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Carl Vogt: Erinnerungen an die Flucht von Gießen nach Straßburg und den Aufenthalt dort (Sommer 1835); Genf um 1891

<418> Besonders im Frühjahre 1835 waren die Verfolgungen schlimm geworden. Einzelne Geständnisse waren in den Gefängnissen erfolgt; schändliche Denunciationen von falschen Brüdern hatten die Untersuchungen, welche besonders von Preußen aus lebhaft betrieben wurden, auf die richtigen Fährten gebracht. Wer nur irgend compromittirt war und flüchten konnte, nahm den Weg zur Grenze. Die Paßvorschriften waren verschärft worden; an den Thoren von Mainz und von Frankfurt wurde Jeder festgehalten, der ein studentisches Aeußere hatte. Die Zahl der Flüchtlinge war so groß, daß patriotische Bürger in Rheinhessen und der Pfalz eine förmliche nächtliche Post angelegt hatten, um die Gesinnungsgenossen über die französische Grenze zu bringen. Jeder dieser Männer hielt Pferd und Wagen fertig zum Anspannen – meldete sich Einer, so war er auch geborgen, denn dann ging es unaufhaltsam, schneller als Post und Estaffetten, über Worms und Landau nach Weißenburg hinüber.

 

<420> Wir treten munter und fröhlich in den Frühstückssaal und fahren, wie von einer Natter gestochen, zurück. Hinter einem Tische sitzt, der Thüre gegenüber Georgi, der leibhafte Georgi, mit einem Begleiter und schaut mich mit blitzenden Augen an. Er hatte meine Bekanntschaft als Universitätsrichter gemacht. Um die Studenten auch in den Ferien zu überwachen, hatte man auf seinen Betrieb die blödsinnige Verordnung erlassen, daß zu Beginn eines jeden Semesters eine neue Immatriculation Statt zu finden habe, zu welcher die Studirenden aus dem Orte, wo sie die Ferien zugebracht, ein Führungszeugniß von der Ortspolizei vorzulegen hätten.

Und nun saß Georgi mir gegenüber, sah mich an, wie eine Schlange ihre Beute, und als ich ihn nach einigem Staunen begrüßt hatte, fragte er stirnrunzelnd: „Wo kommen Sie denn her, meine Herren – es sind doch keine Ferien!“

Ich dankte im Stillen dem Himmel für die Nothlüge, die er mir schon dem Postmeister gegenüber eingegeben und recitirte auf’s neue die Geschichte von der Krankheit meines lieben Oheims, zugleich auf meine Begleiter hinweisend, die zufälliger Weise beide Theologen waren. Wir seien im Begriffe nach Dauernheim zu eilen, vielleicht könne Einer von meinen Begleitern nächsten Sonntag die Predigt für meinen Onkel übernehmen. Wir wollten nur geschwind Kaffee trinken und dann gleich den Weg unter die Füße nehmen u. s. w. Kurz, es gelang uns, den Verdacht des Gewaltigen von uns abzulenken, der dann auch bald in mürrischem Tone Abschd nahm und nach Darmstadt weiter fuhr.

Der Gasthofbesitzer Trapp kannte mich sehr gut. Hatte ja doch mein Großvater Follenius Jahre lang in Friedberg als Landrichter gehaust, wo wir als Knaben ihn öfter besucht hatten. „Was der wohl vorgehabt haben mag?“ sagte er zu mir, mit scheuem Blicke dem Wagen nachschauend. „Er kam von Gießen und war in einer grenzenlosen Wuth. Es wird ihm irgend ein Fang mißglückt sein.“

So war es auch. Bei unserer Rückkehr hörten wir, daß Georgi in der Nacht unsern Freund Fasan habe arretiren wollen und in großen Zorn gerathen sei, als ihm der Hausbesitzer erklärte, der Vogel sei ausgeflogen.

