LZ 3430
Wilhelm Büchner: Brief an Karl Emil Franzos in Unterach; Scheveningen 9. September 1878

WILHELM BÜCHNER / Sache: Ultramarinfabrik / Pfungstadt bei Darmstadt.

Herrn K. E. Franzos in Unterach (Ober Oestreich)

Hochgeehrter Herr!

Scheveningen d 9 Septb 1878

Ihre geehrte Zuschrift wird mir erst heute hier und beeile ich mich dieselbe zu erwiedern, in so weit mir dies möglich ist.

Allerdings brachte ich die letzte Zeit vor der Flucht meines Bruders Georg mit demselben im väterlichen Hause zu und war ich wohl der, welcher in seine politischen Verwicklungen der damaligen Zeit, wie seine Plane, zu flüchten am tiefsten eingeweiht war.

Dass er flüchten müsse, sprach er mir gegenüber wiederholt aus und alle Einreden halfen nicht; zog ihn doch zugleich sein Verhältniss zu seiner Braut mächtig nach Strasburg. Aber verschiedene Gründe hielten ihn noch immer zurück. Vor allen Dingen das daraus entspringende Zerwürfniss mit dem Vater, die Sorge um die in der Gefangenschaft befindlichen Freunde, denen zur Flucht zu helfen seine stete Sorge war, der Glaube, man könne nicht an ihn heran und der Mangel an Geld. Was sollte er in Strasburg beginnen, wenn ihm nicht einige Mittel zu Gebot gestellt würden? Letzter Grund war auch vorzugsweise das Motiv, das schon lange im Kopf herumgetragene Drama „Dantons Tod“ mit kurzen und raschen Zügen zu entwerfen „um sich Geld zu machen“. Und was war das für ein kleines schwer verdientes Geld. „Einhundert Gulden“! Die letzten Tage meiner Anwesenheit in Darmstadt vergingen in furchtbarer Aufregung. Ich hatte das Manuscript für ihn zur Post gebracht und nun kamen die Augenblicke der Abspannung wie der Erwartung. Damals war es, als er mich um die zwei Goldstücke bat, die hinreichen würden, ihn über die Gränze zu bringen.

Vorladungen nach Offenbach vor den Untersuchungsrichter wich er aus; eine Vorladung in das Arresthaus in Darmstadt zur Vernehmung, umging er damit, dass er mich an seiner Statt hinschickte; ich war dahin instruirt, mich nicht früher zu erkennen zu geben, als bis das Protocoll angefangen würde und möge ich beobachten, ob man die Absicht zeige, mich (für ihn) in Haft zu nehmen. Wir hatten schon Tage lang eine Leiter in dem Garten an die Mauer gelehnt, mit deren Hülfe er in andere Gärten flüchten wolle, wenn die Häscher kämen. – Meinen Vorstellungen gegenüber, welchen Kummer er den Eltern bereiten würde, wenn er flüchte, erklärte er es sey sein Tod, wenn er in Gefangenschaft geriethe. Da lies ich ab, ihn zu bitten, und mein Abschied war ein schmerzlicher.

Die Berathungen mit seinen politischen Freunden drehten sich in dieser Zeit nur um die Mittel, wie man die Gefangenen befreien könne. So wurde namentlich bezüglich der Befreiung von Minnigerode vieles besprochen, wobei ich die Umsicht meines Bruders wiederholt bewunderte. Sie missglückte an der körperlichen Schwäche Minnigerod’s.

Eine einzige politische Unterhaltung dürfte von allgemeineren Interessen sein.

Es wurde darüber debattirt, ob es wünschenswerther sei und Erfolgversprechender, gleich eine einheitliche Republick zu proclamiren oder ob man nicht zuerst dahin streben müsse, zu Gunsten der Krone Preussens die anderen Dynastien zu beseitigen; Mein Bruder meinte damals „das gäbe doppelte Arbeit“ und wollte von dem Stationsweisen Vorgehen nichts wissen.

Er würde niemals Nationalliberaler geworden sein, so wenig wie ich es heute bin.

Dies die Erinnerungen aus jener Zeit die Sie mehr oder weniger vielleicht benutzen können.

Heute, als gereifter Mann, der während seines ganzen Lebens vielfach mit den politischen Verhältnissen in Deutschland vertraut geworden ist, kann es mir nicht einfallen, die fast kindlichen Bestrebungen jener Zeit als solche anzusehen, die jemals auf einen practischen Erfolg rechnen konnten, – aber als Vorläufer jugendlicher Hoffnungen, bei dem Mangel der gesetzlichen Möglichkeiten, Deutschlands Kräfte zu einigen, bleiben sie ein Zeichen der Zeit und ein Fingerzeig für Solche, die glauben mit Ausnahme Gesetzen, den sich regenden Geist in Banden schlagen zu können.

Damals glaubte man, ein Formenwechsel genüge die Völker zu beglücken; heute ist die Form gleich, aber nicht der Geist, unter welchem die Völker regiert werden oder sich selbst regieren. Wieder stehen wir in Deutschland an einem Wendepunkt. Bricht die Reaction herein, dann freilich wird wieder das Heil in der Form der Regierung gesucht werden.

Mit Hochachtung
Wilh. Büchner

Reichs+ LandtagsAbgeord.

 

„1. Gedicht

2. Verh. zum Vater

3. Plan zu ‚DT.’

4. Gesellschaft d. Mens.

5. Mittel zur Flucht.

6. Art der Flucht.

7. Vernehmg im Arresthaus“

Überlieferung
Handschrift: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar; Erstdruck: Fritz Bergemann (Hg.), Georg Büchners sämtliche Werke und Briefe, 1922, S. 636–640.