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Aus: Eduard Scriba: Reise durch die Schweiz im Spätsommer 1835 
mit Hermann Wiener

Mitgeteilt von Regine Bondick


4. September. Ich könnte eine Beschreibung von der alten und merkwürdigen Stadt Zürich und ihren reitzenden Umgebungen liefern. Allein dieß halte ich für unnöthig. Ich werde mich daher auf Erzählung einiger Erlebnisse während unsers drei­tägigen Aufenthalts daselbst beschränken.

Nachdem wir uns gehörig ausgeruht hatten, suchten wir unsre Bekannten und Landsleute auf. Zuerst gingen wir zu Professor Rettig, welcher uns mit seiner altklugen Protektormiene freundlich begrüßte. Bei ihm trafen wir seinen jüngsten Bruder[1] und seinen Schwager Haupt.

Dann suchten wir Trapp (Mickes) aus Gießen auf.[2] Dieser führte uns zu Dieffenbach.[3] Beide wohnen außer der Stadt in einem Hause. Mit ihnen aßen wir zu Mittag. Darauf gingen wir zu Becker (Zopp).[4]

Bei ihm trafen wir Großmann[5] aus Gießen und Präller[6] aus Offenbach, die erst vor einigen Tagen gekommen waren, an. – Wir sieben Hessen setzten uns zusammen und plauderten über die alten Zeiten. Auf dem Spaziergang, den wir um fünf Uhr machten, trafen wir noch viele Flüchtlinge an, die mir zum Theil aus früheren Zeiten bekannt waren. Ich bat alle, den Abend in dem Seefelde (einer Gastwirtschaft am See) zusammenzukommen.

Um sieben Uhr gingen wir dahin. Es waren über dreißig deutsche Flücht­linge da. Wir verlebten in ihrer Mitte einen sehr vergnügten Abend. Ich ließ mir von Großmann Manches aus Hessen erzählen.

Leider wurde unsre allgemeine Fröhlichkeit durch einen Auftritt gestört, dessen Folgen höchst traurig waren. Lessing (den ich damals zum ersten Mal sah) sprang nämlich plötzlich auf und gab einem andern Flüchtling, Namens Ehrhardt[7], eine Ohrfeige, weil dieser ihn verhöhnt hatte. Beide prü­gelten sich darauf im Zimmer herum, bis wir Andern sie auseinander hielten. Alsbald verließ ich in Begleitung einiger Hessen Seefeld mit den Worten: „Solche Gemeinheiten hätte ich von unsern Landsleuten nicht erwartet.“ Ich schlief bei Trapp. –

Den Sonntag darauf schoß Lessing dem Ehrhardt den Arm entzwei.[8]

5. September. Ich besuchte Karl von Eyb[9], einen reichen Partikular aus dem Würtembergi­schen, dessen Bekanntschaft ich vor einigen Monaten in Lausanne  gemacht hatte. Dieser Mann bekennt sich zu liberalen Grundsätzen. Viele halten oder hielten ihn für einen Spion. Mir war es darum zu tun, ihn genauer kennen zu lernen.

Er hat seine Frau, eine ungarische Gräfin, bei sich, das wunderlichste Geschöpf, das ich je gesehen habe.[10] Schon ihre Aussprache des Deutschen hat etwas Sonderbares. – Sie liebt ihren Mann leidenschaftlich, ist aber dabei schrecklich eifersüchtig, so daß sie schon mehrmals gedroht hat, entweder fortzulaufen oder ihn zu erschießen. Sie ist außerdem im höchsten Grade eitel, gefällt sich in großen Gesellschaften, verlangt immer neue Kleider von den kostbarsten Stoffen, fährt gern spatzieren, wobei sie selbst mit großer Gewandtheit die wildesten Pferde lenkt, spricht von diesen und andern Liebhabereien, selbst von Geheimnissen des Ehestandes, mit der naivsten Offenherzigkeit, ist voller Aberglauben und aristokratischer Gesinnung, raisonnirt über ihren Mann, daß er sich mit Bürgerlichen und Flüchtlingen abgebe, während sie selbst dieselben mit der größten Freundlichkeit, einige, die öfter in ihr Haus kommen, selbst mit schwesterlicher Herzlichkeit behandelt, und hat ihre größte Freude an einem verwöhnten Hundchen, das sie mit der größten Zärtlichkeit füttert und liebkoset. Sie ist kinderlos.

Als Eyb in Lausanne war, hatte ich versprechen müssen, daß ich, wenn ich nach Zürich käme, bei ihm logieren wolle. Theils dieses Versprechens wegen, theils weil ich ihn ausforschen wollte, blieb ich den ganzen Tag und auch die folgende Nacht bei ihm.