Der Nachfolger von Georgi hieß Trygophorus. Ein langes Brechpulver, wie Heine sagt, in einem langen blauen Rocke. Ich trug ihm mein Anliegen vor – ich wolle nach Hause, in die Schweiz. Er meinte, nur unter besonderen Umständen, auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern, könne er eine Paßerlaubniß mitten im Semester geben, indem die Studien unterbrochen würden. Ich legte den Brief meines Vaters und das Zeugniß von Liebig vor, woraus er ersehen könne, daß die Bedingungen erfüllt seien. Er gestand das zu. „Wollen Sie mir nun die Erlaubniß geben?“ fragte ich. Er stotterte Etwas. „Es liegt doch sonst Nichts gegen mich vor?“ fragte ich dringend. „O nein, durchaus Nichts; Sie haben sich unter meiner Amtsführung stets musterhaft betragen, es ist nie die mindeste Klage gegen Sie eingelaufen. Aber dennoch“ .... „Darf ich den Grund wissen, warum Sie mir die Erlaubniß nicht geben wollen?“ Er stotterte abermals, platzte aber endlich heraus: „Den sollen Sie morgen erfahren!“ – „Ich danke, Herr Universitätsrichter,“ antwortete ich, die Klinke ergreifend, „dann will ich ihn gar nicht erfahren, sondern gehe heute noch ohne Paß!“ – Im Sprunge war ich aus der Thüre, die Treppe hinab auf der Straße – aber in meinem ganzen Leben habe ich kein verdutzteres Gesicht gesehen, als das des Herrn Trygophorus in diesem Augenblicke. Starr, wie ein Oelgötze oder wie Doctor Bartolo in der Scene des Barbiers von Sevilla, glotzte er mich an. Offenbar stand Nichts von einem solchen Fall in seiner Instruction. Unten auf der dunklen Straße hörte ich, wie er die Klingel rührte. Vergebens! Ich hatte mich vorher vergewissert, daß weder Pedellen noch Gensdarmen in der Nähe seien.

 

<434> ich nahm also Abschied und ging nach Bickenbach, unter dem Vorgeben, von dort aus nach Darmstadt und Gießen fahren zu wollen. Mein Freund Dittmar nahm unter seinem Namen einen Platz nach Straßburg; ich stieg statt seiner ein; in wenigen Stunden war ich über der badischen Grenze und am Abend rollte ich über die Schiffbrücke von Kehl und in die Freiheit. Ich konnte mich nicht enthalten, in dem Augenblicke, wo wir das französische Schilderhaus passirt hatten, einen tiefen Athemzug zu thun.

„Ihnen ist es jetzt wohl auch leichter?“ sagte in gütigem Tone ein Herr im kräftigsten Mannesalter, der mir gegenüber saß.

„Freilich wohl,“ antwortete ich treuherzig. „Jetzt können sie mich drüben suchen, so viel sie wollen.“

„Ich habe mir es gleich gedacht, daß Sie Flüchtling sind,“ antwortete Jener, „als ich Sie scheinbar so ruhig und doch innerlich so unruhig sah. Sie fangen das Geschäft früh an und können es noch weit bringen. Haben Sie denn Papiere?“

„Warum nicht gar! Brauchen denn Flüchtlinge Pässe? Ich habe keinen.“

„Schlimm genug, jetzt namentlich, wo diese miserable Regierung und unser verdammter Präfekt mehr als je sich auf die Flüchtlingshetze legen. Sie werden am Thore arretirt und so lange in Gewahrsam gehalten, bis Ihre Identität constatirt ist und sich Jemand für Sie verbürgt hat.“

„Das wäre mir sehr unangenehm. Ich möchte so bald als möglich fort in die Schweiz, wo ich Verwandte habe.“

„Nun, wir wollen sehen, was zu thun ist. Setzen Sie sich dort einmal in die Ecke rechts, ganz zurück. Die Herren erlauben es wohl. So – und Sie meine Herren, beugen sich etwas vor, wenn wir am Corps de garde halten!“

Kaum war dies ausgeführt, so hielt der Wagen. Ein Wachtmeister mit der Laterne trat heraus. Vos passeports, Messieurs! Einige Hände streckten einige Papiere heraus. „Und die andern Herrn?“ fragte der Wachtmeister, indem er in unsere Abtheilung leuchtete, im elsäßischen Dialekt. „Si olles Stroßburger,“ antwortete mein Beschützer sich vorbeugend. „Ah! Guten Owe, Herr“… sagte der Wachtmeister, „Katz oder Kratz?“ In meiner Aufregung hörte ich nicht genau und ehe ich noch recht bei Besinnung war, hielt der Wagen auf’s Neue im Posthofe, wo mir mein Beschützer die Hand drückte und verschwand, bevor ich ihm noch danken und um seinen Namen und Adresse fragen konnte.

