Bodo Plachta

Editionswissenschaft auf guten Wegen: Die Marburger Büchner-Ausgabe

(Als Vortrag gehalten auf der Veranstaltung “35 Jahre Marburger Büchner-Forschung” am 27. Juni 2014)

 

 

1.

Dreißig Jahre ist es her, als im November 1984 die Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners erschien. Diese Denkschrift war zwar nicht der offizielle, doch aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive der sehr wohl wahrnehmbare inhaltliche Startschuss für eine neue Büchner-Gesamtausgabe.1 Gleichzeitig tat man damals einen energischen Schritt in die Öffentlichkeit, wodurch der Projektrahmen und die erforderlichen Planungen konkret wurden und nun zur Diskussion gestellt waren. In der Folgezeit nahm eine leidenschaftliche Debatte an Schwung auf, wie sie in ihrer Heftigkeit wohl sonst nur noch im Falle von Hölderlin- und Kafka-Editionen geführt wurde. Den Debattanten war schnell klar geworden, dass es in Marburg keineswegs bloß darum ging, eine ‚ältere‘ durch eine weitere ‚neuere‘ Edition zu ersetzen. Aber worum ging es dann eigentlich?

Das Büchner verliehene Prädikat eines „widerständigen Klassikers“ sollte sich bei den Diskussionen um die geplante Ausgabe einmal mehr bewahrheiten, denn die Argumente konzentrierten sich weniger auf das ‚Warum‘ als vielmehr auf das ‚Wie‘ einer Edition von Büchners Werk, seiner Schriften und Briefe, wobei der wie auch immer zu definierende korrekte Umgang mit den Quellen ein unerschöpfliches Reservoir für Debattenbeiträge war. Aus der Ferne betrachtet schien es ein notwendiges Streitgespräch um philologische Prinzipien und Verfahren zu sein. Aber dieser Eindruck täuschte. Als Außenstehender und nur einmal gemeinsam mit Rüdiger Nutt-Kofoth als Rezensent der Danton-Bände2 in die unmittelbare Schusslinie Geratener drängte sich vermutlich nicht nur mir unweigerlich der Eindruck auf, dass die geplante Edition bei den turbulenten Debatten als Projektionsfläche für das eigentliche Anliegen diene, wie die Interpretationshoheit über Büchner als politische Person und daran anschließend über die editorische Aufbereitung seines Werks zu erlangen bzw. zu verteidigen sei. Ich will keineswegs in Abrede stellen, dass Editionen im Laufe der Geschichte politisch instrumentalisiert wurden: Schiller-, Heine- oder Nietzsche-Editionen wären hier beispielsweise zu nennen.

