Woyzeck Dok 21
Carl Moritz Marc: War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Bamberg 1825

Marc betont im nicht paginierten Vorwort, daß er Clarus’ „Ueberzeugung von der Zurechnungsfähigkeit des Woyzeck nicht beizupflichten vermag“. Im Widerspruch zu Clarus schließt Marc aus den im Gutachten referierten Symptomen und aus dem Sektionsbefund über Woyzecks Herzverfettung, daß Woyzeck nicht nur eine Anlage zur Krankheit gehabt habe, sondern ab 1810 wirklich körperlich und höchst wahrscheinlich auch gemüthskrank war“.

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Ich kann mich nicht überzeugen, daß W. nur in einer Anlage zur Krankheit sich befunden hat, nein, er war wirklich krank. – Hr. CL. spricht von einer Neigung zu Wallungen und Congestionen des Bluts, währenddem der heftigste Blutandrang wirklich vorhanden war; die krampfhafte Zusammenziehung des Herzens, das Stillstehen desselben, das Herzklopfen, die Angst, die Spannung der Blutgefäße, das allgemeine Zittern des ganzen Körpers, die Hitze im Kopfe, das Prasseln oder Schnurren im Genicke, das Brausen oder Zischen in den Ohren, und die auf erfolgtes reichliches Nasenbluten zuweilen bemerkte Erleichterung etc. sind doch wohl die unverkennbarsten Zeichen eines Blutandranges? – Ferner sprach Hr. CL. selbst von einem krankhaften Zustande des Venensystems, was aber krankhaft ist, kann <39> nicht mehr Anlage seyn. – Daß W. schon früherhin Anlage gehabt habe, Geistes und vorzüglich auf die angegebene Art körperlich krank zu werden, gebe ich zu, denn die vielen geistigen Getränke, welche er oft übermäßig genommen, verursachen nicht selten Uebel, wie sie sich bei W. äusserten; auch in seiner vernachläßigten Erziehung, überhaupt in seiner Individualität lag offenbar eine scheinbare Quelle zu Geisteskrankheiten. Was aber vielleicht bis im Jahre 1810 nur Anlage war, steigerte sich damals zur wirklichen Krankheit, denn in diesem Zeitpunkte erlitt sein Gemüthszustand eine Veränderung, und verfolgt man seinen Lebenslauf, die Succession der Erscheinungen, so liegt solches ausser allem Zweifel, denn von nun an bemerkte man Zurückgezogenheit, Gedankenlosigkeit, Groll gegen alle Menschen, beunruhigende Träume, Geistererscheinungen, Unruhe, Eingenommenheit des Kopfes, Beängstigung am Herzen, Blutandrang; von nun an hielten Körper und Geist gleiche Schritte.

Aber auch die Leichenöffnung hat die Krankheit nachgewiesen, denn man fand <40> das Herz mit einer ganz ungewöhnlichen Menge von Fett umgeben. <…> <50> <…>

Daß W. wirklich krank war, habe ich schon früherhin bewiesen, die Gemüthskrankheit hat sich aber auch durch ihre eigenthümliche Kennzeichen geoffenbaret. Hr. CL. hat allerdings recht, wenn er behauptet, daß nicht alle gemüthskrank seyen, welche an Vollblütigkeit, Beängstigung, Herzklopfen leiden, aber wie schon erwähnt wurde, so haben die körperlichen wie die Gemüthsleiden gleiche Schritte gehalten, W. befand sich krank, und stellte zugleich die abgeschmaktesten <51> Behauptungen auf; seine Geistererscheinungen, Träume, unangenehme Vorstellungen, grosse Reizbarkeit, Menschenscheu, Gedankenlosigkeit fallen in diese Periode.

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Verfolgen wir aber W. Lebenslauf genau, so gehört er zu einem derjenigen Menschen, von welchen man im Leben gewöhnlich sagt, der ist verrückt; weswegen er auch von mehreren Seiten dafür angesprochen wurde; W. ließ sich nicht durch einen Gegenstand täuschen, seine Phantasie war regellos, schwärmte umher, wurde von den verschiedenartigsten Gegenständen ergriffen.

