Woyzeck Dok 64
Johann Baptist Friedreich: Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger; Leipzig 1835

Friedreich weist auf die diagnostische Bedeutung von Halluzinationen und in diesem Zusammenhang auf den Fall Woyzeck hin.

Eine in diagnostischer Hinsicht sehr wichtige Erscheinung sind die verschiedenartigen Sinnestäuschungen und Hallucinationen, denen solche Scheinverbrecher gewöhnlich vor ihrer That unterworfen sind, oder, passender gesagt, durch welche sie zu ihrer That angetrieben werden. Sinnestäuschungen und Hallucinationen gehören fast zu den constanten Erscheinungen, die den Wahnsinn begleiten oder seinen einzelnen Paroxysmen vorausgehen; eben so finden wir auch solche Erscheinungen in jenen Zuständen, in denen Verbrechen begangen werden, bei denen von keiner Willensfreiheit, von keiner Zurechnung die Rede seyn kann. Solche Menschen werden von Sinnestäuschungen oft längere Zeit vorher gequält, sie hören innere Stimmen, die ihnen zurufen, diesen oder jenen zu morden, es ist eine innere Unruhe, eine innere Angst, die sie zur Handlung antreibt, u. s. w.Woyzeck, der seine Geliebte ermordete und über dessen Zurechnungsfähigkeit man sich noch stritt, als er schon zu Leipzig enthauptet war, hörte innere Stimmen, die ihn zum Morde antrieben, und hatte auch außerdem an Visionen und Hallucinationen aller Art gelitten. Wer die, über diesen Unglücklichen gepflogenen Verhandlungen genau prüft, wird keine Zurechnungsfähigkeit, leider aber wieder einen schauderhaften Justizmord finden. –

 

Friedreich erklärt zugleich Heinroths idealistischen Begriff der absoluten Willensfreiheit für medizinische und juristische Entscheidungen als belanglos:

Der Urwille wird immer und ewig nur in der Idee existiren, in einem menschlichen Organismus kommt er nicht vor. Der Wille des Menschen ist eine Funktion der psychischen Lebenssphäre desselben, und ist also, so wie die gesammte Psyche, Resultat der somatischen Organisation: wir haben also immer einen vom Somatischen abhängigen oder durch dasselbe bedingten Willen.

Überlieferung
Druck: Johann Baptist Friedreich: Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, 1835, S. 298 ff. u. 538 (vgl. MBA VII.2, S. 432).