Doch im Fall der Büchner-Edition prallten schon immer kontroverse Anschauungen besonders stark aufeinander, die seit den 1970er Jahren in neuer politischer Zuspitzung der Büchner-Forschung sogar auf dem philologischen Feld Spuren hinterließen. Aber diese Diskussionen hatten gerade in ihrer Heftigkeit ebenfalls Tradition, wenn ich nur an einen Brief des ersten Büchner-Editors Karl Emil Franzos denke, der 1876 auf Wünsche Ludwig Büchners nach glättenden Eingriffen in den Danton-Text mit mehr als deutlichen Worten antwortete: Nur „Banausen, Keuschheits-Zeloten, Reaktionäre und beschränkte Dragoner Gottes“ könnten solche Forderungen erheben.3 Dabei war 1984 die Notwendigkeit einer neuen und wirklich textkritischen Edition unbestritten, denn die Mängel und philologisch problematischen Entscheidungen der vorhandenen, auf ihre jeweilige Art durchaus respektablen Büchner-Editionen von Karl Emil Franzos, Fritz Bergemann und Werner R. Lehmann waren bekannt. Obwohl die Marburger Denkschrift nur maschinenschriftlich vervielfältigt wurde und daher bedauerlicherweise nur einem begrenzten Kreis von Editoren zugänglich war, repräsentiert sie paradigmatisch die editorische Diskussion zu einer Zeit, die wir heute als eine „Blütezeit der Editionswissenschaft“ betrachten.4 Burghard Dedner hat diese Zeit sogar als „jungeditorische Revolte“ apostrophiert.5 Die Editoren rebellierten nicht nur gegen ihre Väter, sondern sie trugen ebenso engagiert dazu bei, dass die Editionswissenschaft neben der Literaturgeschichtsschreibung und der Interpretation zu den „disziplinären Kernen der Germanistik“ gerechnet wurde. Die Editionswissenschaft galt bald auch dem hartnäckigsten Nicht-Editor „als das Resultat einer weit zurückreichenden, disziplingeschichtlich zu analysierenden Übereinkunft und damit als Ergebnis einer kulturellen Produktion“.6 Diese Feststellung war zwar erst 2002 in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes zu lesen, unterstrich trotz ihrer Verspätung jedoch, dass sich die Editionswissenschaft längst von einer Hilfswissenschaft, in der – wie gern unterstellt wurde – positivistische ‚Erbsenzählerei‘ oder ‚Faktenhuberei‘ betrieben werde, zu einer eigenständigen philologischen Fachdisziplin emanzipiert und ausdifferenziert hatte. Editoren hatten eine respektable wissenschaftliche Infrastruktur mit eigenen Periodika, fundiert-informativen Einführungen, Buchreihen, soliden Handbuchartikeln und thematischen Sammelbänden aufgebaut. 1986 schlossen sie sich folgerichtig in einer „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition“ zusammen und schufen sehr erfolgreich eine Plattform für den Austausch im eigenen Fach, pflegten aber schon bald auch einen Dialog über die disziplinären und nationalen Grenzen hinweg. Heute arbeiten nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Philosophen, Musikwissenschaftler, Historiker und Kunsthistoriker in der Arbeitsgemeinschaft auf großen Tagungen oder in kleineren Werkstattgesprächen ausgesprochen konstruktiv zusammen. Getragen wurde diese Entwicklung natürlich von bedeutenden langfristig angelegten Editionsprojekten, die mehrheitlich in den 1970er Jahren an den Start gegangen waren. In Erinnerung rufen möchte ich die Editionen, die Klopstock, Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Droste-Hülshoff, Mörike, Heine, Stifter, C.F. Meyer, Hofmannsthal, Trakl, Kafka, Celan und schließlich auch Georg Büchner gewidmet waren. Die Marburger Denkschrift verdankt sich aber nicht allein dieser Aufbruchstimmung, sondern weit eher einem fundamentalen Defizit, das in den 1980er Jahren noch virulent war, heutzutage zwar immer noch nicht ganz beseitigt, doch vielfach in seiner negativen Wirkung abgefedert ist. Man war nämlich mit folgendem Dilemma konfrontiert: Obwohl die wissenschaftlich betriebene Edition auf eine lange Geschichte zurückblicken kann und besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in methodischer und praktischer Hinsicht ihre „Gründerzeit“ und Prägephase erlebt hatte,7 fehlte es an einer „durchgehenden Theoriebildung“ mit der Konsequenz,8 dass auch editionspraktische Operationen weder methodisch noch terminologisch definiert waren. Es gab zwar einen belastbaren Editionspragmatismus, doch die über Jahrzehnte hinweg gewonnenen Erfahrungen und Lösungsansätze hatten allenfalls zu ersten Versuchen geführt, Begriffe wie Fassung, Variante, Autorisation oder Textfehler zu definieren. Erst in den 1950er Jahren hat man durch genauere buchhistorische Untersuchungen festgestellt, wie überfremdet Goethes ‚Ausgabe letzter Hand‘ (1827-1830) war und daher zwar einen autorisierten, doch streckenweise keinen authentischen Goethe-Text bot. Es war also eine fatale Fehleinschätzung, in dieser Ausgabe Goethes „selbstwillige Verfügung“9 repräsentiert zu sehen, um dieses Prinzip dann nicht nur zur Grundlage der Weimarer Goethe-Ausgabe, sondern zum jahrzehntelang gültigen Paradigma der Textkonstitution zu erheben. Die zwangsläufige Aufkündigung dieses Dogmas kam einem „Erdbeben“10 gleich, das nicht nur in der Goethe-Philologie zu spüren war. Was fehlte, das machte der Fall Goethe schlagartig klar, war eine Verständigung über zentrale methodische Fragestellungen und viel grundsätzlicher, was überhaupt eine ‚moderne‘ Edition ist und was sie leisten muss.Die Verfasser der Marburger Denkschrift konnten zwar auf eine reichhaltige Editionspraxis – auch was die Büchner-Edition anging – zurückgreifen, mussten aber, was das methodische Design der geplanten Edition anging, wie schon andere Editoren vor ihnen ein weitgehend neues „Arbeitsmodell“11 für den Anwendungsfall Büchner entwickeln. Gleichzeitig legten die Editoren – wie bereits angesprochen – frühzeitig ihr Editionsprogramm und ihre geplante Verfahrensweise offen, was in der Editionsgeschichte bislang eher die Ausnahme war. Gewöhnlich erfuhr man, was in der Ausgabe geboten wird, erst beim Erscheinen des ersten Bandes.

