15. Mai 1836. Von Eugène Boeckel nach Straßburg

Sonntag. d. 15ten May 1836.

Wien, an d. Ufern d. Donau

Ma Demoiselle

Erlauben Sie daß ich noch einmal meine Zuflucht zu Ihnen nehme um einen Brief an Büchner gelangen zu laßen, ich weiß durchaus nicht ob er noch in Strasburg od. Zürich ist. Seit vier Monaten erhielt ich gestern die erste Kunde von ihm – Ich ersuche Sie auch die Gefälligkeit zu haben meinem Bruder d. Doctor melden zu laßen daß ich seinen Brief vom ersten May empfangen habe – Verzeihen Sie George zu Gefallen, die Freiheit die ich mir nehme an Sie zu schreiben, u. seyen Sie versichert daß ich die aufrichtigsten Wünsche hege zum Glücke von Ihnen beyden – Ich danke Ihnen wegen des Grußes den Sie durch Büchner an mich sandten, u. verbleibe Ihr Freund

Eug. Boeckel

P. S. Ich erneuere meine Bemerkung daß in d. Brief zuweilen medizinische Gegenstände verhandelt werden – Sie werden thun was Ihnen beliebt.

Mein lieber Freund. Gestern erhielt ich durch Deinen Vetter einen Brief von Dir, adressirt v. d. 18 März, dazumalen konntest Du natürlich meine adresse nicht wißen, denn ich wußte sie selbst nicht. Von meinem Aufenthalt in Berlin wirst Du Nachricht erhalten haben durch Baum, welchem ich von Dresden u. zulezt von hier aus schrieb – Freund Baum hat sich wie immer sehr nachläßig gezeigt u. mir ein einzigesmal geschrieben – Von Dir, mein lieber erwartete ich auch nichts beßeres u. habe mich in meiner Prognose auch nicht getäuscht.

Ende des Monats März zogen wir von Berlin weg über Leipzig nach Dresden. In beyden Städten hielten wir uns mehrere Tage auf um die medizinischen Anstalten u. die übrigen Merkwürdigkeiten der Stadt zu sehn – An Abentheuer aller Art u. beynahe noch ärger als Dir hat es uns durchaus nicht gefehlt, wenn Du noch in Strasburg bist so kann Dir Baum etwas davon erzählen – Dresden ist überaus hübsch gelegen an den Ufern d. Elbe – Von Dresden giengen wir nach Töplitz u. Prag durch die böhmischen Wälder in tiefem Schnee – In Prag wo wir während vier Tagen das abscheulichste Wetter hatten mußten wir gröstentheils auf die Besuchung d. Umgegend Verzicht leisten. Den ersten Tag gleich besuchten wir Charles X et sa chère famille auf d. Hradschin – Das Theater in Prag ist vortrefflich.

Von Prag nach Wien hatten wir wieder eine abentheuerliche winterliche Reise in den böhmischen u. mährischen Wäldern u. d. schlechten böhmischen Kneipen. In Wien befinde ich mich seit dem 17ten April – In medizinischer Rücksicht gewährt diese Stadt einem jungen Arzt sehr viele Vortheile, aber Berlin für ein Winter-semester noch mehr – Die maternité hier ist sehr groß täglich sind 6-8 accouchemens aber Fremde haben Mühe zum touchiren zugelaßen zu werden, doch geht es wenn man sich recht darum bewirbt – Was hier vorzüglich gut ist daß ist die Augenheilkunde bey Rosas u. Jäger, bey d. leztern nehme ich hierüber ein privatissim. u. ebenfalls eines bey Koletschka üb. Anat. patholgq. welche man hier sehr gut studieren kann wegen der großen Anzahl v. Autopsien in einem Hospital wo mehrere tausend Kranke sich befinden. Was mich hier speziell intereßirte ist die Cholera welche sich wieder hier gezeigt hat, wir hatten einen Bestand von 20 Cholera Kranke, täglich 2 Todte, jezt hat die Cholera wied. abgenommen, die Anzahl d. Kranken im Hospital ist auf zehne heruntergekommen. An Intensität hat die Krankheit nicht abgenommen ich sah mehrere in 6-8 Stunden sterben – Ich habe hierüber ausführlicher an meinen Bruder geschrieben. 30-40 typhus Kranke – 10-15 metro peritonite, Kindbettenfieb. oft mit tödlichem Ausgang – Was Annehmlichkeiten anbelangt so bietet Wien Alles dar was sich ein Fremder nur wünschen kann. Die Gegend um Wien ist herrlich. Zwei drei Stunden von d. Stadt befindet man sich mitten in d. Gebirge in den herrlichsten Thälern, gewöhnlich machen wir Sonntags eine Excursion, heute hindert uns das schlechte Wetter daran – Die boulevards u. glacis um Wien selbst herum bieten schon die angenehmsten Spaziergänge mit einer herrlichen Ausicht – Die Bekanntschaften mit den vielen jungen Ärzten aus allen Ländern, Holland, Schweden, Rußland, Preußen etc. etc. ist sehr intereßant angenehm u. instructiv wenn man es zu benutzen weiß – Der Aufenthalt hier ist angenehmer als man es sich in Frankreich denkt. Es herrschen viele Vorurtheile wieder Oestreich welche man ablegt wenn man in das Land selbst kommt. Die Weine hier sind sehr wohlfeil u. gut hauptsächlich d. ungarische – Theater haben wir fünfe, drei sind ziemlich schlecht. Zwei sind vorzüglich gut – Die italienische Oper am Kärnthner-Thor u. das Burgtheater, dieses lezte ist wohl das beste für Schauhspiel, seit ich in Teutschland bin, bin ich ein Liebhaber vom Theater, ich gehe wöchentlich 2-4mal hinein. Löwe, D. l. Roche, Costenoble, Anchütz d. anmuthige Me Rettich, Me Peche, u. Melle Müller sind ausgezeichnet.

