Hans Otto Rößer


Warum ist Danton müde? Büchners Danton zwischen heroischen Subjektillusionen und der Zermürbung seines Handlungswillens

(Als Vortrag gehalten auf der Jahrestagung der Georg Büchner Gesellschaft e.V., 1. November 2014. Die längere Fassung des Textes wird demnächst im Georg Büchner Jahrbuch erscheinen.)

 

 

Kaum ist der Vorhang hochgezogen, sind wir schon mitten in der Sache: Vier junge Männer um einen Spieltisch planen große Dinge: die Beendigung einer Revolution und ihre Überführung in eine Republik. Sie haben aber noch nicht einmal mit der Verwirklichung ihres Plans begonnen, da ist das Spiel schon aus. Um es in Ulrich Ports umgänglicher Formulierung zu sagen: Die Handlung des Dramas „verläuft sich […] irgendwann im dritten Akt.“ [1] Dazwischen kommt dem Helden der Handlungswille abhanden. Er wird zermürbt, der Held ist müde. Ich frage: Warum ist das so?

Vorab bemerke ich, ohne dies hier weiter ausführen zu können: Die handlungslähmende Müdigkeit Dantons kann weder abstrakt aus der antagonistischen Form bürgerlicher Vergesellschaftung noch aus der über die Individuen hinausgehenden Erhabenheit der Revolution oder dem „grässlichen Fatalismus der Geschichte“ abgeleitet, ihr Grund muss allein im konkreten Vermittlungszusammenhang der dramatischen Konstellation und ihrer Kollisionen gesucht werden.

Das Ineinandergehen von Quasi-Dokumentarischem und Kunstfiguren, von historiographischen und ästhetischen Figurationen erfordert neben hermeneutischer Aufmerksamkeit auch eine Aufmerksamkeit im Blick auf die „historischen Voraussetzungen“[2] des Stücks. Dies und die Vermeidung „vorschneller Deutungen“ verlangt ‚das Stück‘ selbst seinem Publikum ab, weil es seine expositorischen Elemente, die Geschichte der Revolution, immer schon als Objekt von Deutungskämpfen inszeniert (3. Bürger I, 2, Repl. 58; St. Just II, 7, Repl. 370; Danton III, 4, Repl. 436, 438). Diese Aufforderung enthalten auch Repliken wie der folgende Einwand Dantons gegen Robespierre: „Wo die Nothwehr aufhört fängt der Mord an, ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Tödten zwänge.“ (I, 6; Repl. 174) Deutlich wird, dass Danton zwischen zwei Phasen des Terrors unterscheidet, einer ersten, die auch er als „Nothwehr“ rechtfertigt, und einer zweiten, in der spätestens im Moment der Handlungszeit des Stücks der Terror diese Legitimation verloren hat. Worin Dantons Grund gegen die Fortführung des Terrors besteht, wird nicht gesagt. Die Zuschauer müssen ihn finden und prüfen.

Ich beginne mit einer Skizze der historischen Voraussetzungen des Stückes.

1. Endspiele: Krise des Jakobinismus

Thema des Stückes ist die Krise des Jakobinismus. Diese Krise ist das Resultat seines außerordentlich großen und schnellen Erfolgs. Es geht also nicht um eine angebliche Krise der Revolution. Pointiert gesagt: Weil es der Revolution seit Anfang des Jahres 1794 relativ gut geht, geht es dem Jakobinismus sehr schlecht. Er ist aus Sicht der Nutznießer der Revolution überflüssig geworden. Die Jakobiner können gehen.

1792/93 laufen die Girondisten in die selbstgestellte Falle des von ihnen angezettelten Krieges, aus der sie vor allem aufgrund ihrer Klassenvorurteile nicht herauskommen; sie werden zwischen Invasion und sozialen Unruhen zerrieben. Unfähig, die Revolution zu verteidigen, proklamieren sie – nicht als erste – das Ende der Revolution. Indem die Jakobiner erkennen, dass beide Probleme nur gelöst werden können, wenn man sie verknüpft, erringen sie sowohl im Konvent als auch in den sozialen Bewegungen der Sansculotten die Hegemonie. Die Invasionstruppen und die innere bewaffnete Konterrevolution können nur besiegt werden, wenn es der Bourgeoisie gelingt, für diese Ziele die nicht-bürgerliche Mehrheit der Bevölkerung zu mobilisieren, und dies gelingt nur, wenn man ihr soziale Konzessionen macht, wenn die Leute etwas zu essen haben. Es geht also einmal schlicht um ein Nutzenkalkül und keiner ist geeigneter diese Rechnung der Konventsmehrheit aufzumachen als Danton. Er preist die Zwangsanleihen für die Reichen zur Finanzierung der Revolutionsarmeen als doppelte Versicherungsleistung an, die nach dem Sieg der Revolution und der Begründung der Republik zu einer satten Auszahlung führt:

„[M]an wird sagen, durch die Besteuerung der Reichen sei das Eigentum verletzt worden. Die Reichen! Es kann ihnen nur von Nutzen sein, wenn man Abgaben von ihnen verlangt. Für die großen Besitzer, die großen Kapitalisten ist es ein wirklicher Vorteil, wenn sie große Opfer mit dem Ergebnis bringen, dass der Feind nicht in unser Territorium eindringt. Je größer das Opfer, je mehr wird das Eigentum geachtet und bewahrt; das ist doch ganz klar. […] Genügend Vorteile bleiben dem, der vom Schicksal begünstigt ist, und wenn er erst einmal sehen wird, […] dass der Mann des Volkes, der die Republik will und mit Talent geboren ist, auch ein Recht auf Besitz hat, dann wird der Reiche, da er nun nicht mehr um seinen Besitz fürchtet, sich notwendig der Revolution anschließen. Die Gesellschaft ist dann vollkommen, wenn Freiheitsdrang und Vernunftprinzipien sich vereinigt haben.“

In der Tat: „Nachdem wir sie gegründet haben, diese Freiheit, werden wir sie zu verschönern wissen.“[3]

Die von Danton angesprochene Vereinigung von Freiheit und Vernunftprinzipien ist innerhalb der Heterogenität des jakobinischen Blocks die Spezialität Robespierres. Zwar kennt dieser durchaus die utilitaristische Dimension des jakobinischen Diskurses und scheut sich keineswegs, damit dem „wirksamen Pragmatismus“[4] der Montagnards zum Durchbruch zu verhelfen, aber er unterstellt ihn einem sozial-transzendenten Wertehimmel, dessen Zentralgestirn die Tugend ist. Die Tugend ist bei Robespierre ein eminent politischer Begriff.[5] Sie definiert ein politisch wie ökonomisch gefasstes „Gemeinwohl“, in dessen Namen die sozialen Antagonisten im Konfliktfall auf die Durchsetzung ihrer je partikularen Interessen zu verzichten haben, während eine ökonomische Interessenpolitik, die die Einhegung durch dieses Regulativ verweigert, das Verdikt des Egoismus trifft. Es geht also nicht um eine Revolution der sozialen Verhältnisse, keinesfalls um eine über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hinausweisende „soziale Revolution“, sondern eher, wenn auch nicht ausschließlich, um eine „Revolutionierung der Haltungen“, die allerdings allein schon geeignet war, ein beträchtliches bürgerliches Aggressionspotenzial gegen die Jakobiner zu erzeugen, das sich auch sofort in dem Moment entlud, als die Jakobiner, überflüssig geworden, entmachtet waren.[6] Diese Bearbeitung erlaubt es den Jakobinern, die feuillantistischen oder girondistischen Blockaden durch die Imaginationen eines „unvernünftigen“, „vandalischen“ Volkes zu vermeiden, ohne sich den Sansculotten und ihren „enragierten“ Ideologen und Politikern auszuliefern. Über das empirische Volk legen die Jakobiner eine „Soll-Identität“ des Volkes, die es im wirklichen Volk zu verankern gilt.[7] Egal ob arm oder reich, „vernünftig“, „tugendhaft“ ist das Volk dann, wenn es sich der Lenkung durch die Politik des jakobinisch definierten „Gemeinwohls“ unterstellt.