Ich war im „Rebstöckel“ abgestiegen. Man schien dort schon an Flüchtlinge gewöhnt – als ich aber nach den Adressen einiger meiner Freunde fragte (den Zettel, worauf sie notirt waren, hatte ich verloren) betrachtete man mich mißtrauisch und gab keine Antwort. Ich strich den Tag über in Straßburg herum, bestieg das Münster, ging in einige Brasserien, in der Hoffnung, einem meiner Freunde zu begegnen – umsonst. Schweren Herzens zottelte ich in der Dämmerung nach Hause, als in der Nähe des Münsters um eine Ecke herum eine Gestalt mir entgegensprang, die mich im Anrennen fast umwarf. Es war unser Senior, Jakob Hepp! „Komm’ mit,“ schrie er nur und spannte seine langen Beine aus. Ich folgte ihm trabend bis zu einem Hause am Fischerquai. Dort durch einen Thorweg, eine Stiege hinauf, in ein großes Zimmer – da saß eine ganze Gesellschaft in dickem Qualme bei offenen Fenstern, der alte Jacques, der Sirup, der alte Louis, der Beutel, die Spinne, der Fasan, der kleine Appel und wie sie Alle hießen! Nur ein Straßburger war darunter, ein seltsamer kleiner Kerl mit langem Oberkörper und ganz kurzen Beinchen, so kurz, daß er ebenso hoch war, wenn er stand, wie wenn er saß – ich habe nie seinen wahren Namen erfahren – er wurde „der Leberwurst“ genannt. An der Wand prangte ein großes Aquarell, welches die ganze Gesellschaft vorstellte, wie sie auszieht, um für Leberwurst ein anderes Untergestell zu bauen. Vorne ein Zug Werkleute, denen als Architekt der lange Geilfuß, hinter ihm, zwischen zwei Chapeaux d’honneur Leberwurst im Fracke aber mit nackten Beinen, dann die Doktoren, der alte Jacques mit der Mappe, mit welcher er in den Senioren-Convent ging – diese ganz harmlose Gesellschaft war Hochverraths halber auf fremden Boden verworfen, ihre Zukunft zertrümmert, vernichtet! Und welcher Hochverrath? Vertheilung einiger Broschüren, Abhaltung einiger Versammlungen, in welchen man für einen deutschen Kaiser, eine Constitution und Tragen eines schwarzrothgoldenen Bandes schwärmte!

„Jakob, wie siehst Du denn aus?“ fragte der alte Jacques, als die Begrüßungen und Erzählungen aus der Heimat ein Ende hatten. In der That – Jakob hatte immer viel auf äußere Eleganz gehalten und jetzt waren seine Kleider in Unordnung, Gesicht und Hände geschwärzt und förmliche Straßen von Fett und Unschlitt liefen von seinen Schultern am Rocke herunter. „Sie wollen für den Schuft illuminiren,“ sagte Jakob (es war der Jahrestag der Juli-Revolution), „und da haben wir die Lampen heruntergerissen. Als wir in bester Arbeit waren, kam die Polizei.“ – „Der Kerl ist keinen neuen Rock werth,“ meinte Jacques, „und Ihr hättet es wohl bleiben lassen können. Das wird gewiß wieder den Flüchtlingen in die Tasche geschoben und wenn es eine neue Hetze gibt, seid Ihr daran Schuld. Es muß gleich Morgen Jemand zu Pfister gehen und ihm die Sache vorstellen, damit er weiß, woran er sich halten kann.“

Fasan und Appiano, der kleine Appel, ein energischer kleiner schwarzer Kerl, der sich immer auf krumme Säbel schlagen wollte, Jura studirte und später, so viel ich hörte, Buchbinder wurde, hatten in ihrem gemeinsamen Logis noch Platz. Ich zog zu ihnen – das Hauptquartier aber blieb am Fischerquai, wo man sich Morgens versammelte, die Verwendung des Tages regelte und die Brasserie bestimmte, in welcher man Abends zusammenkommen wollte.

