LZ 3440
Wilhelm Büchner: Brief an Karl Emil Franzos ; Pfungstadt 23. Dezember 1878

WILHELM BÜCHNER / Ultramarinfabrik / Pfungstadt bei Darmstadt.

Hochverehrter Herr!

Mit innigstem Bedauern vernehme ich aus ihrem geehrten Schreiben vom 21. d M dass Sie schwer zu leiden haben und wünsche Ihnen von Herzen baldigste Befreiung davon; aber glücklich doch der, welcher trotz körperlicher Leiden seinen Geist frei zu halten weiss, wie dies bei Ihnen der Fall ist; es gehört Kraft und Lebensmuth dazu!!

In wieweit ich Ihren Wünschen nachkommen kann, will ich versuchen, fürchte aber Sie nicht in Allem befriedigen zu können; liegt doch eine solange lange Zeit dazwischen und habe ich auch mit den Schwierigkeiten des Lebens zu kämpfen gehabt, die wohl dazu beigetragen haben mögen, dass mir jene so ernste Zeit nicht mehr ganz vor Augen steht.

Zu Ihren Fragen mich wendend, lege ich das gewünschte Gedicht bei.

ad 2 Mein Vater, eine ‚strenge’ Natur, die Alles sich selbst verdankte was sie erreichte, war im höchsten Grad sparsam für sich, aber gab mit vollen Händen, was zur Ausbildung seiner Kinder nöthig war; er selbst, ein Zeitgenosse der grossen französischen Revolution, der als Arzt einige Feldzüge bei den holländischen Truppen mitmachte, die damals unter französischem Commando waren, hatte die grösste Sympathie für die Bewegung der Geister und gehörte es zu seiner liebsten Lectüre, die erlebten Ereignisse in der später erscheinenden Zeitschrift „Unsere Zeit“ zu repetiren und zu ergänzen. Vielfach wurden diese Abends vorgelesen, und nahmen wir alle den lebhaftesten Antheil daran. Wohl möglich, dass bei dem ohnehin freien Geist der Familie die Wirkung dieser Lectüre von besonderm Einfluss  insbesondere auf Georg war und ist wohl diese Lectüre der Entstehungsmoment von Danton’s Tod. Bei aller Freisinnigkeit meines Vaters, war derselbe aber sehr vorsichtig und bei seiner grossen Lebenserfahrung erkannte er ganz gewiss schon frühe die Gefahr einer politischen Richtung für seine Söhne. Von den Verbindungen & Beziehungen Georgs wusste er absolut nicht früher etwas, bevor die eingeleiteten Untersuchungen Tagesgespräch geworden waren. Ebenso war ihm die Arbeit über Danton völlig unbekannt. Hätte er gewusst, in welcher politischen Situation sich Georg befand, er würde mit äusserster Strenge gegen ihn verfahren sein.

Das persönliche Verhältniss zum Vater war ein sehr gutes im Allgemeinen und war Papa stolz auf die Talente seines Sohnes, von dessen Zukunft er sich viel versprach, weil er von den politischen Verbindungen nichts wusste.

Als nun gar Georg nach Strasburg flüchtete, war derselbe im höchsten Grad erbittert und hat jede pecuniäre Unterstützung positiv abgelehnt. Nur durch die Mutter und die Grossmutter wurden Georg einige Mittel von Zeit zu Zeit zugewiesen, vielleicht nicht ganz ohne Wissen des Vaters, aber nicht mit seiner officiellen Bewilligung.

ad 3: glaube ich, dass vorzugsweise die Lectüre „Unsere Zeit“ Anlass zur Arbeit über Danton gegeben hat; ob ein weiterer Anstoss durch Barrères Memoiren gegeben wurde, weiss ich nicht. Sicherlich hat ihn am Meisten zur beschleunigten Herausgabe und zur scharfen, markirten Sprache darin, seine bedrohte Situation, sein Zorn gegen den Polizeistaat und sein Wunsch, nur einiges Geld in Hand zu bekommen, bewogen. Bei ruhigerer Überlegung würde er das Werk mehr ausgefeilt haben, – vielleicht zum Schaden des Entwurfs: Grade das Unfertige, die ungeschwächte Sprache, – macht den tiefen Eindruck, dem jeder Leser sich nicht entziehen kann.

