3.9. Einleitung zu: Probevorlesung

Die titellose Probevorlesung Probevorlesung ist neben der französischsprachigen Dissertation Mémoire sur le système nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.) die zweite naturwissenschaftliche Schrift Georg Büchners. Der Vortrag diente der Habilitation und der erfolgreichen Bewerbung als Privatdozent an der Universität Zürich. Damit schloss Büchner seine viereinhalbjährige Studienzeit ab und stand am Beginn einer wissenschaftlichen Karriere als Hochschullehrer.

Abfassung und Druck des MémoireDie Ergebnisse seiner Dissertation über das Nervensystem der Barben präsentierte Büchner Ende April und Anfang Mai 1836 in drei Sitzungen der „Société d’histoire naturelle de Strasbourg“ und bereitete im Mai und Juni die Publikation der Arbeit vor. Sie lag vermutlich Ende Juli 1836 als Separatdruck vor und erschien nach Büchners Tod im April 1837 in der Schriftenreihe der „Société d’histoire naturelle“. Sie ist nur in dieser Druckfassung überliefert. Privatdozent in Zürich Im August reichte Büchner die Arbeit an der Universität Zürich ein und erhielt dafür am 3. September sein Doktordiplom. Mit gleicher Post erhielt er die Einladung zu einer Probevorlesung, die für den Erwerb der Lehrbefugnis als Privatdozent in Zürich Voraussetzung war. Er hielt die Probevorlesung am 5. November 1836.

Einleitung zu Mémoire sur le système nerveux du barbeau Zwischen dem Mémoire sur le système nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.) und der Probevorlesung bestehen enge Zusammenhänge. Lediglich im ersten Drittel des Vortrags entwickelt Büchner neue Gedanken zu naturphilosophischen und methodologischen Fragen und referiert in Abgrenzung zu seinem eigenen Zugang Arbeiten der Anatomen Carl Gustav Carus (1789–1868) Probevorlesung und Friedrich Arnold (1803–1890) Probevorlesung .

Einleitung zu Mémoire (philosophischer Teil) Dann folgt eine Paraphrase und Zusammenfassung des zweiten, "philosophischen Teils" der Dissertation, in dem Büchner die Schädelnerven der Fische "genetisch", also evolutionsgeschichtlich deutet. Gelegentlich ergänzt Büchner seine Darlegung durch vergleichende Hinweise auf andere LZ 4230 von Tschudi an Franzos Tierklassen im Stamm der Wirbeltiere bis hin zum Menschen.Damit zeichnet sich ein größeres Forschungsprogramm ab Zeitleiste Ende Januar 1837, das sich auch in Büchners erster Züricher Lehrveranstaltung im Wintersemester 1836/37 unter dem Titel „Zootomische Demonstrationen“ und in der für den Sommer geplanten Vorlesung „Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere“ widerspiegelt.

Seine Probevorlesung beginnt Büchner mit der Unterscheidung zweier naturwissenschaftlicher "Grundansichten", "die sogar ein nationelles Gepräge tragen". Die eine, die „teleologische“, dominiert in Frankreich und England. Ihre Vertreter betrachten die Organe des lebenden Körpers, wie man die Teile einer Maschine betrachten würde, nämlich in Hinsicht auf ihre Zweckmäßigkeit. Der vorausgesetzte Zweck ist es, den Organismus "bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten". Probevorlesung Nach welchen natürlichen Gesetzmäßigkeiten diese Organe entstanden sind, interessiert sie nicht.

Die entgegengesetzte "Grundansicht", die in Deutschland dominierende „philosophische“ Methode, folgt dagegen dem niederländischen Philosophen Spinoza in der Annahme: "Die Natur handelt nicht nach Zwecken  [...], sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug". Probevorlesung Zu erforschen ist demnach das Gesetz, nach dem "die Natur handelt". Büchner spricht in diesem Zusammenhang von einem „Urgesetz", einem "Gesetz der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt." Probevorlesung Jedoch soll diese Formel zunächst nur die Vorstellung abwehren, dass die Natur willkürlich und planlos stets neue Formen hervorbringt. Nichts in der organischen Natur ist etwas "neu Hinzugefügtes". Büchner rechnet vielmehr mit konstanten Bauplänen in der Entwicklungsgeschichte der Organismen und mit einem Prozess der Ausdifferenzierung und Höherentwicklung des schon Vorhandenen, "mit Modificationen in einer höheren Potenz". Probevorlesung