Wir Studenten bildeten damals den Hauptstock der Flüchtlinge oder „Strömer“ wie man sagte. Die meisten waren aus Gießen – einige wenige aus Heidelberg oder Göttingen – letztere zum Theil älteren Datums aus den Zeiten Rauschenplatt’s und der von ihm geführten „Säbler-Rotte“. Außerdem aber befanden sich in Straßburg noch eine Menge „Philister-Strömer“, ebenfalls meist aus beiden Hessen. Ein berühmter Büchsenmacher aus Gießen, Namens Großmann, der später in Zürich an Erfindung des Perpetuum mobile zu Grunde ging, und ein überspannter Faktor aus einer Offenbacher Druckerei, der heimlich den „Leuchter und Beleuchter aus Hessen“ gedruckt hatte, hielten sich beständig zusammen. Abends schwur Großmann, daß er mit dem Narren, – Mahler, daß er mit dem philiströsen Reactionär kein Wort mehr wechseln werde – am andern Morgen gingen beide wieder zusammen spazieren, um sich während des Spazierganges fürchterlich zu zanken. Der Anblick der zahlreichen, neugegossenen Kanonenrohre aus goldglänzender Bronce, die vor dem Arsenale auf gewaltigen Balken an der Straße lagen, hatte Mahler zu einer Idee begeistert. „Hundert solcher Rohre,“ sagte er, indem er die Perrücke bei Seite schob, „auf ein Floß geladen, das sich rund herum drehen kann, damit den Rhein hinunter bis zur Mainzer Schiffbrücke und dann Feuer! Pang! Pang! Rechts und Links, vorne und hinten, nach allen Seiten – Mainz ist unser! Nachher wollen wir sehen! Mainz ist der Schlüssel Deutschlands!“

„Unsinn,“ brummte Großmann.

„Unsinn?“ fuhr Mahler auf. „Wie so Unsinn? Wie können Sie mir, einem Familienvater, der sein Geschäft dem Vaterlande geopfert hat, so etwas sagen? Sie mit ihrer trockenen Häringsseele können die Großartigkeit dieses Planes gar nicht begreifen! Ich weiß gar nicht, warum ich mit einem solchen Menschen noch spazieren gehe!“

„Sie können ja zu Hause bleiben,“ sagte trocken Großmann.

„Das kann ich freilich,“ schrie Mahler. „Ich bin ein freier Deutscher, ich kann zu Hause bleiben und kann spazieren gehen, wie ich will; das geht Sie nichts an – Sie haben mir nichts zu befehlen und nichts zu verbieten!“

„Ich bin auch ein freier Deutscher,“ sagte Großmann, „und brauche nicht mit Ihnen spazieren zu gehen und mich von Ihnen langweilen zu lassen. Ich habe auch eine Frau und ein Geschäft – vielleicht besser als das Ihrige.“

„Besser als das meinige?“ fuhr Mahler auf. „Hat man je einem Büchsenmacher ein Denkmal aufgestellt wie dem Gutenberg? Das ist ein Verrath an der guten Sache, Großmann! Wenn Sie <435> so sprechen können, sind Sie ein Verräther! Wie konnte ich einem solchen Menschen meinen Plan mittheilen! Fort, Fort!“

Mahler rannte davon. Ein Paar Tage lang vermieden sie, am Arsenal vorüber zu gehen – aber Mahler’n zog es dorthin mit magischer Gewalt und sobald die Kanonenrohre in Sicht waren, ging der Skandal von Neuem los.

Dann eine Familie Schlump. Der Vater ein stiller, im Gesichte violett angelaufener Asthmatiker mit feiner selbstverschluckter Stimme; der Sohn, das „Carlchen“ genannt, Zahnarzt und Gothikschwärmer. Das Münster kannte er in- und auswendig; gefährlich war für ihn eine gothische Wendeltreppe in einem thurmartigen Gebäude, dem Münsterportal schräg gegenüber, zu welcher ein schiefes Spitzbogenthor führte. „Sieh’ einmal an,“ rief er, „meint man nicht, man müßte hinein!“ und mit vorgehaltenem Arm, wie ein Schwimmer, der kopfüber in das Wasser springt, stürzte er in das Thor und die Treppe hinauf.

Auch Georg Fein und Harro Harring waren da. Beide hatten Anknüpfungen mit den Arbeitern und den geringeren Bürgern in Straßburg, von denen wir Studenten uns in unserem Stolze als von „Knoten“ und „Philistern“ fern hielten. Zur Unterstützung ihrer Volksthümlichkeit fühlten sie das Bedürfniß, sich ebenso zu nähren und zu kleiden, wie das Volk. Für Harro Harring, der ein ebenso geborener Schmutzfinke war, wie der alte Jahn, war die Lösung dieser Aufgabe eine Kleinigkeit; er schlang mit Wollust Kartoffeln hinunter, trank mit Begeisterung Schnaps und gefiel sich ausnehmend in den Kleidern eines Maurergesellen. Fein dagegen, der wirklich auch fein war, litt augenscheinlich unter diesen volksthümlichen Bestrebungen. Er trug schwarzen Frack, Hosen und einen Cylinder – aber die Hosen waren seltsam verkürzt und der Frack in weitem Umkreise unter den Armen braunroth und sehr abgeschabt. Die Spötter behaupteten, er habe ihn mit Säure und einem metallischen Roßstriegel behandelt, um dem aristokratischen Kleidungsstücke einen demokratischen Anstrich zu geben.