6. September. Auch heute begleitete mich Eyb auf meiner Reise, die ich auf dem neuen Dampfschiff „Minerva“ nach Wädenschwyl und Stäfa ohne Hermann, der in Zürich zurückblieb, machte. – Von der reizenden Gegend auf beiden Ufern des romantischen Zürichsees schweige ich, indem ich auf meine vorjährige Reisebeschreibung verweise. In Wädenschwyl suchte ich den Advokaten Sulzberger auf, dem ich meine Angelegenheiten in Stäfa übertragen hatte. Auch traf ich daselbst einen Landsmann aus Lengfeld bei Umstadt, namens Brücher[11], an, welcher bei dem am 2. Mai 1834 zu Frankfurt gemachten Versuch, die Gefangenen zu befreien, thätig mitgewirkt hatte und durch Frau Professor Fresenius[12]  und ihre Tochter[13] aus Frankfurt glücklich über die Grenze gebracht worden war.

Mit ihm und Eyb fuhr ich in einer bequem gebauten Chaluppe, wie sie seit einigen Jahren auf dem zürcher See eingeführt sind, nach Stäfa. Nachdem ich hier meine Angelegenheiten in Ordnung gebracht, fuhren wir auf dem nach Zürich zurückkehrenden Dampfschiff bis nach Thalwyl, wo wir, d. h. Brücher und ich, – Eyb wagte es nicht aus Furcht vor seiner Frau, uns zu begleiten – ans Land stiegen und noch  denselben Abend auf den Albis gingen. Als wir in dem Wirthshause auf dem höchsten Punkte dieses Gebirges, über welches die Straße nach Zug führt, angelangt waren, trafen wir der Verabredung gemäß Hermann und noch drei Landsleute, welche ihn begleitet hatten. Wir blieben beisammen bis nach Mitternacht. Dann gingen die Landsleute nach Zürich zurück; wir aber begaben uns zu Bett.