Der bewaffnete „Arm“ dieser Tugend ist neben der Revolutionsarmee der Terror auf der Grundlage des am 10. März 1793 errichteten Revolutionstribunals und des Dekrets über gegenrevolutionären Aufruhr vom 19. März 1793. Am 5. September 1793 setzt der Konvent unter dem Druck der Sansculotten den Schrecken auf die Tagesordnung, am 17. September kommt das Gesetz über die Verdächtigen hinzu, mit dem der „Große Terror“ beginnen soll.[8] Aber erst ab Mitte November 1793 steigt die „Kurve der Exekutionen“ sprunghaft an, erreicht im Januar 1794 mit über 3.500 Todesurteilen ihren absoluten Höhepunkt, um dann im Februar auf 800 und im März auf 600 abzufallen. Dass der Terror, gemessen am Zeitpunkt seiner Institutionalisierung, mit dieser Verzögerung einsetzt, liegt daran, dass erst ab Oktober die Aufstände in Lyon und um Toulon niedergeschlagen werden, am 23. Dezember schließlich der Aufstand in der Vendée. In den von diesen Aufständen betroffenen Departements finden die meisten Hinrichtungen statt, insgesamt 71% der von Donald Greer ermittelten und statistisch untersuchten 16.594 Hinrichtungen, davon 76% aufgrund von Rebellion und Hochverrat. [9]

 

Aufstände der Gegenrevolution während der Französischen Revolution 

 

Hinrichtungen während der Französischen Revolution nach Regionen

 

Mit dem Sieg über die innere und äußere Bedrohung werden die Fliehkräfte des jakobinischen Blocks stärker als die integrative Kraft des robespierristischen Zentrums; der Jakobinismus zerfällt. Hier setzt Büchners Stück ein.

2. Die Robespierristen: Die Einsamkeit des „Hauptquartiers“

Es scheint so, als stehe die Revolution erneut vor einem Knotenpunkt, geschnürt aus den widerstreitenden Interessen derer, die sie beenden, und derer, die sie sozial und politisch erweitern wollen. Aber dieser Schein trügt. Gewiss, der St. Just des Stückes entwickelt seinen Satz vom Praktisch-Wahr-Werden sich entwickelnder menschlicher Gleichheit an den „Interpunctionszeichen“ bisheriger Knotenpunkte des revolutionären Prozesses und eröffnet die Aussicht: „Wir werden unserm Satze noch einige Schlüsse hinzuzufügen haben […].“ (II,7; Repl. 370). Und Robespierre sekundiert mit der Bemerkung: „ Die sociale Revolution ist noch nicht fertig […].“ (I, 6; Repl. 175) Aber: hat sie denn überhaupt begonnen? Wo wurde, real und im Stück, der Horizont der politischen, nämlich bürgerlichen Revolution überschritten und wie soll eigentlich die Vollendung dieser sozialen Revolution aussehen, wenn das Sanktuarium des „Eigenthums“ ihr A und O ist (Robespierre I, 3; Repl. 99)? Dazu sagen Robespierre und St. Just im Stück nichts. Was sich dem Satz von der zu vollendenden sozialen Revolution anschließt: „Die gute Gesellschaft ist noch nicht todt, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dießer nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das Laster muss bestraft werden, die Tugend muss durch den Schrecken herrschen“(Repl. 175), ist trotz Verwendung von Wortmaterial des Autors bruchlos in den oben analysierten jakobinischen Diskurs der Tugend und des idealisierten Volkes eingebettet. Die frappierende Diskrepanz zwischen der Proklamation einer Weiterführung der Revolution und dem Fehlen jeglicher politischer Konkretisierung ebenso wie Robespierres Bereitschaft, sich auf Dantons entpolitisierten Tugend-Diskurs einzulassen und ihm zu folgen, zeigen nicht nur, dass die „ideologische Logik“ des Jakobinismus in „einer gesellschaftlichen Leere“ angelangt ist[10], sondern auch in der Politik erfährt das „robespierristische Hauptquartier […] die Einsamkeit der Macht“.[11] Büchners Robespierre erkennt und bekennt, „ich bin allein“ (I, 6; Repl. 213).

Während die Dantonisten den Hegemonieverlust auf Seiten des Bürgertums artikulieren, erfährt Robespierres Rede von der angeblich noch zu vollendenden sozialen Revolution ihre schärfste Beleuchtung „von unten“ durch die Darstellung der Revolutionsentwicklung in der Replik des 3. Bürgers. Sie ist auch formal das exakte Gegenstück zu St. Justs Revolutionserzählung. Gegen dessen Narrativ der Revolutionsgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Gleichheit hält der 3. Bürger die Einsicht:

„Sie haben uns gesagt: schlagt die Aristocraten todt, das sind Wölfe! Wir haben die Aristocraten an die Laternen gehängt. Sie haben gesagt: das Veto frißt euer Brot; wir haben das Veto todtgeschlagen. Sie haben gesagt: die Girondisten hungern euch aus; wir haben die Girondisten guillotinirt. Aber sie haben die Todten ausgezogen, und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. […] Fort! Todtgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!“ (I,2; Repl. 58)

Noch einmal: Sie haben gesagt, die Girondisten hungern euch aus – dieses „Sie“ schließt Robespierre und St. Just mit ein! Der 31. Mai/ 2. Juni 1793 ist für diesen Sansculotten kein Beginn eines noch nicht abgeschlossenen, offenen Prozesses zunehmender Gleichheit, sondern abgeschlossene, vollendete Gegenwart, die für das „Volk“ als ebenso enttäuschungsträchtig bilanziert werden kann wie die Entwicklung nach den vorausgegangenen „journées“.

Die Revolution war und ist – trotz aller Beiträge der Sansculotten zu ihrer Radikalisierung und der Erweiterung ihrer sozialen Basis – eine bürgerliche Revolution, keine Revolution des Volkes. In der Sprache des deutschen Jakobiners und Kantianers Johann Benjamin Erhard formuliert: Sie war und ist eine Revolution, „die nur vermittelst des Volks durchgesetzt wird“. Das Volk „ließ sich zu einer Revolution gebrauchen“, deren Früchte dann andere geerntet haben.[12]

In diesem Kontext erfährt auch der Terror eine doppelte Veränderung. Nachdem die Zahlen der Hingerichteten von Januar/ Februar bis Mitte März deutlich zurückgehen, liegen die Exekutionen – jetzt fast nur noch in Paris – bei 1200 im April, um nach einem Rückgang bis Mitte Mai wieder kontinuierlich auf 1400 bis zum Thermidor zu steigen. Zudem hat nun der Terror eine andere Funktion: Er ist nicht mehr ein Moment der Abwehr der Rebellion, sondern dient, angesichts des Zerfalls der sozialen und politischen Basis des Jakobinismus, dazu, die aus ihr hervorgehende Opposition zu unterdrücken. Der Terror wird „zum ausschließlichen Instrument“ der Machterhaltung „des robespierristischen Clans“.[13]

 

Hinrichtungen während der Französischen Revolution

 

Greer (s. Anm. 9), S. 113

 

3. Die Dantonisten: Rationale Analyse und irrationale Hoffnung

Anders als der „clan robespierriste“ wissen die Moderaten durchaus, was sie wollen: „Die Revolution muß aufhören, und die Republik muß anfangen.“ In dieser Republik soll jeder „sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können“, begrenzt allein durch die Freiheitsrechte der anderen. Materielle Unterschiede zwischen den so gleichberechtigten Individuen gehen „den Staat nichts an“, sie sind vorpolitisch vorausgesetzt und kein Gegenstand der Politik (Hérault, I,1; Repl. 22). Diese Konsequenz wird von Camille poetisch überhöht: „Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand seyn, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. […] Die Gestalt mag nun schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist; wir sind nicht berechtigt, ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden.“ (I, 1; Repl. 23) Ersetzt man die Beispiele vorpolitischer Differenzen durch andere, landet man beim ‚Recht‘ auf Armut. Kurz gesagt: Die Dantonisten präsentieren ein „Manifest bürgerlicher Privatheit“, ein „ultraliberales“ Programm.[14]

