HL Dok 1.4.1.
Verhörprotokolle August Becker; Darmstadt 1. September, 4. Juli, 6. Juli und 1. November 1837

<420> Verhör vom 1. September 1837

„Man läßt den Angeklagten, A. Becker,vortreten und macht ihm zur Aufgabe, sich darüber zu erklären: von wem die erste Idee zu Flugschriften ausgegangen sei, worin deren Zweck, Tendenz bestanden und zu welcher Zeit die Abfassung solcher Schriften erfolgt sei. Derselbe erklärt hierauf dictirend Folgendes:

Den Landboten betreffend, so sei es mir erlaubt, den Verfasser desselben, Georg Büchner, in seinen eigenen Worten, deren ich mich noch ziemlich genau erinnere, hier für mich reden zu lassen; dieß kann zugleich dazu dienen, wenigstens eine Seite von Büchner’s Charakter kennen zu lernen. – Die Versuche, welche man bis jetzt gemacht hat, um die Verhältnisse Deutschlands umzustoßen, sagte er, beruhen auf einer durchaus knabenhaften Berechnung, indem man, wenn es wirklich zu einem Kampf, auf den man sich doch gefaßt machen mußte, gekommen wäre, den deutschen Regierungen und ihren zahlreichen Armeen nichts hätte entgegen stellen können, als eine handvoll undisciplinirte <421> Liberale. Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch deren Ueberzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen. Es handelt sich also darum, diese große Masse zu gewinnen, was vor der Hand nur durch Flugschriften geschehen kann.

Die früheren Flugschriften, welche zu diesem Zweck etwa erschienen sind, entsprachen demselben nicht; es war darin die Rede vom Wiener Congreß, Preßfreiheit, Bundestagsordonnanzen u. dgl., lauter Dinge, um welche sich die Bauern (denn an diese, meinte Büchner, müsse man sich vorzüglich wenden) nicht kümmern, so lange sie noch mit ihrer materiellen Noth beschäftigt sind; denn diese Leute haben aus sehr nahe liegenden Ursachen durchaus keinen Sinn für die Ehre und Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff von den Rechten des Menschen u. s. w., sie sind gegen all’ das gleichgültig und in dieser Gleichgültigkeit allein beruht ihre angebliche Treue gegen die Fürsten und ihre Theilnahmlosigkeit an dem liberalen Treiben der Zeit; gleichwohl scheinen sie unzufrieden zu sein und sie haben Ursache dazu, weil man den dürftigen Gewinn, welchen sie aus ihrer saueren Arbeit ziehen, und der ihnen zur Verbesserung ihrer Lage so nothwendig wäre, als Steuer von ihnen in Anspruch nimmt. So ist es gekommen, daß man bei aller parteiischen Vorliebe für sie doch sagen muß, daß sie eine ziemlich niederträchtige Gesinnung angenommen haben; und daß sie, es ist traurig genug, fast an keiner Seite mehr zugänglich sind, als gerade am Geldsack. Dieß muß man benutzen, wenn man sie aus ihrer Erniedrigung hervorziehen will; man muß ihnen zeigen und vorrechnen, daß sie einem Staate angehören, dessen Lasten sie größtentheils tragen müssen, während andere den Vortheil davon beziehen; – daß man von ihrem Grundeigenthum, das ihnen ohnedem so sauer wird, noch den größten Theil der Steuern erhebt, – während die Capitalisten leer ausgehen; daß die Gesetze, welche über ihr Leben und Eigenthum verfügen, in den Händen des Adels, der Reichen und der Staatsdiener sich befinden u. s. w., dieses Mittel, die Masse des Volkes zu gewinnen, muß man, fuhr Büchner fort, benutzen, so lange es noch Zeit ist. Sollte es den Fürsten einfallen, den materiellen Zustand des Volkes zu verbessern, sollten sie ihren Hofstaat, der ihnen fast ohnedem unbequem sein muß, sollten sie die kostspieligen stehenden Heere, die ihnen unter Umständen entbehrlich sein können, vermindern, sollten sie den künstlichen Organismus der Staatsmaschine, deren Unterhaltung so große Summen kostet, auf einfachere Principien zurückführen, dann ist die Sache der Revolution, wenn sich der Himmel nicht erbarmt, in Deutschland auf immer verloren. Seht die Oestrei<422>cher, sie sind wohlgenährt und zufrieden! Fürst Metternich, der geschickteste unter allen, hat allen revolutionären Geist, der jemals unter ihnen aufkommen könnte, für immer in ihrem eigenen Fett erstickt. So sind die eigenen Worte des Büchner gewesen.

