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Carl Dilthey: „Rede“; Darmstadt 29. September 1830

Unter allen Empfindungen, die in dem Bewusstsein des über sich selbst und die umgebende Welt zur Besinnung kommenden Menschen erwachen, gibt es keine, die an Tiefe und Innigkeit der Liebe zu Fürst und Vaterland gleichgestellt werden könnte; denn sie bedingt und umfasst alle einzelne Güter des Lebens, unserm heimischen Heerd mit dem Kreise der Unsrigen, unsre gesellschaftliche Verbindung, unsre bürgerliche und amtliche Wirksamkeit, den Gesammtkreis unserer Gedanken und Bestrebungen, unserer Wünsche und Hoffnungen.Es ist mit einem Worte der Staat, dem unsre Liebe zugewendet ist, die Verfassung, die ihn bindet, und vor Allem der Fürst, dessen Person ihm Einheit, Schluß und Zusammenhang gewährt.

Nun würde zwar jeder Fürst als der Gesalbte des Herrn, als unser erste Beschützer, Gesetzgeber und Richter, als unser Hort und Schirm gegen die Stürme zügelloser Anarchie unsere Hochachtung und unsern willigen Gehorsam in Anspruch nehmen. Aber Verehrung, innige, tiefe, dankbare Verehrung folgt nur dem, dessen persönliche Eigenschaften und Verdienste in hellem Lichte glänzen, der seine Wohlthaten als freie, edle Wirkungen seines Geistes und Herzens ausströmen lässt, der rings umgeben ist von den Denkmählern seiner Gerechtigkeit, Großmuth und Milde, der seine Würde nicht sucht in verachtender Kälte, sondern durch Güte und Anmuth eine siegende Gewalt über die Herzen übt. Darum Heil und Glück und Segen unserm Großherzog!Möge der reichste Segen des Himmels auf ihn herabströmen, auf daß er wiederum Segen spende Allen, die seiner gerechten und milden Regierung sich erfreuen!

Wohl mag Ihnen, verehrteste Anwesende, der Inhalt dieses Wunsches so umfassend scheinen, daß die Fülle desselben ganz ihre Brust durchdringt und kaum noch einem andern Wunsche Raum neben sich gestattet. Mich aber wird dieser Ort und die heutige Veranlassung entschuldigen, wenn ich noch einen zweiten Wunsch öffentlich auszusprechen wage, den Wunsch: möge unser Gymnasium sich der Huld und Gnade unseres Fürsten erfreuen! – Noch in frischer Erinnerung stehen uns die Zeiten, in denen verschrobene Köpfe unter den Jünglingen mit dem Gespinnsten ihres verbrannten Gehirns die politische Gestaltung der Welt zu umgarnen strebten. Mit Recht wurde von Seiten der Staaten durchgreifende Strenge angewendet, um diesen gefährlichen, mit Dolch und Meineid freches Spiel treibenden Wahnwitz zu vertilgen. Welche Gesinnungen unsere Schüler dereinst als Staatsdiener gegen Fürst und Vaterland bezeigen werden, liegt zum Theil und bis auf einen gewissen Grad allerdings in unsern Händen. Denn nicht bloß der trockne Stoff des Unterrichts wird von dem Lehrer auf den Schüler übertragen; sondern auch seine Lebensansichten und die ganze Melodie seiner Seele pflegt auf diesen überzugehen; seine Vermuthungen werden in dem Schüler zu Glaubensartikeln, seine Lichtstrahlen zu Brennstrahlen, seine hingeworfenen Aeußerungen zu Bewegungen, die er weder berechnen noch beherrschen kann. Tausendfältig sind die Gelegenheiten, die sich dem Lehrer darbieten, um Liebe zum Vaterlande, Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus, Gehorsam gegen Behörden und Gesetze, Achtung des Einheimischen, Aufopferung für das öffentliche Beste einzuflößen; aber daß er diese Gelegenheiten gewissenhaft benutze, daß seine Worte nicht die ironische Bedeutung des Gegentheils erhalten, dazu ist es vor Allem nothwendig, daß kein bureaukratischer Druck auf der Anstalt laste, daß man eine gelehrte Schule mit aller Feinheit und Vorliebe behandle und ihren Zusammenhang mit den wichtigsten Interessen des Staates anerkenne. Glücklich ist das Land, in dem die Felder des Erdbodens und die Felder der Wissenschaften gleich gut angebaut werden. Die Fülle des Kornes und des Mostes wuchert in Scheuern und Kellern, und die Fülle des guten Geistes ergießt sich in die reinen Herzen seiner Bewohner. Krieg und Aufruhr sind verbannt aus dem Land und aus den Gemüthern; denn sie sind Verbrechen gegen die Majestät, und die Majestät ist Vernunft, Weisheit, Gerechtigkeit, Großmuth. Mag es rings um uns her auch sausen und brausen, mögen von gerüttelten Thronen Könige herabsteigen und aus brennenden Schlössern Fürsten entfliehen, mag die Gährung der Zeit auch die Grundfesten aller bürgerlichen Ordnung untergraben: wir haben weder die Wuth des Pöbels noch die Gewaltstreiche eines despotischen Gebieters zu befürchten, und darum stehen wir zusammen und halten an einander und schauen in Sicherheit und Vertrauen mit Liebe und Ehrfurcht auf das theure Haupt unseres Landesvaters, und sind unseres Heiles, unserer Ruhe und unserer Wohlfahrt gewiß. Hessens Flagge wehet uns voran, wir folgen ihr mit dem Juebelruf: hoch lebe Ludwig II., unser Großherzog!

Überlieferung
Druck: Rede gehalten am 29. September 1830 im Gymnasium zu Darmstadt, in: Die Wünsche des Gymnasiums zu Darmstadt beim Regierungsantritt Seiner Königlichen Hoheit, LUDWIGS II, Großherzogs von Hessen und bei Rhein, 1831, S. 1–15.