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Edouard Reuss: Brief an Karl Emil Franzos in Wien; Straßburg 21. Oktober 1877
Strassburg 21 Oct 1877.
Geehrtester Herr!
Sie verlangen von mir weit mehr als ich leisten kann. Es sind wenigstens 43 Jahre verflossen seit ich G. B. zum letzten Male gesehn habe und meine Erinnerungen aus jener Zeit sind ziemlich verblichen. So viel ich weiß kam er 1831 (oder schon 1830?) zum ersten Male nach Strg. u. wurde im Hause meiner Eltern als ein lieber Vetter aufgenommen. Mein Vater u. sein Großvater (Geh. Rath Reuss in [Giessen] {Hofheim} + 1813?) waren Brüder; eine Tochter des letztern, also B’s Tante, war in unserm Hause erzogen worden. Wir sahen ihn damals viel bei uns; er wohnte – ich denke damals schon – in dem Hause des Pf. Jägle, mit dessen Tochter er sich nachmals verlobte. Der Universitätszwang nöthigte ihn Strg zu verlassen u. nach Giessen zu gehn wo er in demag. Umtriebe verwickelt wurde u. 1833 kam er flüchtig hieher zurück. Wie lang er aber blieb weiß ich ich [sic] nicht. Wir kamen weniger zusammen als früher, mein Vater war todt u. meine polit. Ansichten waren nicht die seinigen. Ich kann nur sagen daß er sich hier ernstlich den naturhist. Studien widmete, da er an der Medicin um deren Willen er eigentl hieher gekommen war keine Freude mehr hatte. Ich glaube auch mich zu erinnern daß er eine Dissert über einen einschlägl Gegstand hier drucken ließ. Von belletristischen Arbeiten bekamen wir hier nichts zu sehn, wenigstens ich nicht. Während seines ersten Aufenthalts verkehrte er viel in jüngern theologisch[en] Kreisen u. war nahe befreundet mit den noch lebenden Brüdern August u. Ad. Stoeber die beide als Dichter sich bekannt gemacht haben. Er fand sich da, wegen des noch lebenden deutschen Wesens, heimischer als unter seinen medicinischen Mitschülern bei denen das französische vorherrschte. Während seines 2t Aufenthalts glaube ich kaum daß er Gesellschaft suchte; seine frühern bekannten waren abgegangen.
Uebrigens hat man hier allgemein die unverantwortliche Indiscretion bedauert u. mißbilligt mit welcher seine stillen und heiligen Herzensangelegenhten vor das Publicum gebracht worden sind ohne daß man zuvor die zunächst (und wahrhaftig allein) betheiligte Person um Erlaubniß gefragt hätte. Selbst dem Nachruhm eines Herrn v. Göthe hätte es nichts geschadet wenn man die Interiora seiner Korrespondenz ungedruckt gelassen hätte, u. Büchner war kein Göthe, wohl aber ein lieber bescheidner Junge der sich sicher dieses prätentiöse Aufputzen seiner Person verbeten hätte. Hätte er länger gelebt so wäre gewiß ein Tüchtiger Mann u: Gelehrter aus ihm geworden, u. daß man ihn im guten Andenken behalte ist nur billig. Aber ein Wiederabdruck der Briefe die er an seine noch lebende, unverheirathet gebliebene Braut geschrieben hat, u. wozu sie nie ihr Imprimatur gegeben hat, ist eine Industrie für die ich keinen Namen habe.
Weiter habe ich nichts zu sagen
Ihr ergebenster
EdReuss
Überlieferung
H: SLB Wien, Nachlaß Franzos, I.N. 64869; d1: Lehmann, WuB, S. 549; d2: Hauschild 1985, S. 342 f., 81.