Es wimmelte von Bummlern, die sich für Flüchtlinge ausgaben und von Flüchtlingen, die bummelten und ihre Wissenschaft und Thätigkeit, nach dem landläufigen Ausdrucke, auf dem Altare des Vaterlandes opferten. Unser alter Freund, Wilhelm Schulz, der bekannte Schriftsteller, der später die geistreiche Broschüre „Vom deutschen Michel und seinen Schwestern“ schrieb, hatte eine höchst verdienstvolle „Stromliste“ aufgestellt, in welcher alle Strömer verzeichnet und classifizirt waren. Da gab es „Haupt- und Neben-Strömer, Ab- und Zu-Strömer, Strömer aus Bedürfniß und aus Neigung.“ Die beiden Rubriken, welchen die größte Sorgfalt zugewendet wurde, hatten die Ueberschriften: „Strömende Gauner“ und „Gaunerische Strömer“. Leider waren beide Colonnen sehr reich an Namen und die letztere füllte sich mehr und mehr, je länger die Zeit des Exils dauerte. Um wenigstens jene Gauner, die sich für Flüchtlinge ausgaben, fern zu halten oder unschädlich zu machen, hatte man enge Beziehungen zu der Polizei.

Der Präfekt, Chopin d’Arnouville, war allgemein verhaßt. Er galt für eines jener niedrigen Werkzeuge des constitutionellen Regiments, das in der politischen Spionage seine Befriedigung und das Mittel zur Beförderung suchte. Der durchaus republikanische Stadtrath von Straßburg lag mit ihm in beständiger, offener Fehde. Der Departementalrath nicht minder; die meisten Municipalräthe seines Verwaltungsbezirkes waren ebenfalls hartgesotten republikanisch und machten ihm das Leben sauer. Für allen Aerger, den ihm seine Administrirten bereiteten, mußten die Flüchtlinge und die politisch Verfolgten entgelten.

Es ist überhaupt wohl zu beachten, namentlich in den jetzigen Zeiten: die Bevölkerung des Elsaß ist ihrer großen Mehrzahl nach republikanisch. Sie war es damals – sie ist es heute noch. In Straßburg waren es die Nachklänge der alten freien Reichsstadt – auf dem Lande die Erinnerung an die große französische Revolution, welche die Bauern frei gemacht und die Adelichen, die Barone, Grafen und Fürsten, Ritter und Abteien in ihrer Herrschaft gebrochen hatte, wofür man Sinn und Verständniß besaß. Die napoleonischen Erinnerungen waren nebenbei um so lebendiger, als das Elsaß einen verhältnißmäßig großen Theil der Armee geliefert hatte – aber Carlisten und Ludwig Philipp waren gleich gehaßt und für alle Freiheitsbestrebungen hatten die Elsäßer große Sympathieen. Deshalb fanden auch die Flüchtlinge überall Unterstützung, Schutz, Bergung.

Unser Halt und Hort war in Straßburg ein republikanischer Polizei-Commissär Namens Pfister. Alle Flüchtlinge hatten sich nach und nach in seinem Quartiere gesammelt; er unterhielt mit einigen die freundschaftlichsten persönlichen Beziehungen und während er einerseits dem Präfekten auf dessen Anfragen stets die Anwesenheit der rein politischen Flüchtlinge läugnete, verlangte er anderseits streng die sofortige Anmeldung eines jeden Ankömmlings. Ebenso aber benachrichtigte er, sobald er Wind bekam, daß ein räudiges Schaf sich in seine Heerde eingeschlichen hatte oder einschleichen wollte. Appiano war Einer seiner Auserwählten – dieser wurde also beauftragt, in den nächsten Tagen zu Pfister zu gehen, meine Ankunft zu melden und zugleich, wenn nöthig, über die Illuminationsstörung beruhigende Aufklärungen zu geben.

Ich wäre unmittelbar nach der Schweiz weiter gereist, wenn nicht damals die Grenzbezirke längs des Rheines ungewöhnlich scharf überwacht worden wären. Die politischen Gefangenen von Lyon, welche in Sainte Pélagie in Paris gefangen gehalten wurden, waren kurz vorher aus dem Gefängnisse durchgebrochen und man vermuthete, daß sie noch in Frankreich versteckt seien, um nach und nach die Grenze zu überschreiten.