Clarus’ eindeutige Abgrenzung der Zustände von aufgehobener Willensfreiheit sei nach derzeitigem psychiatrischen Wissensstand ebenso unzulässig wie die fehlende Thematisierung einer „geminderte<n> Zurechnungsfähigkeit“.

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Hr. CL. hat eine sehr scharfe Grenze gezogen, und die psychische Medizin müs<s>te weit höher stehen, um in jedem individuellen Falle bestimmen zu können, ob es möglich war, dem leidenschaftlichen Antriebe zu widerstehen, ob ein Mensch jenseits der Grenze gestanden sey, deswegen müssen allgemeine Bestimmungen gelten, und sobald hergestellt ist, <55> daß ein Mensch rasend, wahnsinnig, blödsinnig, närrisch u.s.w. ist, so kann er nicht für zurechnungsfähig erklärt werden, übrigens giebt es auch noch Fälle, wo jemand nicht rasend, blödsinnig oder wahnsinnig gewesen ist, und sich dennoch in einem Zustand befunden hat, wo er nicht zurechnungsfähig ist, – hier treten die besonderen Bestimmungen ein; jedoch sind alle gemüthskranke Zustände unfrei, d. h. der Geist ist in ihnen durch ein Vorherrschen des Körpers in seiner Freiheit gehemmt.

Nach Hrn. CL. Grundsatze giebt es keine geminderte Zurechnungsfähigkeit, da er von einer Leichtigkeit und Schwierigkeit nichts wissen will, sondern nur eine Möglichkeit oder Unmöglichkeit annimmt; – eine solche Eintheilung ist zu strenge, und widerspricht den bisher angenommenen Grundsätzen; ich glaube kaum, daß die Rechtsgelehrten denselben beipflichten werden, denn die Gesetzgebung bestimmt Affekt und Leidenschaften (die zufällig entstanden) als Grund zur Milderung der Strafe, dahin gewiß auch solche Uebel zu zählen sind, die in einer krankhaften Anlage oder <56> vielmehr in einer Krankheit selbst begründet, nachgewiesen werden können. – Keineswegs stimme ich mit Hrn. CL. darin überein, daß, um annehmen zu können, ein Mensch sey bei Begehung eines Verbrechens jenseits der Grenze gestanden, erwiesen werden müsse, daß sich vor, bei und nach der That, in dem Erkenntniß und Urtheilsvermögen, in den Reden und Handlungen, Abweichungen vom gesunden Seelenzustande geoffenbaret haben. – <…>

Clarus halte die Diagnose „Verrücktheit“ nur dann für zulässig, wenn sich eine „irrige Vorstellung <…> des Verstandes ausschliessend bemeistert, in alle Operationen desselben eingreift“.

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Wenn diese Eintheilung richtig wäre, so gäbe es keinen fixen partiellen Wahn<60>sinn mehr, denn dieser ist ja nur auf einzelne fixe Ideen beschränkt, und kann übrigens mit ungestörter Verstandeskraft und selbst mit Schärfe des Urtheils verbunden seyn. Daß es aber solche partielle Wahnsinnige giebt, lehrt die tägliche Erfahrung, man findet sie fast in jeder Irrenanstalt – Theorie und Erfahrung sprechen gegen Hrn. CL und warum soll der Wahnsinn oder die Verrüktheit dem Wesen nach nicht darin bestehen, daß man etwas, was wirklich nicht ist, fälschlich voraussetzet? Wenn sich Menschen einbilden, sie seyen verdammt, sie seyen Kaiser, Könige, Päbste, göttliche Personen, sind solche nicht wahnsinnig? Hr. CL. ist uns die Beweise hierüber schuldig geblieben, er hat seine Behauptung im allgemeinen hingestellt, eine nähere Auseinandersetzung wäre wünschenswerth, denn ist die seinige Ansicht richtig, so giebt es vielleicht einige hundert Tausend Narren weniger in der Welt.