Die Marburger Denkschrift steht dennoch in einer langen und guten Tradition von vergleichbaren Publikationen, die einer geplanten Ausgabe vorarbeiteten. Zu nennen sind Bernhard Seufferts Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe (1905), Reinhold Backmanns bahnbrechende und lange zu unrecht vergessene Überlegungen zu einem Apparatmodell für die Grillparzer-Ausgabe (1924), die legendären Grundlagen der Goethe-Ausgabe (1959-61), für die Siegfried Scheibe federführend verantwortlich zeichnete, Klaus Kanzogs Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists (1970),12 der den Einleitungsband zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe von Dietrich E. Sattler (1975). Alle genannten Texte gehören gemeinsam mit der Marburger Denkschrift heute zum Kern des editorischen Wissensbestands und sind Teil der Fachgeschichte.

Auch die Marburger Denkschrift beklagte zunächst einen gravierenden Mangel an Grundlagenforschung zu Büchner: Weder für die mehrheitlich nur torsohaft überlieferten Handschriften und die überfremdeten Drucke gab es verlässliche Untersuchungen, noch waren Büchners Lebenszeugnisse und die zeitgenössische Rezeption hinreichend dokumentiert. Weniges war auch nur zu Büchners literarischer, wissenschaftlicher oder sozialtheoretischer Sozialisation bekannt, kurzum, ohne die Aufarbeitung solcher Desiderate konnte eine substantielle Gesamtausgabe nicht gelingen. Erstaunlicherweise – auch dies eine weitere Besonderheit dieser Edition – hatte man mit dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, wo der überwiegende Teil von Büchners Hinterlassenschaft verwahrt wird, eine vernünftige Perspektive für eine Zusammenarbeit und Publikation der Edition gefunden, die vor dem Hintergrund des damaligen Ost-West-Konflikts keineswegs selbstverständlich war. Erinnern will ich nur an das politisch-ideologische Gezerre um eine deutsch-deutsche Heine-Ausgabe, das schließlich 1962/63 bzw. 1970 in zwei Editionen, die Düsseldorfer Heine-Ausgabe und die von Weimarer und Pariser Institutionen getragene Heine-Säkularausgabe, mündete.

Trotz aller Klagen über bislang Versäumtes hatten die Verfasser der Denkschrift schon sehr genaue Vorstellungen von den methodischen Eckpunkten: Die Edition sollte sich am Modell einer von Klaus Kanzog propagierten „Archivausgabe“ orientieren,13 die – gestützt auf ein Handschriftenfaksimile – den überlieferten Text in drei differenzierten Darstellungen ähnlich wie in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe präsentiert und abschließend einen konstituierten, kritischen, d.h. fehlerbereinigten Text bietet. Die Edition sollte spekulative Versuche vermeiden, prekär überlieferte Texte aus verschiedenen Fassungen zu generieren und vielmehr einer kritischen Dokumentation der Problematik solcher Überlieferung den Vorzug geben, wie sie später für Woyzeck, Leonce und Lena, das Prosafragment Lenz und für die editorische Problematisierung der büchnereigenen Anteile am Hessischen Landboten konsequent umgesetzt wurde. Den Editoren waren zwei Prinzipien von Anfang an wichtig und sind zum Markenzeichen der Edition geworden. Zum einen wollten sie „keine ‚eklektischen‘ Heilungsversuche“14 wie noch in den Vorgängereditionen üblich unternehmen und zum anderen sollte die Kommunizierbarkeit der editorischen Operationen und Resultate immer gewährleistet bleiben, was sich letztlich in einem konzisen System von editorischen Zeichen und typografischer Gestaltung niederschlug, die den Ausgabenbenutzer weder unter- noch überfordert. Das für die Darstellung der Varianz der beiden Leonce und Lena-Drucke gewählte Darstellungsverfahren macht genau diesen Anspruch der Büchner-Ausgabe, transparente und lesbare Lösungen anzubieten, auf stupende Weise anschaulich. Jeder der beiden nicht von Büchner autorisierten Drucke wird mit eigener Type gekennzeichnet und varianter Text wird zusätzlich durch einen Bruchstrich getrennt. Meint der Editor, sich bei Textvarianten die eine oder andere Fassung als Büchnertext präferieren zu können, markiert er seine Entscheidung mit einem senkrechten Pfeil und gibt dem Benutzer damit – je nach Pfeilrichtung – einen Hinweis, wie er den Text lesen soll, ohne die variante Fassung auszublenden. Kann der Editor sich nicht entscheiden, entfällt der Pfeil. Naturgemäß sind bei einem Produkt literaturwissenschaftlicher Grundlagenforschung nicht immer solche einfachen Lösungen entstanden und das Arbeiten mit der Ausgabe erfordert schon ein gewisses Maß an Geduld und „genaue[m] Hinschauen“,15 um sich auf das hier komprimierte textkritische Denken einzulassen.

