WZ 710
Karl Gutzkow, Vorwort und Nachbemerkung zu Büchners „Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner“; Januar 1839

 

„In dem Buche: ‚Götter, Helden, Don Quixote’, wie auch im ‚Conversationslexicon der Gegenwart’ findet man die Lebensmomente eines Dichters erzählt, der unsern Lesern aus den sinnigen Bruchstücken des im vorigen Jahre mitgetheilten Lustspiels Leonce und Lena lieb geworden seyn wird. Hier theilen wir eine zweite Dichtung dieses zu früh gestorbenen Genies mit. Sie hat den Straßburger Aufenthalt des bekannten Dichters der Sturm- und Drangperiode, Lenz, zum Vorwurf und beruht auf authentischen Erkundigungen, die Büchner an Ort und Stelle über ihn eingezogen hatte. Leider ist die Novelle Fragment geblieben. Wir würden Anstand nehmen, sie in dieser Gestalt mitzutheilen, wenn sie nicht Berichte über Lenz enthielte, die für viele unsrer Leser überraschend seyn werden. Sollte man glauben, daß Lenz, Mitglied einer als frivol und transcendent bezeichneten Literaturrichtung, je in Beziehung gestanden hat zu dem durch seine pietistische Frömmigkeit bekannten Pfarrer Oberlin in Steinthal, von dem Steffens in seinem sonst so verwerflichen Romane: die Revolution, ein nicht mißlungenes Bild gegeben hat? Büchner hat alles, was auf dieses Verhältniß Bezug hat, glaubwürdigen Familienpapieren entnommen. Lassen wir seine meisterhafte Darstellung des halbwahnsinnigen Dichters beginnen.“

 

„Bis hieher reicht Büchners Darstellung. Leider ist es uns in ganz Hamburg unmöglich die Tieck’sche Einleitung zu Lenzens Schriften aufzutreiben und zu vergleichen, wo sich dies Bruchstück aus dem Leben des Dichters den über ihn bekannten Thatsachen erklärend und ergänzend anreiht. In Betreff Georg Büchners aber wird man einräumen, daß diese Probe seines Genies aufs Neue bestätigt, was wir mit seinem Tod an ihm verloren haben. Welche Naturschilderungen; welche Seelenmalerei! Wie weiß der Dichter die feinsten Nervenzustände eines, im Poetischen wenigstens, ihm verwandten Gemüths zu belauschen! Da ist Alles mitempfunden, aller Seelenschmerz mitdurchrungen; wir müssen erstaunen über eine solche Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung. G. Büchner offenbart in dieser Reliquie eine reproduktive Phantasie, wie uns eine solche selbst bei Jean Paul nicht so rein, durchsichtig und wahr entgegentritt. Wir möchten den Verf. des Büchner’schen Nekrologs im ‚Conversations-Lexicon der Gegenwart’ fragen, ob er nach Mittheilung dieses Lenz nun noch glaubt, daß wir die Gaben des zu früh Dahingegangenen überschätzten?“

Überlieferung
Druck: Telegraph für Deutschland, Nr. 5 u. 14, Jan. 1839 (vgl. MBA V, S. 180 f.).