Dass dieses Programm nicht nur den „Riss“ zwischen Arm und Reich[15] voraussetzt, sondern ihn, im Falle seiner Verwirklichung, reproduziert, ist den Dantonisten durchaus klar. Es geht nicht nur um Differenz, sondern der Genuss der einen basiert auf der Armut und Entsagung der vielen. Sie, die Reichen, die „Spitzbuben“, kaufen, so die Anklage des 1. Bürgers, „das Fleisch unserer Weiber und Töchter“, die der Hunger zur Prostitution zwingt (I ,2; Repl. 23).[16]

Da die Dantonisten dieses „Kainszeichen des Aristocratismus“ tragen, ihr Wohlstand „auf Ausplünderung des Volkes“ beruht, da für sie „die Republik eine Speculation und die Revolution ein Handwerk“ war (Robespierre, I, 3; Repl. 99), können sie ihre Einsicht darin, dass der Terror dem Volk nicht hilft, politisch nicht zur Mobilisierung des Volkes gegen die Revolutionsregierung wenden. Zwar gehört diese Einsicht neben dem Vorwurf, „Robespierre, St. Just und ihre Henker“ betrieben die Geschäfte der „Fremden“ und machten sich des Hochverrats schuldig, zum rhetorischen Arsenal der Verteidigung Dantons vor dem Revolutionstribunal; Danton bekommt von den Zuhörern lauten Beifall, als er ihnen vorhält: „Ihr wollt Brod und sie werfen Euch Köpfe hin! Ihr durstet und sie machen euch das Blut von den Stufen der Guillotine lecken.“ (III, 9; Repl. 528) Aber diese Demagogie ist zu schwach, um den „furchtbaren Hebel“ des materiellen Elends des Volkes betätigen zu können (Lacroix, I, 5; Repl. 157), ihr wird vor dem Gerichtssaal mit einem einfachen argumentum ad hominem der Wind aus den Segeln genommen:

„Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau, er badet sich in Burgunder, ißt das Wildbret von silbernen Tellern und schläft bey euern Weibern und Töchtern, wenn er betrunken ist. Danton war arm, wie Ihr. Woher hat er das Alles? Das Veto hat es ihm gekauft, damit er ihm die Krone rette. Der Herzog von Orleans hat es ihm geschenkt, damit er ihm die Krone stehle. Der Fremde hat es ihm gegeben, damit er Euch Alle verrathe. Was hat Robespierre? Der tugendhafte Robespierre. Ihr kennt ihn Alle.“ (2. Bürger, III, 10; Repl. 542)

Klugerweise entscheiden sich die Dantonisten deshalb dafür, den Angriff gegen die Robespierristen im bürgerlichen Milieu, im Konvent, zu führen und das mit Forderungen, hinter die man möglichst viele Kräfte vereinigen kann. Die wichtigste ist die nach Einstellung des Terrors. Der Terror hat seine Funktion als „Nothwehr“ verloren, in der er auch von Danton als gerechtfertigt angesehen wird. Nunmehr gilt: „[I]ch sehe keinen Grund, der uns länger zum Tödten zwänge.“ (Danton, I, 6; Repl. 174) Da der Terror mittlerweile nahezu ausschließlich die linken und rechten Fliehkräfte des vormaligen jakobinischen Blockes trifft, könnte die Forderung nach seiner Beendigung ein Maximum an politischem Widerstand in Form einer Negativkoalition mobilisieren. Philippeau formuliert die Ziele: Durchsetzung eines Gnadenausschusses und Wiederaufnahme der ausgestoßenen girondistischen Abgeordneten in den Konvent (I, 1; Repl. 21), Camille fordert Danton auf, in diesem Sinn „den Angriff im Konvent“ zu machen (I, 1; Repl. 23), und Lacroix bedrängt den zögernden Danton hilflos und gegen sein besseres Wissen, „sowohl die vom Thale als die vom Berge“[17] aufzufordern, sich um Danton zu versammeln, verbirgt aber nicht, dass er diese Abgeordnete für „Feiglinge“ hält. Er hofft sogar, „selbst die“ um Danton sammeln zu können, „die man als Mitschuldige Heberts bedroht“ (II, 1; Repl. 218).

Das Zögern Dantons und dieses – von Lacroix aus Hilflosigkeit momentan beiseite geschobene – Wissen beruhen auf der skeptischen Reflexion der für politisches Handeln relevanten Faktoren von Kraft und Zeit.

Dass sich die Gemäßigten nicht auf die Linke stützen können, liegt auf der Hand. Philippeau spricht vage von einem „Irrthum“, den die Dantonisten im Blick auf die Hébertisten begangen hätten (I, 1; Repl. 19), Danton erwähnt etwas präziser, dass ihn die Cordeliers für „Hebert’s Henker“ hielten (II,1, 221). Die Linke ist als eine organisierte Kraft im Parlament oder in den Sektionen nicht mehr vorhanden.

Aber auch mit der genuinen Basis der Gemäßigten ist es selbst aus ihrer Sicht nicht weit her. Als Hérault und Camille ihr hohes Lied auf die wunderschöne Genuss-Republik der Reichen anstimmen, fragt Danton trocken zurück: „Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen?“ (I, 1; Repl. 26), um auf Philippeaus treuherzige Antwort: „Wir und die ehrlichen Leute“ (I, 1; Repl. 27), zu erwidern, man könne diesen Leuten Geld leihen, bei ihnen Gevatter stehen oder seine Töchter an sie verheiraten, das sei dann aber auch alles (Repl. 27). Lacroix nennt sie, wie erwähnt, „Feiglinge“, d. h., Leute, die sich noch unter dem Terror wegzuducken versuchen. Für andere ist Robespierre noch „das Dogma der Revolution“, das nicht ausgestrichen werden darf (Danton, II, 1; Repl. 221). Sarkastisch bilanziert Danton, dass sie allenfalls ‚ihre‘ Huren in den Kampf gegen die „Guillotinenbetschwestern“ schicken könnten (ebd.).

Zu Recht fragt daher Camille, warum Danton unter diesen Bedingungen den Kampf überhaupt begonnen habe. Dantons Antwort mag psychologisch verständlich sein, ist aber fundamental unpolitisch: „Die Leute waren mir zuwider. Ich konnte dergleichen gespreizte Katonen nie ansehn, ohne ihnen einen Tritt zu geben. Mein Naturell ist einmal so.“ (I, 1; Repl. 30) Letztlich offenbart Danton, dass sein Handeln oder Nicht-Handeln nicht auf politischen Überlegungen beruht, sondern seinen Aversionen folgt. Umso schwerer wiegt daher Lacroix’ Vorwurf, durch sein Zögern sein eigenes Leben und das seiner Mitstreiter zu gefährden. Zugleich offenbart diese Auseinandersetzung aber auch, dass alle politischen Überlegungen der Dantonisten auf Dantons Verhalten und die davon erhoffte Wirksamkeit fokussiert sind.

So bewegen sich die Dantonisten zwischen der Überzeugung, dass die Tage des robespierristischen Zentrums gezählt sind (IV, 5; Repl. 612), und der Ahnung, dass sie zu früh kommen, von Lacroix paradoxerweise in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, für das Volk seien die Dantonisten „Nachzügler“, also verspätete Girondisten (Lacroix I, 5; Repl. 161)[18]. Die Zuschauer des Stücks kennen noch die andere Perspektive auf den falschen Zeitpunkt: Die Gemäßigten sind verspätete Girondisten und verfrühte Thermidorianer.