Wer sich auf die Büchner-Ausgabe wirklich einlässt, bekommt eine Vorstellung von der Dimension textkritischer Arbeit und lernt unterschiedlichste Phänomen der Entstehung und Überlieferung literarischer Texte kennen, er wird außerdem mit den Kontexten bekannt gemacht, die in Büchners Texten aufgerufen werden. Trotz aller abverlangten Mühe ist der Benutzer erkennbar stets eine für die Editoren bedeutende Instanz, was wohl am sinnfälligsten daran erkennbar ist, dass die Ausgabe immer auch einen konstituierten Text als lesbares und zitierfähiges Angebot zur Verfügung stellt. Die Orientierung am Benutzer wird weiterhin darin erkennbar, dass von Anfang an Studienausgaben mitgeplant waren, die auf der historisch-kritischen Gesamtausgabe basieren sollten, was schließlich mit bemerkenswerten Ergebnissen geschah. Ich denke dabei zunächst an die von der Marburger Edition abgeleiteten Textausgaben samt ihren Erläuterungs- und Dokumentationsbändchen bei Reclam, dann aber auch an die Studienausgabe des Lenz von Hubert Gersch (1984) oder die des Lustspiels Leonce und Lena (1987) von Thomas Michael Mayer sowie die zehnbändige Studienausgabe mit den Faksimiles der Erstdrucke und Erstausgaben ebenfalls von Thomas Michael Mayer (1987) oder die Briefausgabe von Jan-Christoph Hauschild (1994).

Die Ausgaben von Lenz, Leonce und Lena und Woyzeck arbeiteten der historisch-kritischen Ausgabe sogar vor und hatten Pilotcharakter, was das dort ausprobierte Editionsverfahren angeht. Die Büchner-Editoren hatten also von Anfang an ihr Publikum im Blick und verstanden differenzierte Angebote für den Wissenschaftler, Studenten, Schüler oder den interessierten Büchner-Leser zu machen. Dieses Angebot konnte man (und kann man gegenwärtig noch in Zürich) sogar in einer Station der Ausstellung zum 200. Geburtstag Büchners wahrnehmen, in der didaktisch und medial spannend aufbereitet exemplarische Einblicke in Büchners Schreibwerkstatt, den Schreibprozess und seinen spezifischen Umgang mit Quellen gegeben wurde.16 Zentrale Verfahren der Büchner-Ausgabe wurden damit für ein breiteres Publikum visualisiert, ein Weg, der die Vermittlung von Editionsergebnissen zweifellos fördern dürfte.

Dieses insgesamt breit angelegte Editionsdesign mit seinen unterschiedlichen Facetten und nutzerspezifischen Angeboten versuchte wie kaum ein anderes Editionsprojekt der letzten Jahrzehnte – und wie ich finde erfolgreich – einer Vielzahl von teilweise divergierenden Forderungen und Erwartungen gerecht zu werden. Darüber hinaus hat die Ausgabe auf zentrale editionswissenschaftliche Fragen wie z.B. den Umgang mit Entzifferungs- und Transkriptionsproblemen, eine sinnvolle Klassifizierung von Varianten oder aber die Aufbereitung jeglicher Form von Intertextualität Lösungsvorschläge gemacht. Die Marburger Büchner-Ausgabe ist daher schon in ihrer Planungsphase ein produktives Resultat der editorischen Debatten der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, ohne dass dies in der Denkschrift etwa in der konkreten Auseinandersetzung mit den seinerzeit durchaus kontrovers diskutierten Positionen erkennbar würde.

Doch die Büchner-Editoren reagierten damals nicht nur, sondern beschritten schon in der Konzeptionsphase neue und eigene Wege. Aus historischer Perspektive ist es jedoch zunächst einmal ausgesprochen interessant zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit damals schon mit Hans Zellers wegweisender methodischer Unterscheidung von Befund und Deutung17 umgegangen und wie pragmatisch Gunter Martens Konzept einer Edition, die die Dynamik der Textgenese betont, weiterentwickelt wurde. Ebenso unaufgeregt – anders als der damalige editorische Zeitgeist es vermuten lässt – war in Marburg die Auseinandersetzung mit Sattlers Verfahrensweise in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, die seinerzeit durchaus polarisierte und verschiedentlich allenfalls als editorische Vorarbeit und keineswegs als vollwertige Edition betrachtet wurde. Wie der editorische Zeitgeist aussah, hat Gunter Martens 1992 bei seinem Blick auf „Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition“ in die zutreffende Formel „Rückzug auf den Text“ gefasst.18