Wirklich gastirt auch hier Devrient aus Dresden, welcher gestern d. Rolle v Ferdinand in Kabale u. Liebe hatte – hamlet, d. Ring u. mehrere andere pièces wurden ausgezeichnet gut gegeben – In Dresden ist das Lustspiel sehr gut, in Prag die Opern, Ballnacht, Zampa etc. in Berlin die Oper u. das ballet. In Prag hat mir Delle Lutzer am besten gefallen, ich weiß nicht ob sie am besten singt, aber sie ist hübsch, anmuthig u. hat eine liebliche Stimme, viel angenehmes in ihrem Betragen –

Dein Cousin lief hier 12 Tage herum ohne mich zu finden, er scheint ein solider junger Mann zu seyn – Du wirst praeceps d. h. über Hals u. Kopf an Deiner These arbeiten, ich zweifle nicht daran daß sie gut ausfallen wird. Sie auf diese Art drucken zu laßen ist sehr bequem – Du wirst durch Baum wahrscheinlich erfahren haben daß ich nicht durch die Schweitz nach Paris gehe sondern über Würzburg, wo ich mich bey professor D’Outrepont, Sept. u. Oct. noch speziell mit accouchem. beschäftigen werde – Also werden wir uns sobald nicht sehn, deswegen müßen wir uns durch schriftliche Unterhaltung trösten wenn es Dir möglich ist. Wo Du auch seyn magst kannst Du bis zum ersten July inclus. Briefe an mich nach Wien adressiren, Du wirst wißen daß alle Briefe bis an die oestreiche Grenze frankirt seyn müßen, u. ebenso muß ich alle Briefe bis an die Grenze frankiren. Denn die oestreiche Regierung steht in dieser Beziehung in Rechnung mit kein. andern gouvernement – Ich finde nichts angenehmeres u. interessanter’s als Reisen, auch bin ich ganz zufrieden u. glücklich, ich denke es ist dieses die glücklichste Zeit meines Lebens, übrigens ist es bey mir Parole den] Augenblick zu genießen u. nicht sein Glück in einer verborgenen Zukunft zu suchen. Wenn Dich dieser Brief noch in Strasburg trifft so frage Baum ob er meinen Brief erhielt von hier aus adressirt den 4ten May. Schreibe mir auch von Lambossy u. Held, diese beyden werden wahrscheinlich in Paris seyn wo ich sie nächsten Winter zu treffen gedenke. Ich bin jezt bald fünf Monate in Teutschland u. denke noch fünfe zu bleiben, Ende July’s gehe ich über Lintz, Salzburg, Inspruck nach München. Grüße D. Schwager Louis u. meine übrigen Freunde

Dein Dich liebd. Freund Eugène

Meine adresse. E. B. Alser-Vorstadt, Wikburg-gasse No 18 in Wien –