In dieser Situation drängen die Gemäßigten Danton immer wieder dazu, zu handeln bzw. eine Entscheidung zu treffen (I, 1; I, 5; II, 1; II, 3). Das gilt vor allem nach Legendres unfreiwilliger Selbstoffenbarung vor dem Jakobinerclub und Robespierres Reaktion darauf. Die einzig rationale Option wäre, aus Paris zu fliehen und in sicheren Verstecken zumindest eine weitere Zuspitzung der Krise des Jakobinismus abzuwarten. Diese Option wird allein Danton angetragen, niemals wird ein Untertauchen der gesamten Gruppe auch nur in Erwägung gezogen.

Danton weist diese Option mit zwei Argumenten zurück. Das erste ist pathetisch, es ist die rhetorische Frage: „Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?“ (II, 1; Repl. 228) Das wäre das Modell Lafayette, der am 20. August 1792 über die Grenze geflohen war und von den Österreichern fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde, wodurch sie ihn, wie Michelet süffisant anmerkt, rehabilitierten.[19] Dagegen steht aber die Möglichkeit, die wahrzunehmen einigen der unter Haftbefehl stehenden girondistischen Abgeordneten gelungen war: die Flucht in ihre Heimat-Departements und im „Vaterland“ bleiben.

Dantons Replik ist also nicht gerade zwingend. Falsch ist auch das Pathos dieser Antwort. Dass Danton zumindest in der Situation, in der er sich aktuell befindet, das „Vaterland“ irgendetwas bedeute, kann aufgrund des gesamten Szenenaufbaus bestritten werden. Als Philippeau angesichts der resignativen und unpolitischen Haltung Dantons an seinen Patriotismus appelliert: „Und Frankreich bleibt seinen Henkern?“ (II, 1, Repl. 225), wird er mit einer zynischen Antwort abgefertigt, deren Paraphrase sich in der St. Just-Rede wiederfindet: „Was liegt daran? Die Leute befinden sich ganz wohl dabey. […] Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben?“ (Repl. 226).

Die „Hauptsache“, die aus Dantons Sicht eine Flucht überflüssig macht, ist aber, dass „sie“ (die Revolutionsregierung und die Konventsmehrheit) es nicht wagen würden, nämlich ihn anzutasten, d. h. ihn festnehmen und letztlich hinrichten zu lassen.[20]

Als Danton diese Selbstberuhigung zum ersten Mal äußert, konfrontiert ihn Lacroix mit der Einsicht: „Danton, du bist ein todter Heiliger; aber die Revolution kennt keine Reliquien […].“ (I, 5; Repl. 159) Danton wehrt diese Einsicht zunächst noch ab: „Sie hatten nie Muth ohne mich, sie werden keinen gegen mich haben; die Revolution ist noch nicht fertig, sie könnten mich noch nöthig haben […].“ (I, 5; Repl. 166) Die Replik ist umso merkwürdiger, als das Programm der Gemäßigten gerade darin besteht, die Revolution zu beenden. In der Diskussion über das politische Vorgehen der Dantonisten weist Danton jedoch Lacroix’s Überlegungen und Vorschläge dazu, wie Danton eine Offensive einleiten und anführen könnte, mit eben dieser Erkenntnis zurück: „Du hast ein schlechtes Gedächtniß, du nanntest mich einen todten Heiligen. Du hattest mehr Recht, als du selbst glaubtest. Ich war bey den Sectionen, sie waren ehrfurchtsvoll, aber wie Leichenbitter. Ich bin eine Reliquie und Reliquien wirft man auf die Gasse, Du hattest Recht.“ (II, 1; Repl. 219), um dann doch sein „Sie werden’s nicht wagen“ zu wiederholen (Repl. 228).

So ist Dantons Position in einem hohen Maße inkonsistent. Sein „Patriotismus“ changiert zwischen Pathos und Zynismus[21], Ansätze einer realistischen Lageanalyse werden immer wieder zunichte gemacht durch die Imagination seiner selbst als großes, selbst seinen aktuellen Gegnern unentbehrliches Subjekt, durch eine Illusion, die weder kritische Hinweise von Lacroix und anderen noch eigene Erfahrungen noch eine Reflexion des bisherigen Revolutionsverlaufs erschüttern können. In der Immunisierung dieser Illusion gegen Reflexion und Erfahrungsdruck bestärkt ihn zugleich seine nächste Umgebung. In ihrer Hilflosigkeit richten seine Mitstreiter ihre Überlebenshoffnungen auf den wunderwirkenden Eingriff des politischen Genies. Deshalb verschwenden sie ihre ganzen Energien darauf, gegen Dantons Melancholie anzukämpfen. Nur eingebettet in diese sinn- und ergebnislosen Aktivitäten und Diskussionen, nur eingebettet in ihre falschen Hoffnungen können sie die Erkenntnis ihrer aussichtslosen Lage zulassen, im Schwebezustand zwischen Explizitheit und Ahnung sowie Relativierung und Verdrängung. Hier ist die Wahrheit der widersprüchlichen und sich im Kreise drehenden Diskussionen zu suchen und zu finden. Es geht nicht um Logik und es geht nicht mehr um Politik, sondern um Hoffnungslosigkeit und Tod. Die Klügsten der Gruppe muten sich und den anderen diesen Subtext als erste zu. In der ersten Bilanz ihrer Lageanalyse, die zugleich die letzte Bilanz von Handlungsmöglichkeiten ist, die die Gruppe vor ihrer Verhaftung als Gruppe zieht[22], lässt Danton den Satz fallen: „[W]ir stehen imer auf dem Theater, wenn wir auch zulezt im Ernst erstochen werden“ (II. 1; Repl. 226). Es geht nur noch um die erhabene Ästhetisierung der letzten Schritte und Worte. Auch Lacroix beendet seine Replik mit einem Appell, der die von ihm selbst reproduzierten Illusionen hinter sich lässt: „Laßt uns wenigstens nicht entwaffnet und erniedrigt wie der schändliche Hebert sterben.“ (Repl. 218) Diesen Gefallen wird ihnen Danton tun und auch Büchners Stück wird ihnen diesen Gefallen erweisen.

4. Dantons Ruhm und Tod

Neben der genannten Zurückweisung der Aufforderung zu fliehen gibt es noch eine zweite. Danton teilt Camille mit, dass er vor seiner bevorstehenden Verhaftung gewarnt und ihm ein Zufluchtsort angeboten worden sei. Als Danton Camilles Optimismus, dass es noch Zeit sei, um etwas zu unternehmen, zurückweist und dieser ihm „Trägheit“ vorwirft, antwortet Danton: „Ich bin nicht träg, aber müde. Meine Sohlen brennen mich.“ (II, 3; Repl. 298) Nachdem sich seine erste Zurückweisung der Aufforderung zu fliehen als schlecht begründet herausgestellt hat, bleibt also die Frage: Warum ist Danton müde?

Es ist nicht das Gefühl der Verbrauchtheit, das den historischen Danton im Frühsommer 1793 befällt, eine Müdigkeit, die den wohlhabend gewordenen Bourgeois und den „glücklichen Ehemann eines blühenden Glücks“ dazu verleitet, sich eine „Verschnaufpause“ zu gönnen.[23] Der Danton des Stückes spielt auf diese kurze Phase mit der Bemerkung an „Ich wollte mir’s bequem machen“ (II, 1; Repl. 221). Diese Müdigkeit liegt hinter ihm. Also noch einmal die Frage: Warum ist der Danton des Stückes jetzt, in der gespielten Zeit Ende März 1794, müde?

Einen ersten Hinweis kann man in Robert Musils Kritik der Aufführung des Stückes in Wien am 22. Mai 1921 finden: „Das ist der Überdruß eines Menschen an der Routine der Politik, aber zugleich der Überdruß eines Menschen an der Routine des Menschseins.“[24] Der doppelt gebrauchte Begriff der Routine führt zurück auf das Programm der Dantonisten, den revolutionären Ausnahmezustand zu beenden und in den ruhigen Fahrwassern einer kommoden Republik das Leben von Reichen zu genießen.