Was uns heute geläufig ist, war damals Gegenstand von Diskussionen, wenn es darum ging, die Rolle des Textkritikers zu modernisieren. Ziel kritischen Edierens ist heute eine „möglichst ‚autoritätsfreie‘ Dokumentation“19 des Textes, in der die Autorintention allenfalls eine nachgeordnete Rolle spielt, der „Schatten des Herausgebers“20 aber stets erkennbar bleiben muss, wenn der Editor überhaupt und dann nur äußerst zurückhaltend in den edierten Text eingreift. Insgesamt forderte man damals eine ‚offene‘ Edition21) mit der Wiedergabe varianter Fassungen anstelle der Reduktion auf eine einzige ‚endgültige‘ Textversion. Als weitere Ergebnisse dieser Diskussionen nannte Martens die besondere Aufmerksamkeit für die Textgenese in allen ihren Dimensionen, wobei sich zunehmend die Einsicht durchgesetzt habe, Text und Apparat seien als Einheit zu begreifen und die Textgenese sei als Bestandteil eines sich dynamisch entwickelnden Textes zu betrachten und entsprechend zu dokumentieren. Diese Stichworte mögen genügen, um in Erinnerung zu rufen, dass die „Faktizität der Texte“22 heute als Konsens unter den germanistischen Editoren gilt und auch für die vielfältigen neuen Formen von Texteditionen – ob in Buchform, digital oder als Hybridedition, mit oder ohne Faksimilebeigabe – Standard ist. Und an diesem Konsens hat die Marburger Büchner-Ausgabe wesentlichen Anteil.

Die Marburger Büchner-Ausgabe beachtete und befolgte in allen ihren Teilen auch die von Gerhard Seidel 1970 bei der Erörterung eines Planes für eine neue, leider nie so realisierte Brecht-Edition formulierte Forderung, dass jedes Editionsvorhaben sich an zwei Faktoren messen lassen muss, und zwar an denen der „Funktions- und Gegenstandsbedingtheit“.23) Dieses Begriffspaar gehört heute zu den methodologischen Grundeinsichten der neugermanistischen Editionswissenschaft. Diese Grundeinsichten implizieren eine Differenzierung der editorischen Zielsetzungen, der textkritischen Verfahren, der spezifischen Überlieferungssituation des zu edierenden Gegenstandes und die Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsweisen.

In diesem Kontext hat ein weiterer Aspekt des editorischen Zeitgeists seinen produktiven Niederschlag in der Büchner-Ausgabe gefunden. Mit der Entdeckung des Faksimiles als editionsunterstützendes Element und beflügelt durch kulturwissenschaftliche Studien rückte die Frage der Materialität mit neuem Nachdruck in das Blickfeld von Editoren. Sicherlich waren materielle Aspekte und deren Analyse schon immer Gegenstand philologischer Arbeit. Mit Paläographie und Kodikologie sind besondere, teilweise hochspezialisierte Untersuchungsmethoden entwickelt worden, um Authentizität und Datierungen von Handschriften zu verifizieren, Abläufe einer Textgenese nachvollziehbar zu machen oder textkritische Entscheidungen zu untermauern.24) Insofern war die Entscheidung der Büchner-Editoren, das Handschriftenfaksimile als zentralen Teil der Edition und als wesentlichen „Informationsträger“25) zu nutzen und zu analysieren keineswegs einem modisch-aktuellen Schaubedürfnis geschuldet. Wie sehr die Marburger Büchner-Ausgabe die Handschrift als Informationsträger ernst genommen hat, zeigen nicht nur die minutiösen Betrachtungen von Büchners individueller Schreibpraxis, sondern auch die Analyse der verwendeten Papiere und – dies will ich als besonders innovativ, ja sogar faszinierend hervorheben – die Untersuchungen der auf den Handschriften verwendeten Tinten. Die ermittelten Tinten sind nun in erstaunlich vielen Fällen präzis Büchners Schreiborten zuzuordnen und lassen belastbare Aussagen zum ‚Wann‘ und ‚Wie‘ der Beschriftung der jeweiligen Handschriften zu, was im Fall der Woyzeck-Handschrift erstmals naturwissenschaftlich abgesicherte Indizien lieferte, um die Abfolge der einzelnen Handschriftenteile und damit auch der Textgenese genauer zu bestimmen, als dies bislang durch bloßen Augenschein überhaupt möglich war. Inzwischen gehören die für die Büchner-Ausgabe auf breiter Basis durchgeführten Tintenanalysen zwar noch nicht zum editorischen Standard, allerdings zum immer häufiger nachgefragten Hilfsmittel, um philologische Entscheidungen zu stützen. Tintenanalysen sind nach wie vor aufwendig und damit teuer. Und diese Feststellung führt mich zum Geld!