Die Tendenz der Flugschrift läßt sich hiernach vielleicht dahin aussprechen: sie hatte den Zweck, die materiellen Interessen des Volks mit denen der Revolution zu vereinigen, als dem einzigen möglichen Weg, die letztere zu bewerkstelligen. – Solche Mittel, die Revolution herbeizuführen, hielt Büchner für eben so erlaubt und ehrbar, als alle anderen. Wenigstens sagte er oft, der materielle Druck, unter welchem ein großer Theil Deutschlands liege, sei eben so traurig und schimpflich, als der geistige; und es sei in seinen Augen bei weitem nicht so betrübt, daß dieser oder jener Liberale seine Gedanken nicht drucken lassen dürfe, als daß viele tausend Familien nicht im Stand wären, ihre Kartoffeln zu schmelzen etc.

Ob ich mich hier gleich meistens der Worte Büchner’s bedient habe, so dürfte es doch schwer sein, sich einen Begriff von der Lebhaftigkeit, mit welcher er seine Meinungen vortrug, zu machen.

Man braucht nur vier Jahre (und halb so viel im Gefängniß) älter zu sein, als ich damals war, da Büchner solche Reden führte, um die Sophisterei, die sie enthalten, einzusehen; damals war ich fast blind dagegen, sowie Andere, z. B. Clemm, Louis Becker, Schütz, denen allen Büchner imponirte, ohne daß sie es vielleicht selber gestehen mochten, sowohl durch die Neuheit seiner Ideen, als durch den Scharfsinn, mit welchem er sie vortrug. Wären solche Meinungen das Rühmlichste von Büchner gewesen, dann würde der Abscheu, den sie vielleicht in den Augen des Gerichts erregen, mit Recht auf diejenigen, welche genaueren Umgang mit ihm gepflogen, zurückfallen; allein er hatte bei all’ dem das edelste Herz und war für diejenigen, die ihn genau kannten, der liebenswürdigste Mensch etc.

Um noch einmal auf die Flugschrift Büchner’s zurückzukommen, so kann ich nicht angeben, ob sie den beabsichtigten Zweck erreicht habe; so viel weiß ich, daß, wie mir Weidig gesagt hat, Professor Jordan sich mißbilligend über dieselbe ausgesprochen; auch Dr. Hundeshagen soll sie, wie ich von Weyprecht erfahren, heftig getadelt haben etc.

In dem oben angegebenen Sinn schrieb Büchner die Flugschrift, welche von Weidig Landbote genannt worden ist etc. Noch muß ich erwähnen, daß Büchner während meiner Abwesenheit einmal bei Weidig gewesen sein muß, um bei demselben eine Statistik vom Großherzogthum, die er bei seiner Arbeit benutzt hat, zu entlehnen; ich weiß wenigstens nicht, wie er sonst dazu gekommen sein soll, denn diese Statistik <423>habe ich Weidig später überschickt. Auch wußte Weidig schon vorher von der Absicht Büchners, etwas zu schreiben. Diese Schrift wurde durch Clemm und mich an Weidig überbracht. Er machte zum Theil dieselben Einwendungen, die er mir gegen dieselbe gemacht hatte und sagte, daß bei solchen Grundsätzen kein ehrlicher Mann mehr bei uns aushalten werde. (Er meinte damit die Liberalen.) Ich erinnere mich dieser Einzelheiten noch sehr genau; überhaupt war Weidig in Allem der Gegensatz zu Büchner; er (Weidig) hatte den Grundsatz, daß man auch den kleinsten revolutionären Funken sammeln müsse, wenn es dereinst brennen solle; er war unter den Republikanern republikanisch und unter den Constitutionellen constitutionell. – Büchner war sehr unzufrieden mit dieser Bemerkung Weidig’s und sagte, es sei keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen habe. Indessen konnte Weidig der Flugschrift einen gewissen Grad von Beifall nicht versagen und meinte, sie müsse vortreffliche Dienste thun, wenn sie verändert werde. Dieß zu thun, behielt er sie zurück und gab ihr die Gestalt, in welcher sie später im Druck erschienen ist. Sie unterscheidet sich von dem Originale namentlich dadurch, daß an die Stelle der Reichen, die Vornehmen gesetzt sind und daß das, was gegen die s. g. liberale Partei gesagt war, weggelassen und mit Anderem, was sich bloß auf die Wirksamkeit der constitutionellen Verfassung bezieht, ersetzt worden ist, wodurch denn der Charakter der Schrift noch gehässiger geworden ist. Das ursprüngliche Manuscript hätte man allenfalls als eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen den Mammon, wo er sich auch finde, betrachten können, nicht so das Letzte. Die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß, sind von Weidig. Als Clemm und ich diese Schrift zu Weidig brachten, befand sich dessen Frau krank zu Friedberg. Es mag Anfangs Juni 1834 gewesen sein, als Schütz und Büchner nach Offenbach reisten, um die erwähnte Schrift in Druck zu geben. Ungefähr einen Monat später gingen Schütz und Minnigerode an denselben Ort, um sie abzuholen. Wer sie gedruckt und wo diese Leute bei dieser Gelegenheit logirt, kann ich nicht angeben. Carl Zeuner hat damals einen Pack von der Flugschrift nach Butzbach gebracht. Ich war gerade in seinem Haus, als er zurückkehrte und ich brachte sie in der Tasche in die Wohnung des Weidig etc.