Das, was die Dantonisten freisetzen wollen, Verkehrsformen einer Gesellschaft ungehemmter privater Aneignung, wird von den Figuren des Stücks wie in der Reflexion Musils in der Perspektive eines nicht nur seiner politischen Bestimmungen entkleideten, scheinbar monadischen „Menschen“ gefasst. Auch das ökonomische Leben wird konsequent in einem vorgeschichtlichen Raum angesiedelt. So ist der „Mensch“ unter dem gekonnt Blößen freigebenden Gewand der bürgerlichen Republik der Dantonisten nur noch homme, und noch problematischer l’homme nu, der nackte Mensch.[25] Anders als im „geistigen Tierreich“, das für Marx der Feudalismus ist[26], anders als bei den „thierähnlichen Unterthanen“ der Despoten, von denen Robespierre spricht (I, 3; Repl. 99), wird hier die „egoistische Triebnatur der Menschen“[27] in eine chaotische Welt hinein (Danton, IV, 5; Repl. 630) freigesetzt, in der sie sich nur dadurch geltend machen kann, dass sie sich durchsetzt (Hérault, I,1, Rep. 22). Den „nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich“, auf die Camilles geträumte Staatsform bisweilen und gewollt den Blick freigibt, entsprechen freilich bei den weniger vom „Schicksal“ Begünstigten die „Löcher in den Jacken“, die „nackten Beine“, das „Fleisch unserer Weiber und Töchter“, die es ‚offenbaren‘, wie es sich der bürgerliche Kunde schönredet, also feilbieten müssen (1. und 3. Bürger, I, 2; Repl. 57, 58; Lacroix, I, 5; Repl. 127). Die Menschen sind Dickhäuter und Doggen, vor dem Zerrspiegel der Moral werden sie Affen, die verkennen, dass die einzige Sünde der Schmerz, das einzig Laster das Leid ist, und wenn die Masken der Tugend, des Witzes und des Heldentums fallen, sieht man einen „uralten, […] unverwüstlichen Schaafskopf“ (Danton I, 1, Repl. 3; Lacroix I, 5, Repl.125 sowie Mercier II, 1, Repl. 391; Danton I, 6, Repl. 178; Laflotte III, 5, Repl. 461; Camille IV, 5, Repl. 622). Die kognitiven Fähigkeiten, die der Durchsetzung der Natur dieser merkwürdigen Zwischenwesen dienen, reichen vom Nachtwandeln (Robespierre I, 6; Repl. 185) bis zu einer Vernunft als „Citadelle“ des Subjekts, aus der es „mit der Kanone der Wahrheit“ hervorbricht und seine Feinde ‚zermalmt‘ (Danton, III, 9; Repl. 523). Es bedarf aber neben der instrumentellen Vernunft bisweilen auch des „Sinns des Tiegers“ (Bürger IV, 2; Repl. 546), denn die „Menschheit“ frisst „im ewigen Hunger ihre eignen Glieder“, die Menschen saugen „in unlöschbarem Durst einander das Blut aus den Adern“ (Camille II, 1; Repl. 222). „Man arbeitet heutzutage alles in Menschenfleisch“, meint Danton und fügt hinzu: „Mein Leib wird jetzt auch verbraucht.“ (III, 3; Repl. 426) Nicht nur Paris und nicht nur Paris im Frühsommer 1794 ist „eine Schlachtbank“ (Der Gefangne III, 3; Repl. 424).

In diesem vorgeschichtlichen Zwischenreich einer Republik des Fressens und Gefressenwerdens, des Genießens und Vernutzens gibt es eines nicht: Es gibt keine Entwicklung. Das Leben der Menschen vollzieht sich in einem quasi naturgeschichtlichen Kreislauf: „Das ist sehr langweilig immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends in’s Bett und Morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehens wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig […].“(Danton, II, 1; Repl. 215; ähnlich Repl. 221) Noch mehr im Sinne eines kreatürlichen Reduktionismus formuliert Camille: „Schlafen, Verdaun, Kinder machen das treiben Alle; die übrigen Dinge sind nur Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nemliche Thema“ (Camille IV, 5; Repl. 622), kulturelle und politische Vermittlungen sind nichts weiter als „geniale Grimassen“, das Leben der Weg „von einem Misthaufen auf den anderen“, im Vergleich zum Tod nur „eine verwickeltere, organisirtere Fäulniß“ (III, 7; Repl. 511, 517). Dass dies alles, wie Danton an anderer Stelle behauptet, „ein Gefühl des Bleibens in mir“ erzeugt, ist wenig glaubhaft.[28] Im Gegenteil: Dieser Lebensüberdruss ist Ursache seiner Müdigkeit. Das Ankommen in einer solchen Gesellschaft wäre ein So-dahin-Leben, die Normalität eines behaglichen chronischen Unglücks.

Aber die Erotik? Könnte sie nicht gegen das Gefühl des Überdrusses Bindungskräfte entwickeln, das „Gefühl des Bleibens“ in Danton stärken? Nein, denn Danton ist alles andere als ein begnadeter Erotiker. Marion attestiert ihm: „Danton, deine Lippen haben Augen.“ (I, 5; Repl. 119) Der erogene Nahsinn, dessen Organ die Lippen sind, wird in dieser Formulierung nicht nur vom Distanzsinn des Sehens dominiert, sondern durch ihn ersetzt. Die Empfindungsfähigkeit geht verloren.[29]

Dieser „kalte Augensinn“ ist auch der kerligen Redeweise vom „Mosaik“-Machen Dantons unterlegt (Lacroix I, 4; Repl. 114). Die Frauenleiber sind die Fragmente, das Material, mit dem sich der „Mosaik“-Macher das Bild vollendeter Schönheit zusammenlegt, das es natürlich nicht für die „Fragmente“, sondern allein für den distanzierten männlichen Blick gibt, der damit zugleich auch zum eigenen Begehren auf Distanz geht, es ästhetisiert. Nicht zufällig kehrt diese Figur radikalisiert am Ende des Stücks, im letzten Gespräch der Dantonisten vor ihrem Abtransport zum Revolutionsplatz, wieder. Doch jetzt sind sie selbst die Fragmente, deren Leiden sich für distanzierte Sinne, Göttersinne, in Harmonie und Wohlgeschmack verkehrt und den Kreislauf von Leiden und Genießen weitertreibt (IV, 5; Repl. 625–629). Also: Auch die Erotik der Dickhäuter und Voyeure bewahrt Danton nicht vor dem Überdruss und schützt ihn nicht vor seiner „Alleinmüdigkeit“.[30]

Nun kommen die meisten Menschen, die in solchen Zuständen leben, mal gut, mal weniger gut, mit der Freisetzung der „bürgerlichen Gesellschaft in ihrer nüchternen Wirklichkeit“[31] zurecht. Daher muss man Dantons Müdigkeit auch nach der Seite der Politik hin beleuchten. So sehr man nun Musils Beobachtung nach der Seite des Überdrusses an der Routine des „Menschseins“ zustimmen kann, so erörterungsbedürftig bleibt seine These vom Überdruss an der Routine der Politik. Worin hätte diese Routine in Dantons politischer Laufbahn bestehen können, wo kommt sie im Drama zur Sprache?

Politik und Revolution kommen zunächst im Drama zur Sprache als Gegenmittel gegen die Langeweile und den Überdruss, wenn Hérault an Camille gerichtet behauptet, Politik sei für Danton lediglich ein „Zeitvertreib“ (I, 1; Repl. 33, 34). Diese laxe Formulierung unterbietet jedoch, worum es Danton im Ernst geht.