 

 

2.

Das Büchner-Projekt hat nicht nur vom Aufschwung der Editionswissenschaft und einem Schub in der Büchner-Rezeption in den 1970er Jahren profitiert, sondern auch von der Bereitschaft der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik, mit erheblichen Mitteln in die geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, zu der Editionen, Wörterbücher und jede Art von Quellendokumentationen gehören, zu investieren. In der DDR dagegen hatte man dem editorischen Aufschwung der 1960er Jahren mit ehrgeizigen Vorhaben zu Goethe, Forster, Wieland oder Chamisso aus ideologischen Gründen weitgehend den Garaus gemacht, nur die Marx-Engels-Ausgabe und die bereits erwähnte Heine-Säkularausgabe sowie die Wieland-Briefausgabe als größer dimensionierte Vorhaben konnten weiterexistieren, standen aber stets im Schatten vergleichbarer westdeutscher Editionsprojekte. Voraussetzung für die bundesdeutsche Investitionsbereitschaft und damit für ein „Goldenes Zeitalter der Editionen“26 war die Neuordnung der Beziehungen zwischen Bund und Ländern im Rahmen der Forschungsförderung, von der insbesondere die sogenannten „Langfristprojekte“ profitierten, für die nun nicht mehr allein die DFG, sondern auch die verschiedenen wissenschaftlichen Akademien der Bundesländer zuständig waren.

Wenn Begriffe wie „Langfristprojekte“ oder „Langzeitvorhaben“ in mancher Förderinstitution heute noch immer Skepsis, Kopfschütteln und sogar Ablehnung auslöst, weil man der Ansicht ist, wissenschaftliche Produktivität und substantielle Forschungsergebnisse lassen sich am besten in einem an der naturwissenschaftlichen Förderpraxis orientierten Drei-Jahres-Rhythmus erzielen, kann man nicht nachdrücklich genug herausstellen, dass die Marburger Büchner-Ausgabe ein Produkt erfolgreicher Langfristförderung ist. Ich will mich hier nicht auf das Für und Wider solcher Förderung einlassen, das ist an anderer Stelle, etwa in den Stellungnahmen des Wissenschaftsrates ausführlich geschehen. Ich möchte aber gerne zustimmend Volker Gerhardt zitieren, der die Langzeitvorhaben in den Geisteswissenschaften mit einem emphatischen Bekenntnis verteidigt und sie gleichzeitig als wesentlichen Beitrag zu den Forschungsleistungen unseren Landes gewürdigt hat: „Sehe ich“, sagte er 2005, „auf die Vielfalt und die Forschungsdichte, kann ich die Arbeit in den sogenannten Langzeitvorhaben nur als eine sich fortsetzende Sensation ansehen.“27 Die Förderung der Büchner-Ausgabe, ihrer Vorbereitung, der Einrichtung und Finanzierung einer Forschungsstelle und nun auch die Transformation der editorischen Ergebnisse in das digitale Medium dauerte, nehmen wir wieder das Jahr 1984 als Bezugsdatum, drei Jahrzehnte.

Das ist zweifellos eine außerordentliche Investition in die bekanntermaßen kaum „anwendungsorientierte geisteswissenschaftliche Forschung“.28 Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass editorische Operationen wie „Suchen, Sammeln, Vergleichen, Überprüfen, Kommentieren“29 gleichermaßen allgemeine wie spezifische Forschungsprozesse darstellen, gerieten Editionen seit den 1990er Jahren in dem Maße wieder in Legitimationszwänge, wie die öffentlichen Geldquellen nicht mehr so üppig sprudelten. In diesen Jahren wurden Editionen wieder als „Ehrengräber“30 oder als ‚Editionen für Editoren‘ abgekanzelt. Prekäre Kosten-Nutzen-Rechnungen waren ebenfalls wieder an der Tagesordnung und Editionsprojekte sahen sich mit der Frage konfrontiert, inwiefern ihre aufwendige Materialerschließung die geforderten Perspektiven für eine außerhalb der Editionswissenschaft liegende Forschung bietet, also inwiefern Editionen „anschlußfähig“ sind.31