 

Vorgelegt wird die Flugschrift, betitelt: ‚Der Hessische Landbote. Erste Botschaft. Mit Vorbericht.’ – Becker erklärte darüber:

Das Manuscript dieser Flugschrift habe ich bei Büchner in’s Reine geschrieben, weil seine eigene Hand durchaus unleserlich war. Es ist <424> nachher in die Hände Weidig’s gekommen, wie eben gesagt, aus welchen, so viel ich weiß, es Schütz und Büchner empfangen haben, um es in die Druckerei nach Offenbach zu tragen. Ich habe indessen nur das ursprüngliche Manuscript, wie es Büchner geliefert hat, abgeschrieben. Ich kann auch hier noch anführen, daß der Vorbericht ebenfalls von Weidig verfaßt worden ist. Büchner war über die Veränderungen, welche Weidig mit der Schrift vorgenommen hatte, außerordentlich aufgebracht, er wollte sie nicht mehr als die seinige anerkennen und sagte, daß er ihm gerade das, worauf er das meiste Gewicht gelegt habe und wodurch alles andere gleichsam legitimirt werde, durchgestrichen habe etc.“

Verhör vom 6. Juli 1837.

„Zum weiteren Verhör wird August Becker vorgeführt. Derselbe fährt in seiner Erklärung dictirend weiter fort:

Später hat Weidig eine neue Auflage des Landboten besorgen lassen. Ich wußte von dieser Absicht nichts und weiß deßhalb auch nicht anzugeben, wie das Manuscript nach Marburg gekommen ist. Doch war ich gerade in Obergleen um die Zeit, als der Druck fertig sein sollte und ich wurde von Weidig nach Marburg geschickt, um einen Theil der Exemplare zu holen. Ich mußte noch einige Tage darauf warten. Breidenbach hat sie aus der Druckerei geholt und bei Weller sind sie gepackt und am andern Tag durch mich nach Obergleen gebracht worden. Ludwig Becker, damals in Alsfeld, hat einen Theil derselben in dem Haus eines Bauern Namens Seip, in dem eine Viertelstunde von Obergleen entfernten Dorf Heimertshausen, wohin sie durch mich gebracht worden waren, abgeholt, den andern Theil aber hat Weidig, so viel ich weiß, selber nach Alsfeld gebracht. Durch die Unvorsichtigkeit des Dr. Bork sollen sie von da in andere Hände gekommen sein etc.“

A. Becker hat all’ diese Angaben später nicht blos wiederholt, sondern noch mehr specialisirt. Zum Beweise folgende Stellen aus dem Schlußverhöre:

Verhör vom 1. November 1837.