Für das Verhältnis von objektiven Handlungsbedingungen und Subjektivität findet Danton im Stück die klügste Formel: „Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht.“ (II, 1; Repl. 221) Während Robespierre diesen Satz nur als Bekenntnis eines Spekulanten der Politik lesen könnte: wie Kleider Leute, so hat die Revolution aus einem zwar nicht armen, sondern durchaus wohlhabenden Anwalt einen reichen Mann gemacht[32], ist für Danton viel wichtiger, dass die Revolution sein „Schicksal“ ist, dass sie seine ‚gewaltige Natur‘ erkannt und als ihr „Organ“ durchgesetzt hat (III, 4; Repl. 436), sie hat seine Stirn mit dem „Genie der Freiheit“ umgeben und aus ihm einen Kenntlichen gemacht: Sie „nennt [s]einen Namen“ (III, 4; Repl. 434, 430). Seine „Energie“, so Legendre, habe Frankreich 1792 gerettet (II, 7; Repl. 361), und Danton selbst weiß vor dem Revolutionsgericht noch mehr Stationen aufzuzählen, wo seine höchst eigene „Nationalkühnheit“ Geschichte gemacht hat. Sie hat ihn für die Revolution unentbehrlich gemacht, sein Tod wird Frankreich erschüttern: „Ich lasse Alles in einer schrecklichen Verwirrung. Keiner versteht das Regieren. Es könnte vielleicht noch gehn, wenn ich Robespierre meine Huren und Couthon meine Waden hinterließe.“ (IV, 5; Repl. 610) Andererseits aber wird seine „Energie“ sogar über seinen Tod hinaus wirken: „[M]it unsern fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen können.“ (IV, 5; Repl 615) Ein Platz im „Pantheon der Geschichte“ scheint ihm gewiss. Kurzum: Die Revolution hat aus einem wohlhabenden, aber nur wenigen bekannten Anwalt einen begabten Redner, einen risikofreudigen Politiker, eine nationale Berühmtheit und einen Weltstar gemacht.

In diesem Ruhm sieht er die Bestätigung seiner Genialität, die ihm nicht nur von seinen Mitstreitern zuteil wird. Auch seine Feinde sehen ihn so: Barrère sieht in ihm den „hörnernen Siegfried“, den „das Blut der Septembrisirten […] unverwundbar gemacht“ hat (III, 6; Repl. 469). Diese Aura ist so sehr Fundament und Quelle seines Selbstwertgefühls, seines Narzissmus, dass Danton auf nichts empfindlicher reagiert als auf die Gefahr, diese Aura und diesen Ruhm verlieren zu können: „Ich war bey den Sectionen, sie waren ehrfurchtsvoll, aber wie Leichenbitter. Ich bin eine Reliquie und Reliquien wirft man auf die Gasse, Du hattest Recht.“ (II, 1; Repl. 221)

Danton ist seine Rolle. Deshalb sagt Danton, als Lacroix ihm berichtet, Collot habe im Jakobinerclub gefordert, den Verdächtigen die Masken abzureißen: „Da werden die Gesichter mitgehen.“ (I, 5; Repl. 153) Er hätte genauer von seinem Gesicht reden müssen. Im Blick auf das Programm, das er politisch vertritt, hieße das: Seine Verwirklichung, so er sie erlebte, wäre Dantons sozialer Tod. Egal ob er in der Politik bliebe oder privatisierte, er verlöre sich als den, den die Revolution aus ihm gemacht hat. Was Danton bestenfalls erwartet hätte, hat der Schriftsteller Sainte-Beuve, der diesen Männern näher war als wir Heutigen, hypothetisch an Barnave ausgeführt: „Unter dem Empire wäre er Graf Barnave geworden. Zwar wäre er in Ehren ergraut, er hätte aber zugleich erleben müssen, wie sein Feuer und Charisma dahinschwinden.“[33] Bei Danton wäre die Fallhöhe größer gewesen.

Aber selbst diese mäßig attraktiven Aussichten wären Danton nicht sicher gewesen. Einige hätten ihm die Mitschuld an der unausweichlichen Guillotinierung der Robespierristen und der ihr folgenden Zerschlagung der Volksbewegung gegeben, die freilich bereits von der Revolutionsregierung geschwächt war. Was aber viel mehr ins Gewicht fällt und nicht nur seinen Nachruhm, sondern ein weiteres Leben unter dem Thermidor und darüber hinaus hätte beeinträchtigen können, ist der „September“, Dantons Rolle bei den Septembrisaden 1792.

Diese ist zunächst weder in seiner Selbstinszenierung noch in der Wahrnehmung seiner Mitstreiter und Feinde ein Problem. Im Gegenteil: In seiner Rolle und für sie sprechend ist Danton, wie könnte es anders sein, der Mann, der „im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristocraten geäzt“ hat (III, 4; Repl. 438), Lacroix macht sich Sorgen, dass der „Mann des September“ als Gemäßigter gilt (I, 6; Repl. 161), Barrères Bewunderung für den durch das „Blut der Septembrisirten“ unverwundbar gemachten „Siegfried“ wurde erwähnt.

Dass es sich noch etwas anders verhält, dass es einen Riss gibt zwischen Dantons Rollenbewusstsein und seinem „Gedächtnis“ erfahren die Zuschauer des Stücks zunächst durch Andeutungen Dantons, die dann zum Abbruch eines Fluchtversuches führen, der seinen Mitstreitern offenbar verborgen bleibt. Auf freiem Feld, auf dem Weg zu einem Ort, der sicher sein soll, reflektiert Danton über sein „Gedächtniß“, das ihn quält „und tödtet“, wenn er es nicht im Grab, durch seinen Tod, zum Erlöschen bringt (II, 4; Repl. 312). Heute würden wir sagen, Danton hat ein psychisches Trauma, er leidet unter verselbstständigten Erinnerungspartikeln, die sich nicht ins Gedächtnis integrieren und dadurch steuern lassen. Man kann sie nicht abrufen, sie kommen unangemeldet.

Erst in der nächsten Szene erfährt man, worin dieses Trauma besteht, als Julie Danton aus einem Alptraum weckt und ihm erzählt, er habe im Schlaf von „garstigen Sünden“ geredet und das Wort „September“ gestöhnt (II, 5; Repl. 318). Um Fassung ringend bittet er Julie um Hilfe dabei, ihn auf das feste „Brett“ des politischen Offizialdiskurses zurückzustellen. Gemeinsam verrichten sie die Beruhigungsarbeit der Rationalisierung: „Die Republik war verloren“, „Du hast das Vaterland gerettet“, „Das war Nothwehr“. An dem Erfolg dieser Rationalisierung wird man allerdings zweifeln müssen. Es bleibt für Danton die Spaltung zwischen dem Muss und dem Fluch, dem Ärgernis der Tat. Spricht Danton da, wo er sich mit seiner Rolle eins weiß, so, als befände er sich als „gewaltige Natur“ knapp unter Augenhöhe mit dem „Schicksal“ (s. o.; III, 4; Repl. 436), so klingt es jetzt ganz anders: Aus den „gewaltigen Naturen“ sind „Puppen“ geworden, „von unbekannten Gewalten am Draht gezogen: nichts, nichts wir selbst!“ (II, 5; Repl. 339) Indiziert die Rede von den „gewaltigen Naturen“ als „Organ“ des Schicksals, dass Rolle und Individuum eine Einheit bilden, „dass das Subjekt in dem Objektiven sich selber wiederfindet“[34], redet Danton von sich selbst als „Puppe“ dann, wenn seinem Handeln die „freie Anerkennung“ (Hegel) und libidinöse Besetzung fehlen, wenn Müssen und Wollen auseinanderbrechen. Nicht immer, aber auch nicht selten ist die Offenbarung eines solchen „Identitätskonflikts“ ein Symptom dafür, dass der, der so spricht, die Notwendigkeit dieses Müssens bezweifelt, ohne sich dies eingestehen zu können. Danton hätte Gründe für diesen Zweifel.[35]

Die ersten vier Seiten aus Marx’ „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ finden bisweilen in der Büchner-Forschung Beachtung, vor allem aufgrund der Bemerkungen über die Funktion der „weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen“ in der Französischen Revolution. Weit weniger Beachtung findet eine Bemerkung über den Übergang der bürgerlichen Revolution in die nachrevolutionäre, ausgebildete bürgerliche Gesellschaft. Marx skizziert diesen Übergang als Fall von den Höhen revolutionärer Poesie und als Ankommen in der nüchternen Prosa dieser Gesellschaft, in der „Produktion des Reichtums“ und im „friedlichen Kampf der Konkurrenz“:

„Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang-und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt.“[36]

Ulrich Port gehört zu denen, die sich auf diese Stelle beziehen: „An genau diesem Depressionspunkt der revolutionären Affektbewegung spielt ‚Dantons Tod‘. Nicht allein den Protagonisten hat der Katzenjammer erfasst.“[37] Das wird aber von Port allein an Gebrauch und Verschleiß von Sprach-Gesten festgemacht und nicht weiter ausgeführt.