Die beim Erscheinen der Danton-Bände in den Feuilletons aufgeworfene Frage, wie man im Jahr 2000 eine mutmaßlich zur Hypertrophie neigende Edition begründen wolle, die mit 1600 Seiten und „5,3 Kilogramm“ Gewicht auf die nur 152 Seiten des Danton-Erstdrucks aus dem Jahr 1835 antworte,32 gehört sicherlich zu den traditionellen reflexartig vorgebrachten Vorurteilen gegenüber editorischen Großunternehmungen. Wenn sich auch solche Polemik im Laufe der Zeit beruhigte und sich mancher vehementer Vorwurf als voreiliger und als oftmals absurder publizistischer Schnellschuss herausstellte, brachte die Marburger Büchner-Ausgabe ein Kernproblem der Editorik wieder auf die Agenda. Das Akzeptanz-Problem, das sich vielleicht nie befriedigend abhandeln lassen wird, das aber – und darin liegt zweifellos ein positiver Aspekt – immer wieder zur kritischen Selbstvergewisserung der Disziplin beiträgt, wurde am Beispiel der Büchner-Ausgabe besonders heftig diskutiert. Wie vielleicht nur für wenige Editionen zuvor wurde für ein derart ambitioniertes Projekt die Sein-oder-Nichtsein-Frage nach dem Nutzen gestellt: Was also bietet die editorische und damit einhergehend auch die „mediale Durchdringung“33 von Büchners Werk und Korrespondenz? Zwei Komplexe, die die Leistungsfähigkeit der Marburger Büchner-Ausgabe sowohl in editionswissenschaftlicher als auch literatur- und kulturwissenschaftlicher Hinsicht unter Beweis stellen, möchte ich deshalb kurz skizzieren, ohne dabei ins Detail gehen und das angerissene Nutzen-Problem ein für alle Mal beantworten zu können:

 

1. Die Marburger Büchner-Ausgabe ist ein Paradebeispiel für eine Edition neuerer Texte, in der klassische textkritische Operationen mit heutigen Erwartungen an eine Edition zusammengeführt werden. Dreh- und Angelpunkt dieser Edition ist der Umgang mit der Überlieferung. Im Falle Büchners haben wir es mit einer Überlieferung zu tun, die es im wahrsten Sinne des Wortes in sich hat und deshalb ein exemplarischer Anwendungsfall klassischer editorischer Operationen ist: Dazu gehören die „recensio“ der überlieferten Textträger, also die Ordnung des Materials nach dem Grad seiner Autorisation oder Chronologie und schließlich die Prüfung einzelner Textstellen hinsichtlich ihrer Authentizität bzw. Fehlerhaftigkeit. So sehr in der Büchner-Edition diese klassischen Verfahren zum Zug gekommen sind, es ist keine Edition im herkömmlichen Sinne entstanden, also keine Edition, die als Ergebnis einen ‚besten‘ Text im Sinne Lachmann’scher Textkritik bietet. Die Marburger Edition ist vielmehr als ein Produkt zu charaktersieren, in dem die diffizile und vielfach hochproblematische Überlieferung mit ihren schwer zu entziffernden Handschriften und überfremdeten Drucken stets erkennbar und damit für den Benutzer nachvollziehbar, ja sogar kontrollierbar bleibt. Befund und Deutung sind methodisch strikt getrennt. Entstanden ist eine sehr variable Editionsplattform, vielleicht sogar ein „Forschungsfeld“,34) auf dem die Werktexte teilweise in mehrfacher, fallweise unterschiedlicher Gestalt und sogar in farblicher Differenzierung präsentiert werden. Verfahren traditioneller Textkritik werden mit Überlegungen zur Dokumentation des Schreibprozesses kombiniert, wie sie insbesondere die französische ‚critique génétique‘ angeregt hat, um zu einer gestuften, doch stets aufeinander beziehbaren Darstellung von Überlieferungsbefund, Schreibprozess und Textgenese zu gelangen. Kennzeichnend ist dafür die Abfolge der Werktextpräsentationen: Faksimile mit differenzierter Umschrift als Transkriptions- oder Lesehilfe, eine genetisch aufgeschlüsselte Darstellung der Textentstehung sowie abschließend ein emendierter bzw. konstituierter Text.