Hr. CL. fährt fort, und sagt „daß dieses bei dem Inquisiten nie Statt gefunden habe, gehe unbezweifelt daraus hervor, daß er seinen eignen Aussagen, und dem Zeugnisse Anderer <61> zu Folge durch seine Einbildungen und Sinnestäuschungen niemals gehindert worden sey, seine Geschäfte fortzusetzen, und sich in allen Verhältnissen des Lebens als ein gesezter, verständiger und besonnener Mensch zu zeigen. –“

Es ist erwiesen, daß es Wahnsinnige giebt, welche ihre Geschäfte pünktlichst besorgen. <…>

Woyzecks Lebensführung widerspreche Clarus’ Urteil von Woyzecks durchgehender Besonnenheit.

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Wie Hr. CL. behaupten kann, daß sich W. in allen Verhältnissen als ein gesezter, verständiger und besonnener Mensch bewiesen hat, begreife ich nicht, denn derselbe führte ja das herumziehenste, unruhigste Leben, <63> er war nicht im Stande, eine kurze Zeit bei einem Herrn zu bleiben, er verwechselte ohne alle Ursache seinen Stand und seine Dienste, er war Friseur, Papparbeiter, Illuminirer, ohne Kamm, Scheere, Fingerhut, Papier und Pinsel zu haben, er hat gestohlen, er war ein Brandweintrinker, er glaubte an Gespenstern, stellte die absurdesten Behauptungen auf, er schlug seine Geliebte blutig, und zulezt hat er sie noch gemordet. – <…>

Marc resümiert:

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Ich spreche nun meine Ueberzeugung dahin aus:

Daß W. wirklich körperlich und höchst wahrscheinlich auch gemüthskrank war, beide Zustände miteinander in genauester Verbindung standen, daß, wenn selbst mit Hrn. CL. angenommen, W. Benommenheit und seine reizbare Gemüthsstimmung von der Krankheit, oder nach CL. von krankhafter Anlage? abhängig, ferner das Uebergewicht der Leidenschaft über die Vernunft, die einzige Triebfeder seiner Mordthat gewesen wäre, dieses Uebergewicht selbst als durch Krankheit bedungen und nachgewiesen, eine Zurech<80>nungsfähigkeit ausgeschlossen, oder doch höchst zweifelhaft gemacht hätte.

Ich darf kühn behaupten, daß wenn dieser Fall tausend Gerichtsärzten zur Entscheidung vorgelegt worden wäre, keiner mit einer solchen Gewißheit, wie Hr. CL. es that, unter so schwierigen Umständen die Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen haben würde, und nach den bisherigen Grundsätzen fast aller medizinisch-gerichtlichen Autoren älterer und neuerer Zeit solches auch nicht gedürft hätte. Die meisten würden die Frage, ob die begangene That des W. in einem nothwendigen und unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gemüthszustand des Inquisiten gestanden, nicht mit Gewissheit bejahend beantwortet, jedoch mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit sich dafür erklärt haben, daß der krankhafte Gemüths- und Körperzustand des W. einen Einfluß auf die Mordthat gehabt habe, wodurch die Zurechnungsfähigkeit in Zweifel gezogen, in jedem Falle aber sehr vermindert erscheine. – Würde es in Baiern erlaubt seyn, die verschiedenen gerichtlichen Fälle, welche bei den höheren und höchsten Medizinal-Stellen entschieden werden, bekannt zu machen, so könnte sich Hr. CL. überzeugen, daß selbst noch in weniger zweifelhaftem Falle, als wie der seinige war, eine Zurechnungsfähigkeit nicht erkannt worden wäre. –

Überlieferung
Druck: Carl Moritz Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Enthaltend eine Beleuchtung der Schrift des Herrn Hofrath Dr. Clarus: „Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Joh. Christ. Woyzeck nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen“, 1825 (vgl. MBA VII.2, S. 386–390).