 Anmerkungen

  • [1] Carl Rettig, „stud theol aus Gießen, Gießener Burschenschaft, mit seinem Bruder, dem Professor Rettig, in die Schweiz gezogen“ (Das „Schwarze Buch“ der Bundeszentralbehörde über revolutionäre Umtriebe 1838-42, in: Hessische Familienkunde/Band 01/Heft 02-03/E – wiki-de.genealogy.net).
  • [2] Hermann Trapp (1813-1837) (Mikes), Student in Gießen seit 1831; Kassenkamerad und Freund Georg Büchners bis zum Streit durch die Intrige Fein/Trapp. Trapp schickte – wohl auf Veranlassung Georg Feins, der von Büchner glaubte, dass er nie ein großer Dichter werden könne und der Eduard im August 1835 als Präsident des „Jungen Deutschland“ ablöste – eine negative Kritik über „Dantons Tod“ an Büchners Verleger Gutzkow, was dieser Büchner mitteilte. Damit war die Freundschaft Büchner/Trapp beendet. Büchner zog 1836 in das Haus, in dem Trapp wohnte, der daraufhin umzog. Hermann Trapp starb wie Georg Büchner an einer Typhus-Epidemie 1837 in Zürich (vgl. Federflug 23, S. 144, 161-163 – Informationen aus dem buechnerportal.de 3/2019).
  • [3] Ernst Dieffenbach (1811-1855) (Cuenz I.), vgl. Federflug 23, S. 58 (Eduard, der  Dieffenbach aus Gießen kannte, traf ihn 1833 in der Schweiz wieder.),  S. 87 (Dieffenbach und Scriba gehörten zu den Intellektuellen, die die Arbeiterbewegung wegen der politischen Ziele förderten.), S. 122 (Ferdinand erhielt Informationen von Dieffenbach 1837 in Liverpool.)
  • [4] Ludwig Christian (Louis) Becker (1808-1861) (Zopf/Zopp), studierte Theologie in Gießen, Mitglied der Burschenschaft, 1832 auf dem Hambacher Fest als Delegierter der Gießener Studenten, Wachensturm-Mitwisser, 1833-1834 in Haft, Mitglied in Büchners Gesellschaft der Menschenrechte, 1835 Flucht über Straßburg in die Schweiz, Lehrer in Basel-Land. Steckbrieflich gesucht ab 26.9.1835 (vgl. buechnerportal.de 3/2019).
  • [5] Ludwig Großmann, „Büchsenschäfter in Gießen, 40 J., aus Gießen, Verbreitung revolutionärer Schriften, flüchtig, steckbrieflich verfolgt“ (Das „Schwarze Buch“ der Bundeszentralbehörde über revolutionäre Umtriebe 1838-42, in: Hessische Familienkunde/Band 01/Heft 02-03/E – wiki-de.genealogy.net).
  • [6] Carl Preller (1802-1877), in Offenbach Drucker, der den von Georg Büchner und Friedrich Wilhelm Weidig verfassten Hessischen Landboten druckte. Nach der Verhaftung Karl Minnegerodes, der Exemplare der Hessischen Landboten bei sich trug, warnte Büchner Preller, der dennoch verhaftet wurde und nach seiner Freilassung im August 1835 in die Schweiz floh. Dort arbeitete er für Druckereien des „Jungen Deutschland“ und der „Jungen Schweiz“ (vgl. buechnerportal.de 3/2019).
  • [7] Friedrich Gustav Ehrhardt (1812-1896), studierte ab 1833 Theologie, Rechtswissenschaft in Halle (tötete dort einen Kommilitonen im Duell), Leipzig, Greifswald; wegen Kontakten zur verbotenen Burschenschaft im Zusammenhang mit der Demagogenverfolgung verhaftet (später in Abwesenheit zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt). Flucht über Paris („Mitglied des Bundes der Geächteten“) 1834 nach Zürich. Dort Fortsetzung des Studiums der Rechte, ab 1835 Auditor am Züricher Bezirksgericht. Weiterhin politisch tätig (bis Ende der 1830er Jahre): Mitherausgeber der agitatorischen Zeitschrift „Das Nordlicht“ (vgl. Gschwend,  S. 273), 1835 Teilnahme am Richtungskampf und Abspaltung der Züricher vom „Jungen Deutschland“ wegen der Abhängigkeit vom „Jungen Europa“ und von Mazzini; die Züricher waren zunächst nicht kompromissbereit (vgl. Brief von Eduard Scriba als Präsident an Rauschenplat, 19.1.1835 (Federflug 23A, S. 69-74, 75 und B 2.2) treten dann aber dem „Jungen Deutschland“ bei (vgl. Brief von Eduard Scriba an die Züricher am 19.6.1835 (Federflug 23A, S. 74, 75 und B 2.4). – Nachdem 1836 viele Flüchtlinge (u. a. Eduard Scriba) aus der Schweiz ausgewiesen wurden, machte Ehrhardt in der Schweiz sich dauerhaft sesshaft und Karriere, obwohl er wegen des Duells mit Lessing (preußischer Spion aus Freienwalde) am 6. September 1835 (siehe oben Eduard Scriba: „am Sonntag darauf“), bei dem er am Arm verwundet worden war, nach der Ermordung Lessings verdächtigt und verhaftet wurde. Auch Dieffenbach, der als Arzt beim Duell anwesend war, wurde verhaftet und ausgewiesen. Der Mord konnte nicht aufgeklärt werden, wozu u. a. auch das Verschwiegenheitsgebot in den Statuten des „Jungen Deutschland“ (anfänglich mit der Todesstrafe bedroht) beigetragen hat und angesehene Züricher Bürger Einfluss nahmen (vgl. Lukas Gschwend: Der Studentenmord von Zürich. Eine kriminalhistorische und strafprozessanalytische Untersuchung über die unaufgeklärte Tötung des Studenten Ludwig Lessing aus Freienwalde (Preußen) am 4. November 1835. Zugleich ein Beitrag zur Erforschung der politischen Kriminalität im Vormärz. Verlag Neue Züricher Zeitung, Zürich 2002, S. 83, 90 ff, 136, 181, 207/208, 220, 273, 364, 390/391, 420).