ad 4. Allerdings hat Georg eine Gesellschaft der Menschenrechte in Darmstadt, ich glaube, auch in Giesen, begründet. Ich selbst habe diesen Versammlungen nie beigewohnt, indem Georg nicht auch mich in diese Gefahren hinein ziehen wollte, ich auch um diese Zeit wenig zu Hause war. Die Persönlichkeiten waren Koch, Nievergelder, Minnigerode, die anderen Namen sind mir entfallen. In Butzbach, wo eine geheime Gesellschaft bestand, und wohin ich wenige Zeit vor Georgs Flucht, mich in Condition als Apotheker begab, wurde ich als Bruder Georgs mit offnen Armen empfangen. Nachdem man mich kennen gelernt, sollte ich nun auch in den geheimen Bund aufgenommen werden; ich war mehr neugierig als erregt darüber. An einem bestimmten Abend wurde ich abgeholt, an einem Haus wurde vorsichtig Stellung genommen, beobachtet ob man keinen Lichtschimmer an einem bestimmten Fenster sähe; darauf ging einer der „Verschworenen“ ins Haus und kam mit der Nachricht „alles in Ordnung“ – Im Dunklen gings nun eine steile Treppe vorsichtig hinauf; es brannte im Zimmer ein dampfendes Talglicht; nun wurde im Flüsterton gesprochen, Bier gebracht, Pfeifen angezündet und – über Mädchen aber in anständiger Weise gesprochen. Als das einige Zeit gedauert hatte, gingen die Verschworenen wieder einzeln mit grösster Vorsicht fort und aus war die ganze Geschichte.

Hatte ich nun früher über die verwegenen Butzbacher so viel gehört, so hatte ich wohl das Recht, etwas Besonderes zu erwarten. Ich fand gute Kameraden, derb und bieder, aber um die Welt zu verbessern, dazu konnten sie kein Material abgeben, und von dem Augenblick an, war ich von dem Wahn befreit, als wenn durch Geheimbündelei etwas Gutes zu erzielen sei. Nur als Handlanger konnten die Leute gebraucht werden.

ad 5. Die Mittel zur Flucht gewährten die fl 100 [unleserlich], die Georg von Sauerländer für Danton erhielt. Darauf bezog sich auch seine Frage an mich, ob ich ihm die von Papa erhaltenen fl 40 überlassen wolle, als ich nach Butzbach abreiste. Ich sagte sie ihm zu, aber nur dann, wenn er sie nicht zur Flucht gebrauchen wolle. Georg ging bei Weisenburg über die Grenze weil er dort, wie er mir früher sagte, keinen Pass gebrauche, wenn er als einfacher Spatziergänger über die Gränze ginge.

ad 6. Wann er flüchtete?

Wahrscheinlich October 1835.

Es fehlen mir bezügliche Notizen. Doch glaube ich dass obige Angabe die richtige ist.

ad 7. Bei der Vernehmung wusste ich, dass die Fragen nach Vor und Zunamen, Alter etc zuerst gestellt würden, um zu Protocoll genommen zu werden. Bei dem Fragen nach dem Vornamen, musste ich, wollte ich nicht als absichtlicher Lügner dastehen, meinen Namen angeben. Bei Nennung meines Namen „Wilhelm“ hatte die Sache ein Ende, indem ich erklärte, ich sei nur gekommen, um meinen Bruder zu entschuldigen.

Hier muss ich bemerken, dass der Richter meine Familie genau kannte, indem mein Papa Arzt bei demselben war. Seiner Humanität war es wahrscheinlich ohnehin zu danken, dass Georg nicht gleich arretirt und nur sehr vorsichtig gegen ihn vorgegangen wurde, vielleicht in der Absicht, ihm Zeit zur Flucht zu lassen; denn die VerfolgungsSucht eines Georgi hatte nicht bei allen Richtern Platz gegriffen und Viele legten den Verirrungen der Jugend die Bedeutung nicht bei, um ganze Familien desshalb ins Unglück zu bringen. –

Dass ich Ihre Fragen gerne beantworte, ist ja natürlich, liegt mir doch die Pflicht ob, Sie in Ihrem Unternehmen möglichst zu unterstützen. Es gibt das Ganze ja doch ein Zeitbild, wie es in Deutschland nicht vereinzelt dasteht, wie es in anderen Ländern aufgetaucht und neuerdings in Russland bei gleicher Ursache an den Tag tritt. Keiner Nation sind ihre Vorläufer und ihre Folgen gespart, Alle müssen dieselben Phasen durchmachen, die die Vorgeschrittneren zurückgelegt haben. Auch Deutschland steht Manches bevor und wird es dasselbe erleben, was Frankreich bedurfte, um endlich ein Ziel zu erreichen, dass für die Zukunft Dauer verspricht.

Mit dem innigsten Wunsch dass Ihnen die bevorstehenden Feiertage und das Neue Jahr Befreiung von Ihrem Leiden als angenehmstes FestGeschenk bringen mögen – zeichne mit Hochachtung & freundlichstem Gruss

Ihr

Wilh Büchner

Pfungstadt den 23 Dber 1878

Überlieferung
Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar; Erstdruck: Fritz Bergemann (Hg.), Georg Büchners sämtliche Werke und Briefe, 1922, S. 637–640 (Auszüge).