Es erschien meinen Freunden unmöglich, ohne Paß die Schweiz zu erreichen. Ich mußte mich also fügen und warten, bis mir irgend ein Ausweis von Bern aus geschickt würde. Ein unerwarteter Zufall sollte unsere Pläne durchkreuzen.

Es war, wenn ich nicht irre am zweiten Tage meines Aufenthaltes, als Appiano, der mich sonst allein zur Herberge am Fischerquai gehen ließ und zu Hause arbeitete, athemlos hereinstürzte. „Es ist gut, daß Ihr zusammen seid,“ sagte er, „wir müssen Kriegsrath halten. Stellt Euch vor, eben schickt Pfister, um mir sagen zu lassen, wir möchten uns in Acht nehmen. In den nächsten Tagen werde wahrscheinlich ein Individuum, Namens Vogt kommen, das sich für einen Flüchtling ausgeben werde, aber nichts anderes sei, als ein gemeiner Dieb, ein Kutscher aus der Rheinpfalz, der seinem Herrn mit Wagen und Pferden durchgegangen sei und dieselben über der Grenze verkauft habe. Pfister läßt bitten, ihm gleich Anzeige zu machen, damit er den Ankömmling sofort arretieren lassen könne.“

Die Gesellschaft lachte aus vollem Halse.

„Da ist gar Nichts zu lachen!“ rief Appiano. Ihr wißt wie wir überwacht und ausspionirt werden. Vogt hat keinen Uebernamen. Wenn ihn nun einmal Einer von uns in der Brasserie beim Namen nennt oder ruft und ein Spion es hört, so kann das einen Heidenspektakel geben, uns den Aufenthalt hier in Straßburg und unserem Freunde Pfister sogar seine Stelle kosten! Nun lacht!“

Alle waren in der That plötzlich sehr ernst geworden. Nach langem Hin- und Herreden wurde beschlossen, Appiano und Fasan sollten gleich mit mir zu Pfister gehen, um ihm die Sache vorzustellen und sich für die Identität meiner Person zu verbürgen.

Pfister war ein großer Mann mit grauem Haar und Vollbart, ein alter Soldat von strammer Haltung, energischem und zugleich wohlwollendem Charakter. Er empfing uns äußerst freundlich. „Aha! Ein neuer Ankömmling?“ Appiano nickte. „So jung und doch schon Hochverräther,“ scherzte er. „Nun wie heißen Sie denn?“ – „Ich heiße Vogt.“ – Pfister’s Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an – er streckte die Hand nach dem Klingelzuge aus. „Ich bitte, Herr Polizei-Commissär,“ sagte ich, „warten Sie noch einen Augenblick – wenn Sie mich gehört haben, können Sie läuten.“

<436> Nun erzählte ich – Appiano und Fasan sekundirten. „Sie gaben mir Ihr Ehrenwort, meine Herren,“ sagte Pfister, „daß die Sache sich so verhält; daß Sie den Herrn Vogt auf der Universität gekannt und mit ihm studirt haben, daß Sie seinen Vater kennen?“ – „Unser feierliches Ehrenwort?“ – „Nun,“ sagte Pfister, „die Geschichte ist seltsam, aber ich muß und will Ihnen glauben. Kommen Sie her, junger Mann, setzen Sie sich an mein Pult und schreiben Sie an Ihren Vater, was ich Ihnen dictiren werde, daß er Ihnen sogleich einen Paß schicken solle. So – ich werde den Brief selbst auf die Post besorgen lassen. Sie geben mir Ihr Ehrenwort, sich nicht über Nacht ohne Erlaubniß aus der Stadt zu entfernen. Sie, meine Herrn, bürgen mir dafür. Ich werde Herrn Vogt beaufsichtigen lassen – ich sage es Ihnen, damit die Agenten nicht etwa beleidigt werden. Nun danke ich Ihnen, meine Herren, für Ihr Zutrauen. Sie haben den richtigen Weg eingeschlagen, um auf loyale Weise die Schwierigkeiten zu beseitigen. Leben Sie wohl!“

Überlieferung
Druck: Carl Vogt: In das Elsaß und wieder heraus. Eine Erzählung aus meinem Leben, in: Buch der Welt. Illustrirtes Volksblatt. Jahrg. 1871, Nr. 27 u. 28. S. 418, 420 f., 434–436.