Hermann Wiener (Fotografie um 1860)

Hermann Wiener (Fotografie, ca. 1860)

LZ 3690
Hermann Wiener: Erinnerung an die Flucht nach Straßburg und den Aufenthalt dort (Mitte bis Ende Mai 1835)

Lausanne 1895

Es war nämlich vor mehreren Monaten von einem feinen Kopfe eine Flüchtlings-Schnellpost eingerichtet worden. Es sollte da, so meinte er, gehen wie bei einem gewissen Spielzeug, trichterförmig mit schneckenförmigen Zügen im Innern und Oeffnungen an den Seiten und unten. Da unten, das war der Tiefe Keller in Strasburg, in den der entwichene Flüchtling hineinkam, nachdem er unterwegs vom einen dem andren zugeschoben worden war. Jeder der Mittelmänner kannte nur seinen Vordermann und seinen Hintermann, war immer bereit und fragte nicht. Auf diese Art hatte ich unter andren mitgearbeitet, als um Weihnachten Wilhelm Schulz aus der Festung entkam.

Jetzt also war an mir die Reihe, denn ich erhielt Tags darauf die Zeitung und in Bensheim, wo sich der Spediteur jetzt auch bereit hielt, die Nachricht, S. sei glücklich in Worms und warte auf mich. Das geschah auch und zwar im gastlichen Hause eines liberalen Weinhändlers, auch Altertumsforschers, mit dem wir einen sehr angenehmen Abend verbrachten. „Morgen machen wir Geschäftsreisen zusammen“, sagte er, „also üben Sie sich jetzt noch tüchtig ein, damit Sie im Keller nicht aus der Rolle fallen.“ Ich denke, es geschah nicht; abends aber kehrten wir bei dem lieben Mayer in Neustadt ein. Es wurde beschlossen, in der Nacht abzufahren, und zwar in der Hut des treuen Jakob, eines Holzmachers, der seit mehreren Monaten den Flüchtlingsschub als Nebengeschäft betrieb. Mit ihm fuhren wir nach Landau, wo wir Namen und Reisezweck anzugeben hatten. „Die Herren sind Gerber und reisen auf die Lohrinden-Versteigerung in R.; ich soll ihnen den Weg zeigen.“ Also Jakob. Der Weg ging aber über Bergzabern und wir kamen im vertrauten Gasthaus eben zum Kaffee. „Wer hat die Woche?“ fragt der Wirt die Tochter. – „Der Wilhelm!“ – „Er soll kommen.“ – „Grüß Gott, deutsche Brüder“, sagt er uns. „So! der Strom fließt wieder voller! Nun gut! Trinken wir erst einen Trollschoppen und dann bringe ich Euch nach Weißenau.“ Es war bald geschehen, und wir werden daselbst einem Omnibus anvertraut. Früh morgens waren wir in Strasburg und gingen, der Mahnung des Omnibusführers folgend, um nicht als fremde Reisende im Localwagen aufzufallen, in Sommerrock und Handschuhen durch das Festungstor, wo vielleicht Neugier zu befriedigen gewesen wäre. Ein Junge, dem wir in der Ferne folgten, trug unser – bescheidenes Reisegepäck in den Tiefen Keller.

Es waren etwa 25 deutsche Flüchtlinge in Strasburg: Heidelberger, Würzburger, Gießer, meist Studenten, Mediciner, doch einige auch auf Büraux beschäftigt, daneben unser lieber geistreicher Wilhelm Schulz mit seiner trefflichen Gattin. Ich fuhr einmal mit ihm nach Brummat zu einem als Arzt ansässig gewordenen alten Gießer. „Als ich zum erstenmal den Weg fuhr“, sagte Frau Schulz, „pochte mir das Herz anders. Erst dort nämlich konnte ich, da ich in derselben Nacht wie mein Mann, doch auf andrem Wege, Deutschland verlassen hatte, von seinem Schicksal näheres erfahren.“

An einem schönen Nachmittag aber zog die Schaar der Hessen, geführt von Schulz, auf das Schlachtfeld an der Suffelbach, auf dem unsere Truppen unter Prinz Emil 1813 einst gesiegt, unter ihnen der junge Lieutenant Schulz, der jetzt erzählte, als stünde er mit Germanicus im Teutoburger Walde. Jenes Treffen nämlich, ein Ausfall-Gefecht, bildete den Gegenstand eines von Hauptmann v. Perglas (dem späteren Besiegten von Laufach) angefertigten Wasserfarbenbildes, das ums Jahr 1820 in keiner Darmstädter Wirtsstube, die sich respectierte, fehlen durfte. Es war noch ein Stückchen Studentenleben, was sich in Strasburg abspann, aber alles zu seiner Zeit.

Die deutsche Colonie stand in großer Achtung und war z. B. bei dem Polizeicommissär so gut angeschrieben, daß er sie beauftragte, von den vielen, die als politische Flüchtlinge das Strasburger Asylrecht in Anspruch nahmen, die Spreu von dem Weizen zu sondern, damit er in anständiger Weise einschreiten konnte. Es wurde dafür eine Stromer-Polizei geschaffen, wo natürlich Ernst und Scherz gemischt war. So wurde der weiter reisende Freund den in der Umgegend und der Schweiz ansässigen Schicksalsgenossen nicht durch einen Empfehlungsbrief, sondern durch einen Stromerpaß zugewiesen, der nach den gewöhnlichen Formeln die Empfehlung enthielt, dem Vorzeiger dieses einen Rausch beizubringen, als in welchem Zustand er sich so und so benehmen werde. Verstellung war ja für studierte Augen kaum möglich; ob die Maßregel anderwärts Nachahmung fand, weiß ich aber nicht.

Ich erhielt einen Stromerpaß bei meiner Abreise in die Schweiz zugleich mit einem französischen Passe, der aber eigentlich einem elsässischen Primarlehrer galt. Ohne denselben vorzuzeigen kam ich nach Liestal, wo ich meinem Freund Schapper nachfragte.

Überlieferung
Handschrift: Burschenschaftliches Archiv im Bundesarchiv Koblenz; Druck: Jan-Christoph Hauschild: Hermann Wieners Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1895, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N. F. 44 (1986), S. 363–406, hier S. 384–387.