Frage. Der Landbote war seinem Inhalte nach hauptsächlich für’s Großherzogthum Hessen bestimmt. Demungeachtet war, wie Sie sich auch selbst schon ausgesprochen haben, der Zweck der Ausbreitung von Flugschriften umfassender. Durch Aufreizung des Volkes in unserem Lande konnte für die gewünschte allgemeine deutsche Freiheit wenig genützt werden; es mußten daher offenbar weitere Mittel in Aussicht genommen worden sein, um jenen Hauptzweck zu erreichen und worin haben <425> dieselben wohl bestanden? – Antw. Büchner, der bei seinem mehrjährigen Aufenthalte in Frankreich das deutsche Volk wenig kannte, wollte, wie er mir oft gesagt hat, sich durch diese Flugschrift überzeugen, in wie weit das deutsche Volk geneigt sei, an einer Revolution Antheil zu nehmen. Er sah indessen ein, daß das gemeine Volk eine Auseinandersetzung seiner Verhältnisse zum deutschen Bund nicht verstehen und einem Aufruf, seine angeborenen Rechte zu erkämpfen, kein Gehör geben werde; im Gegentheil glaubte er, daß es nur dann bewogen werden könne, seine gegenwärtige Lage zu verändern, wenn man ihm seine nahe liegenden Interessen vor Augen lege. Dieß hat Büchner in der Flugschrift gethan. Er hatte dabei durchaus keinen ausschließlichen Haß gegen die Großherzoglich Hessische Regierung; er meinte im Gegentheil, daß sie eine der besten sei. Er haßte weder die Fürsten, noch die Staatsdiener, sondern nur das monarchische Princip, welches er für die Ursache alles Elends hielt. – Mit der von ihm geschriebenen Flugschrift wollte er vor der Hand nur die Stimmung des Volks und der deutschen Revolutionärs erforschen. Als er später hörte, daß die Bauern die meisten gefundenen Flugschriften auf die Polizei abgeliefert hätten, als er vernahm, daß sich auch die Patrioten gegen seine Flugschrift ausgesprochen, gab er alle seine politischen Hoffnungen in Bezug auf ein Anderswerden auf. Er glaubte nicht, daß durch die constitutionelle landständische Opposition ein wahrhaft freier Zustand in Deutschland herbeigeführt werden könne. Sollte es diesen Leuten gelingen, sagte er oft, die deutschen Regierungen zu stürzen und eine allgemeine Monarchie oder auch Republik einzuführen, so bekommen wir hier einen Geldaristokratismus wie in Frankreich, und lieber soll es bleiben, wie es jetzt ist. Um nun auf die Frage selbst zurückzukommen, muß ich noch bemerken, daß Büchner und seine Freunde in Gießen die Absicht hatten, wenn der Versuch mit dieser ersten Flugschrift gelinge, dahin zu wirken, daß auch in andern Ländern ähnliche Schriften verfaßt würden. Dieß ist aber nicht geschehen, da der Versuch so ungünstig ausgefallen war.

Fr. Theilte Weidig diese Ansichten Büchners? – Antw. Zum Theil; doch stimmte er in Manchem mit Büchner überein. So erinnere ich mich, daß Büchner einst Streit über Wahlcensus mit ihm hatte. Büchner meinte, in einer gerechten Republik, wie in den meisten nordamerikanischen Staaten, müsse jeder ohne Rücksicht auf Vermögensverhältnisse eine Stimme haben, und behauptete, daß Weidig, welcher glaubte, daß dann eine Pöbelherrschaft, wie in Frankreich, entstehen werde, die Verhältnisse des deutschen Volks und unserer Zeit verkenne. Büchner äußerte sich einst in Gegenwart des Zeuner sehr heftig über diesen Aristokratismus des Weidig, wie er es nannte, und Zeuner beging dann <426> später die Indiscretion, es dem Weidig wieder zu sagen. Hierdurch entstand ein Streit zwischen Weidig und Büchner, welchen ich beizulegen mich bemühte und welcher die Ursache ist, daß ich diese Einzelheiten behalten habe etc.“

Überlieferung
Druck: Friedrich Noellner, Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig, 1844, S. 420–426. Der Teil: „Vorgelegt wird die Flugschrift“ bis „legitimirt werde, durchgestrichen habe“, leicht gekürzt auch als Handschrift: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Criminalia, Nr. 11781, fol. 104 f.; der Teil „Später hat Weidig eine neue Auflage“ bis „in andere Hände gekommen sein“ auch als Handschrift: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Criminalia, Nr. 11781, fol. 110 f. (vgl. MBA II.2, S. 86–91).
Noellner zitiert einen Ausschnitt des Verhörs vom 4. Juli 1837 fälschlich unter dem Datum 1. September 1837.