Marxens Schema kann aber Wesentliches zur Erkenntnis des Protagonisten beitragen. Dantons durchaus kurzer Katzenjammer ist der Kumulationspunkt seiner ihn ermüdenden, seinen Handlungswillen zermürbenden Zerrissenheit: Das, was nahezu hinter ihm liegt, ist das, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Die Revolution ist die rauschhafte Geburt der Berühmtheit Danton, sie hat ihn gemacht und in den verstiegensten Formen seiner Selbstimagination ist er die Revolution. Was er politisch hinter sich bringen muss und will, was unwiederbringlich verloren sein wird, das kann er affektiv nicht loslassen.

Daher muss er das, was vor ihm liegt und was er politisch wirklich will, emotional abstoßen, denn es wäre die Vollendung seines sozialen Todes. Selbst der Abglanz dieses erfüllten Lebens im Respekt der ehrlichen Leute, sein Nachruhm, wäre ihm aufgrund des schwarzen Flecks September nicht gewiss. So ist Danton, um eine konservative Lebensformel umzuwerten, mehr seine revolutionäre Herkunft als seine prosaisch-bürgerliche Zukunft. Um das zu bleiben, was er ist, und das zu werden, was ihm höchstens noch erreichbar ist: eine Reliquie, mit der man Könige erschlagen kann, muss sein sozialer Tod durch den physischen besiegt und besiegelt werden. Dantons Tod rettet Dantons Ruhm.