  • [8] Fußnote von Eduard Scriba: Den 3. November wurde Lessing bei Zürich ermordet (aber nicht von Ehrhardt). – Letzter Satz und Fußnote von Eduard vermutlich später hinzugefügt (Hervorhebung R.B.). – Woher wusste Eduard, dass es nicht Ehrhardt war? (Vgl. Gschwend, S. 90 ff: Vollständiges Verhör-Protokoll zum Duell und dem Anlass, der Ohrfeige in der Gastwirtschaft Seefeld.) Kannte er den Mörder und hielt sich an das Verschwiegenheitsgebot? – Zu Lessing siehe Federflug 23, besonders Kapitel 5.3 Ludwig Lessing und Kapitel 5.4 Gründe für die Ausweisung von Flüchtlingen aus der Schweiz ..., aus denen hervorgeht, dass die Ausweisung Eduards aus der Schweiz Ende 1836 im Zusammenhang mit dem Steinhölzlifest und der Ermordung Lessings zu sehen ist.–
    Vgl. auch Georg Büchner: Brief aus Straßburg Mitte August 1836. An die Eltern in Darmstadt; buechnerportal.de.
  • [9] Zacharias Aldinger alias Baron Carl August von Eyb (Don Carlos), Spion Metternichs (Albert), führendes Mitglied des „Jungen Deutschland“, wurde verdächtigt, am Mord Lessings beteiligt gewesen zu sein, kam 1836 elf Monate in Untersuchungshaft, wurde angeklagt und zu einem Jahr Gefängnis, Geldbuße, Zahlung der Untersuchungshaft-, Strafuntersuchungs-, Obduktionskosten und Ausweisung verurteilt. Der Mord konnte ihm nicht nachgewiesen werden, verurteilt wurde er wegen Urkundenfälschung. 1837 wurde er nach Frankreich ausgewiesen. 1838 soll er unter dem Namen Carl Gross nach Ungarn ausgereist sein. Vgl. Gschwend, besonders Kapitel 6 und 8. – Vgl. auch Federflug 23 A S. 84 und B S. 28 Eduard Sribas Brief vom 19.6. 1835 an die Züricher, dort erwähnt er „Don Carlos“.
    Vgl. Georg Büchner: Brief aus Straßburg Anfang Juni 1836. An die Eltern in Darmstadt; buechnerportal.de.
  • [10] Ida Szent-Györgi, Aldingers/Eybs Ehefrau, 1804 in Ungarn geboren, wird 1836 ebenfalls verhaftet wegen Verdachts auf Urkundenfälschung. Sie hatte sich verdächtig bei der Hausdurchsuchung gemacht (vgl. Gschwend, Kapitel 6 und 8).
  • [11] Wilhelm Brücher (Fräulein), „Barbiergeselle in Frankfurt, 20 J., aus Lengfeld, Komplott zur Befreiung politischer Gefangener am 2.5.1834 und Teilnahme am revolutionären Männerbund, flieht nach Frankreich, seit 2.5.1834 steckbrieflich verfolgt“ (Das „Schwarze Buch“ der Bundeszentralbehörde über revolutionäre Umtriebe 1838-42, in: Hessische Familienkunde/Band 01/Heft 02-03/E – wiki-de.genealogy.net). – Brücher hatte als Barbier Zugang zu den Gefangenen in der Konstabler Wache und schmuggelte zunächst Ausbruchspläne, dann Feilen und andere Instrumente ins Gefängnis. Am 2. Mai ließen sich fünf Gefangene auf die Zeilstraße herab. Dort hatte sich eine große Zahl teilweise bewaffneter Befreier versammelt, um die Flüchtlinge zu empfangen. Bei einem Schusswechsel starben vier Personen, einige wurden verwundet. Nur dem Gefangenen Alban gelang es zu entkommen. Er floh mit Brücher (letzterer in Frauenkleidern, weshalb er den Spitznamen „Fräulein“ bekam, mit dem Pass der Fresenius) über Straßburg in die Schweiz. Brücher gehörte zum „Männerbund“, der in Frankfurt mehr als 500 Mitglieder hatte, die im Geheimen tagten, Stillschweigen wahren und sich in den Waffen üben sollten. Verbreitet waren revolutionäre Druckschriften z. B. eine Übersetzung der „Erklärung der Menschenrechte von Robespierre“, außerdem gab es Kontakt zu den „deutschen Revolutionären in der Schweiz“ (vgl. Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831-1834, Insel-Verlag Frankfurt am Main, 1982, S. 243-251).
  • [12] Charlotte Fresenius, „Kaufmannsfrau in Frankfurt, 41. J., aus Frankfurt, Teilnahme an revolutionären Umtrieben, flieht nach Nancy, seit 16.2.1836 steckbrieflich verfolgt.“
  • [13] Natalie Fresenius, „Tochter der vorigen, 21. J., wie bei der Mutter“ (Das „Schwarze Buch“ der Bundeszentralbehörde über revolutionäre Umtriebe 1838-42, in: Hessische Familienkunde/Band 01/Heft 02-03/E – wiki-de.genealogy.net).
    Hier noch zwei Hinweise: Natalie lässt sich einen Pass besorgen, „sie wolle jemand damit fortbringen, einen von denen, welche wegen des 2. Mais fortgeschafft werden müßten.“ Und: Sie ließ sich einen Pass verlängern und für Weißenburg im Elsaß ergänzen (vgl. Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831-1834, Insel-Verlag Frankfurt am Main 1982, S. 225, 226).