Methodisch wendet sich Büchner gegen die bisherige Dominanz der Humananatomie. Der vergleichende Anatom dürfe nicht - wie es der zu Büchners Zuhörern zählende Friedrich Arnold getan hatte Probevorlesung -  die Befunde am Menschen zugrunde legen, sondern müsse sich durch Analogiebildungen und die Suche nach Entsprechungen von den "einfachsten Formen" zu den komplizierteren vorarbeiten. Büchner untersuchte das Nervensystem der Fische weil in dieser "einfachsten Form" der Wirbeltiere "sich nur das Ursprüngliche, absolut Nothwendige zeigt".Probevorlesung Er untersuchte die Barben deshalb, weil er diese - gemeinsam mit Carus - als reinsten Vertreter des Typus Fisch betrachtete. Seine Untersuchung der Hirnnerven stützte Büchner ferner ferner auf die "Schädelwirbeltheorie", also auf eine zeitgenössisch weit verbreitete Annahme über die Entwicklung des Knochenbaus und die Entstehung des Schädels, wie sie unter anderem von dem Naturphilosophen Lorenz Oken (1779–1851) sowie auch von Goethe und einer Vielzahl europäischer Forscher vertreten wurde. Nach dieser Annahme ist der Schädel aus Rückenwirbeln hervorgegangen und das Gehirn stellt eine Metamorphose von Rückenmarkssträngen dar.

Entstehung

Am 18. Oktober 1836 bricht Büchner von Straßburg nach Zürich auf. Bis dahin hatte er an einer Philosophievorlesung vor allem zu Descartes und Spinoza gearbeitet, denn noch ging er davon aus, dass er in Zürich Philosophiegeschichte lehren werde. Am 24. Oktober bezog er sein Zimmer in der Zürcher Spiegelgasse und verfasste innerhalb der folgenden elf Tage das Manuskript zur Probevorlesung. Die öffentliche Veranstaltung fand am 5. November 1836 statt. Danach wurde Büchner sogleich als Privatdozent angenommen und begann in dem bereits laufenden Semester seine erste Lehrveranstaltung unter dem Titel „Zootomische Demonstrationen“, für die er die notwendigen zahlreichen Präparate selbst anfertigen musste.

Überlieferung

Die Handschrift der Probevorlesung umfasste vermutlich fünf Doppelblätter. Von ihnen hat sich das erste nicht erhalten. Von ihm existiert jedoch in den von Ludwig Büchner herausgegebenen Nachgelassenen Schriften von Georg Büchner (1850) eine Drucküberlieferung. Die übrigen Blätter - beginnend mit der Blattnummerierung I,1 - Probevorlesung sind an einer Ecke durch Mäusefraß stark beschädigt, so dass jeweils in den ersten vier Zeilen Text fehlt.  Deshalb lässt sich der Text der Probevorlesung nur unter Vorbehalt rekonstruieren. Der bei Ludwig Büchner durch Punkte markierte Beginn nach der Eingangsformel „Hochgeachtete Zuhörer!“ signalisiert vermutlich nur die Auslassung der üblichen Begrüßung der anwesenden Professoren. Das beschädigte Manuskript wurde erstmals 1922 durch Fritz Bergemann mit Hilfe von Hans Fischer und unter Rückgriff auf das Mémoire ergänzt und vollständig publiziert. Auf dieser Grundlage erstellte die Marburger Büchner Ausgabe dann einen neuen, verbesserten Text.

Zum Text

Der Text folgt der Marburger Büchner Ausgabe VIII (2008), S. 153–169. Abgekürzte Schreibungen in der Handschrift wurden stillschweigend ergänzt, Emendationen sowie die durch die Herausgeber ergänzten fehlenden Textteile sind durch Kursivierung markiert. Drucküberlieferung und Handschrift werden hier typographisch nicht unterschieden.