Anmerkungen

  • [1] Ulrich Port: Vom ‚erhabenen Drama der Revolution‘ zum ‚Selbstgefühl‘ ihrer Opfer. Pathosformeln und Affektdramaturgie in Büchners Dantons Tod“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 123. Band, Jg. 2004, S. 208.
  • [2] Bodo Morave: Faszinosum Saint-Just. Zur programmatischen Bedeutung der Konventsrede in Danton’s Tod (II, 7) von Georg Büchner. Bielefeld 2012, S. 10; zum Verhältnis von Büchners Werk zur Geschichtswissenschaft vgl. jetzt Maud Meyzaud: Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. München 2012 und Julian Kanning: Revolutionsgeschichte schreiben. Formen der Revolutions-Historiographie in Büchners „Dantons Tod“ und französischer Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2013.
  • [3] Georges Danton: Für die Besteuerung der Reichen. Rede im Konvent am 27. März 1793. In: Peter Fischer (Hrsg.): Reden der Französischen Revolution. München 1974, S. 305 f.
  • [4] Mona Ozouf: Die Montagnards. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution. Herausgegeben von François Furet und Mona Ozouf. Bd. 1: Ereignisse, Akteure. Frankfurt a. M. 1996, S. 640.
  • [5] Vgl. Georges Labica: Robespierre. Eine Politik der Philosophie. Hamburg 1994, S. 23 f., S. 30.
  • [6] Am 14. Juni 1793 schreibt Georg Forster über eine französische und Schweizer Kaufmannsfamilie, die er in Paris kennengelernt hat: "Die Notwendigkeit, nicht zu glänzen, sich nicht unterscheiden zu dürfen, macht diese Leute wütend, und dieselbe Ursache, die diese Leute zu Anfang der Revolution zu glühenden Patrioten machte, weil ihre Klasse damals emporkam, macht sie jetzt zu Verschworenen gegen den Staat, wo sie nicht mehr die Aristokratie des Reichtums zeigen können." Georg Forster: Georg Forsters Werke [Akademieausgabe]. Siebzehnter Band: Briefe 1792 bis 1794 und Nachträge. Bearbeitet von Klaus-Georg Popp. Berlin 1989, S. 367.
  • [7]Herbert Bosch: Politik und Moral im jakobinischen Diskurs. In: Projekt Ideologie-Theorie: Der innere Staat des Bürgertums. Studien zur Entstehung bürgerlicher Hegemonie-Apparate im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg 1986 (= Argument-Sonderband 111), S. 101-150, bes. S. 126 und 138.
  • [8] Zu den einschlägigen Quellen siehe Walter Grab (Hrsg.): Die Französische Revolution. Eine Dokumentation. München 1973, S. 133 ff., S. 176 ff.
  • [9] Die Gesamtzahl der Todesopfer schätzt Greer auf 35.000 bis 40.000. – Greers Untersuchungen gelten bis heute als Standardwerk, auf das die Revolutionsgeschichtsschreibung schulübergreifend Bezug nimmt. Donald Greer: The Incidence of Terror during the French Revolution. A statistical Interpretation. Cambridge 1935. (= Harvard Historical Monographs 8). Zur Bezugnahme auf diese Untersuchung: Walter Markov, Albert Soboul: 1789. Die große Revolution der Franzosen. Köln 1980, S. 368; François Furet: Die Schreckensherschaft. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution (s. Anm. 4), Band 1, S. 202 ff.
  • [10] Patrice Higonnet: Zur Begrifflichkeit des Jakobinismus. In: Reinhart Koselleck, Rolf Reichhardt (Hrsg.): Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewusstseins. Vorlagen und Diskussionen der internationalen Arbeitstagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. 28. Mai – 1. Juni 1985. München 1988, S. 218.
  • [11] Michel Vovelle: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten. Frankfurt a.M. 1985, S. 41; Albert Soboul: Kurze Geschichte der Französischen Revolution. Berlin 1980: Die Revolutionsregierung schwebte „gleichsam im Leeren" (S. 97).
  • [12] Johann Benjamin Erhard: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hellmut G. Haasis. München 1970, S. 91 f.
  • [13] Furet: Die Schreckensherrschaft. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution (s. Anm. 4), Band 1, S. 211.
  • [14] Eva Horn: Der nackte Leib des Volkes. Volkskörper, Gesetz und Leben in Georg Büchners Danton’s Tod. In: Beate Fricke u. a. (Hrsg.): Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie. München 2011, S. 250, S. 263 – Bereits älter, aber immer noch einschlägig: Terence M. Holmes: The Ideology of the Moderates in Büchner’s Dantons Tod. In: German Life & Letters 27, 1973/74, S. 93–100 – Nicht integrierbar in diese Deutung scheint Lacroix’s Replik 112 (I, 4) zu sein. Nachdem Legendre vor dem Jakobinerclub die „Leute“ attackiert hat, „die seidne Kleider tragen, die in Kutschen fahren, die in den Logen im Theater sitzen und nach dem Dictionnär der Akademie sprechen", und daraufhin von Collot d’Herbois mit der Bemerkung unterbrochen wird: „Es ist Zeit die Masken abzureißen" (I, 3; Repl. 93, 96), stellt ihn danach Lacroix auf einer Gasse zur Rede: „Was hast du gemacht Legendre […]? […] Du bist ein Selbstmörder […]", und begründet das damit, dass Legendre mit seinen Äußerungen „die Contrerevolution officiell bekannt gemacht" habe (I, 4; Repl. 102, 104, 112). Diese Selbst-Etikettierung widerspricht dem Selbstverständnis der Moderaten und wäre damit nur zu vereinbaren, wenn man sie als ironische Übernahme einer Fremdetikettierung läse.
  • [15] Vgl. hierzu Alfons Glück: Über politische "Grundsätze" Georg Büchners. Der Hessische Landbote und Sätze axiomatischen Charakters in den Briefen. In Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009-2012), S. 56-58.
  • [16] Die "economics of eroticism", die Camilles Programm formuliere, entwerfen "a whole range of pleasures and their unequal distribution" (Terence M. Holmes: The Rehearsal of Revolution. Georg Büchner’s Politics and his Drama "Dantons Tod". Bern u. a. 1995, S. 129). Ebenso spricht Eva Horn (s. Anm. 14, S. 249, 254) von der "ungleichen Verteilung" der Güter, u. a. der Genussmöglichkeiten, und zeigt, dass in dieser Ungleichheits-Ökonomie die einen die anderen "verbrauchen".
  • [17] Abgeordnete der Plaine und der Montagne. Den politischen Kern der aufgrund ihrer erhöhten Sitzpositionen im Konvent so genannten Berg-Partei bildeten die Jakobiner, die auf keine politische Strömung festgelegten Abgeordneten wurden die Ebene oder noch abschätziger: der Sumpf genannt. Die Hegemonie der Jakobiner bestand 1793 darin, diese zahlenmäßig größte Gruppe der Konventsabgeordneten für die Unterstützung ihrer Politik der Kriegsführung und Revolutionssicherung zu gewinnen.
  • [18] Vgl. auch die Äußerung des Konventsabgeordneten in II, 7; Repl. 364 nach dem Bekanntwerden der Verhaftung Dantons (II, 6) zu Legendres Forderung, Danton vor dem Konvent anzuhören, und den Abgeordneten, die diesen Vorschlag unterstützen: "Eure Worte riechen nach Leichen, Ihr habt sie den Girondisten aus dem Mund genommen."
  • [19] Patrice Gueniffey: Lafayette. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution (s. Anm. 4), Band 1, S. 425.
  • [20] Es handelt sich um ein Leitmotiv des Stücks: Dieses „Irrtumsmotiv“, wie es die Erläuterungen der MBA nennen, wird insgesamt viermal von Danton geäußert (I, 5, Repl. 158; II, 1, Repl 228 [dort zweimal]; II, 4, Repl. 312); in III, 1; Repl. 396 in der Vergangenheitsform: "[I]ch dachte nicht, daß sie es wagen würden."
  • [21] Anders die materialistische Skepsis des 2. Bürgers bei der Verhaftung Dantons: "Ich wollte das Vaterland machte sich um uns verdient […]." Sein Verweis auf die Löcher in den Hosen der Sansculotten wird vom 1. Bürger dadurch ausgehebelt, dass er die Löcher der Not mit den "Löchern" des Genuss-Diskurses überschreibt: "Willst du, daß dir dein Hosenlatz zugienge?" (II, 6; Repl. 351, 352)
  • [22] Es fehlt Hérault; Philippeau ist dabei, obwohl er im Personenverzeichnis der Szene nicht erwähnt wird.
  • [23] Mona Ozouf: Danton. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution , Band 1, s Anm. 4, S. 407 und Furet/ Richet: "Jetzt, im Frühsommer 1793, als die militärischen Katastrophen sich jagen, fühlt Danton sich verbraucht." (François Furet, Denis Richet: Die Französische Revolution. München 1981, S. 280).
  • [24] Robert Musil: „Dantons Tod“ von Georg Büchner. Zur Aufführung im Deutschen Volkstheater, Wien [22. Mai 1921]. In: Ders., Gesammelte Werke. Band 9. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1487 – Den Hinweis auf diese Aufführungskritik verdanke ich Dietmar Voss.
  • [25] Vgl. hierzu auch die Kritik an Georges Simenons Rede vom „homme nu“ bei Klaus Inderthal: Selbstgemachte Notwendigkeit. Zur Geschichte und Theorie einer populären Prosa: Detektiv- und Kriminalliteratur. In: Erhard Schütz (Hrsg.): Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München 1978, S. 45 f. – Inderthals kritischer Kommentar gilt folgender Äußerung Simenons aus einem Interview mit Jürgen Altwegg: "Balzac hat sich für den ‚homme habillé, den bekleideten Menschen interessiert, den der Gesellschaft […]. Ich beschäftige mich mit dem ‚homme nu‘, dem nackten Menschen, so wie er selber ist – ob er nun als Bankier Arbeiter oder Metzger tätig ist. […] [D]as ist der Mensch, der uns allen gemein ist […], der Mensch mit nur seinen Grund- und Urinstinkten." (Wir sind alle verkaufte Typen. Die Zeit Nr. 15, 2. April 1976, S. 34) Dies sei, so Altwegg in seiner Einleitung des Interviews, der „Zivilisationsmensch“, dem man alle „Masken“ weggerissen habe (Der Goethe der schweigenden Mehrheit, ebd., S. 33).
  • [26] Karl Marx: Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags. Von einem Rheinländer. Dritter Artikel: Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz (1842). In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 1. Berlin 1972, S. 115.
  • [27] Friedrich Vollhardt: Das Problem der ‚Selbsterhaltung‘ im literarischen Werk und in den philosophischen Nachlassschriften Georg Büchners. In: Burghard Dedner, Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. (= Büchner-Studien, Bd. 6) Frankfurt a. M. 1990, S. 30.
  • [28] Bereits Szondi kommentierte: „Das Gefühl des Immergleichen jedoch, das Danton hier die Fortdauer seines Lebens verbürgt, ist auf tragische Weise dieselbe Langeweile, die ihn aus dem Leben vertreibt.“ Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: Ders.: Schriften I, Frankfurt a. M. 1978, S. 254.
  • [29] Vgl. Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zu Metaphysik des Körpers. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 47 ff., S. 50. – Auf diesen Text hat in der Büchner-Literatur bereits Burghard Dedner hingewiesen: Legitimationen des Schreckens in Georg Büchners Revolutionsdrama. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29, 1985, S. 343-380. Er sieht mit Marions Satz „das Urteil über Dantons erotische Sehnsüchte gesprochen“ (S. 354).
  • [30] Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2010, S. 57. Han entwickelt diesen Begriff aus Handkes Bemerkungen zur „entzweienden Müdigkeit“ (vgl. Peter Handke: Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt a. M. 1992, S. 16). Ihr stellt Handke eine utopische, „richtig menschliche“ Müdigkeit gegenüber: „sie öffnet, sie macht durchlässig, sie schafft einen Durchlass für das Epos aller Wesen, auch dieser Tiere jetzt.“ Diesem müden Blick, der kein Greifen und keine Gier kennt, zeigt sich „das Relative […] absolut, und der Teil als das Ganze.“ (Handke S. 62 und 69).
  • [31] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). In: Marx Engels Werke Bd. 8, S. 116.
  • [32] Danton, der zu Beginn seiner Karriere 5.000 Livres besessen haben soll, hat nach Bluche 1794 ein auf 200.000 Livres geschätztes Vermögen hinterlassen: Frédéric Bluche: Danton. Stuttgart 1988, S. 94.
  • [33] Zitiert bei Furet: Barnave. In: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution (s. Anm. 4), Bd. 1, S. 345 f.
  • [34] Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970, S. 240.
  • [35] Die Geschichtsschreibung ist sich mittlerweile ziemlich einig, dass Danton nicht der Urheber der Septembermassaker war, obwohl er bisweilen selbst diesen Mythos übernommen und damit geprahlt hat. Seine Schuld besteht darin, sie als Justizminister nicht gestoppt zu haben, denn sie gingen keineswegs „vom Volk aus“; die Marodeure waren einige hundert Personen, manche schätzen sie auf 400. Bluche vermutet Opportunismus als Motiv für Dantons Verhalten, es ging um Ruhm: „Auf keinen Fall wollte er aber sein kostbarstes Gut aufs Spiel setzen: seine Popularität.“ (Bluche, s. Anm. 32, S. 176; siehe auch S. 201 und 175).
  • [36] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire … (s. Anm. 31), S. 118.
  • [37] Port (s. Anm. 1), S. 213.