst vornahmen, als Büchner nach der Rückkehr aus Straßburg sich der Behörde persönlich vorstellte.

Anmerkungen

  • [1] Die Aufnahmen in dieser Rubrik dienten zur Beurteilung eventueller Rückstellungsgesuche („Depotansprüche“; Verordnung 1831, § 18 ff., Recrutirungsgesetz 1830, Art. 17 ff.). Der Eintrag: über 300 Gulden findet sich auch bei studierenden Bürgersöhnen häufiger und bezeichnet vmtl. das Vermögen der Eltern.
  • [2] Der verneinende Strich in dieser Rubrik für besondere Eignung findet sich ganz überwiegend in der Darmstädter Ortsliste.
  • [3] Information des Goddelauer Bürgermeisters an den Darmstädter (vgl. Verordnung 1831, § 9 u. Formular III).
  • [4] Alle Bemerkungen zu Untauglichkeit oder Vertretung tragen diese Paraphe - möglicherweise die des Actuars der Recrutirungs-Commission, Basset.

 

Übernommen aus dem geplanten Band "Lebenszeugnisse", der von Thomas Michael Mayer und Reinhard Pabst herausgegeben werden sollte; Erläuterungen überarbeitet und eingestellt Juli 2018 (BD)