 

2. Die Wiederentdeckung von Editionen als „Gedächtnisagenturen“35 mündete u.a. in die für viele Editoren überraschende Forderung nach einer „Rückkehr zum Kommentar“,36 eine Rückkehr, die in Marburg allerdings schon längt vollzogen war.37 Besonders die Äußerungen von Hans Ulrich Gumbrecht haben zu einem neuerlichen Nachdenken über den Kommentar geführt, zumal Gumbrecht im Kommentieren von Texten ein philologisches ‚Hauptgeschäft‘ von großer Effizienz sieht, das nicht unter dem Paradigma der Hermeneutik verschüttet werden dürfe, sondern sich selbstbewusst auf seine vielfach erprobten Ziele berufen solle, um damit zu einer (Neu-)Profilierung der Geisteswissenschaften beizutragen: Der Kommentator ebnet den Zugang zum Text, indem er – so meint Gumbrecht – zwischen „verschiedenen kulturellen Kontexten“ vermittelt und „ergänzendes Wissen“ liefert. Ein solcher Kommentar tritt in ein prinzipielles Spannungsverhältnis zur Interpretation, wobei sich die Unabgeschlossenheit des Kommentars gegenüber der zur Festlegung neigenden Interpretation gerade als Stärke erweist.38

Gumbrecht aktualisierte damit ein altes Problem, das die editorischen Kommentatoren regelmäßig umgetrieben hatte und im Ergebnis stets in eine Reihe grundsätzlicher Forderungen mündete, denen sich nun auch Gumbrecht verpflichtet fühlt. Der Kommentator muss sich immer wieder von Neuem auf die Bedürfnisse seiner potentiellen Leser einstellen. Er muss sich weiter an den jeweils aktuellen, von Generation zu Generation naturgemäß variierenden Wissenslücken orientieren und sich außerdem dessen bewusst bleiben, dass der Kommentator nur „Wissensbrocken“39 anbietet und stets Gefahr läuft, die Fragen des Benutzer nach den (sekundären) „Dunkelheiten“40 des Textes, die durch den historisch und kulturellen Abstand zwischen Text und Leser immer rasanter entstehen, nicht beantworten zu können. Kommentieren bleibt somit eine unendliche Geschichte mit der Chance, hierdurch einen Ort zu haben, an dem man „Wissen […] entdecken“ könne,41 anstatt im Kommentar allein die Informationen abzurufen, die für das Verständnis eines Textes benötigt werden. Soweit eine knappe Zusammenfassung von Gumbrechts Einsichten.

Wie aber könnte die ‚Rückkehr zum Kommentar‘ aussehen, ohne dass hier alter Wein in neuen Schläuchen verkauft wird? Während sich die meisten historisch-kritischen Ausgaben inzwischen gegenüber dem Kommentar (zweifellos auch aufgrund der Einreden von Förderern) eher spartanisch verhalten, wurde das wohl innovativste, ehrgeizigste und aufwendigste Kommentarprojekt wiederum in der Marburger Büchner-Ausgabe realisiert. In dieser Edition wird die extensive Quellenabhängigkeit von Büchners Texten nicht nur nachgewiesen, sondern in einer spezifischen Form von Dokumentation und erläuternder Aufbereitung konkret dargestellt. Gerade der Nachweis der Quellen und ihre Verwertung im literarischen Text beleuchtet nicht nur eine wichtige Ebene des Texts, sondern verweist auch signifikant auf die Textgenese, wenn erkennbar wird, was und wann der Autor aus Quellen übernommen und wie er diese Textsegmente im eigenen Text verarbeitet hat.

Aber diese „schreiborientierte“42 Verarbeitung des Quellenmaterials ist zu differenzieren, denn nicht immer stammen Übereinstimmungen aus einer verifizierbaren Quelle, sondern auch andere im kollektiven Wissen der Zeit vorhandene Belege etwa in Lexika, Wörterbüchern oder Schulbüchern können Material oder Materialsplitter geliefert haben, ohne dass dem Kommentator in solchen Fällen ein konkreter Nachweis gelänge, weil der Autor hier aus seiner Erinnerung an früher Gelesenes ‚zitiert‘ hat. Die Illustration dieses Verarbeitungsgrades geschieht in der Marburger Büchner-Ausgabe durch ein ausgeklügeltes System, das ich besonders herausstellen möchte: In den abgedruckten Quellen wird durch differenzierte typographische Auszeichnung der Grad der Übernahme bzw. Verarbeitung in Büchners Text kenntlich gemacht. Eine Marginalie verweist zusätzlich auf den genauen Ort im „Quellenbezogenen Text“ der Edition. Dieser Teil der Edition weist innerhalb des Büchnertextes ebenfalls mit entsprechender Auszeichnung den jeweiligen Anteil und Grad der Quellenübernahme oder -bearbeitung nach, wodurch schnell auch mit der entsprechenden Quellenangabe in der Randspalte nachvollziehbar ist, wie (und wo) der literarische Text von Quellen beeinflusst, ob er gemischt oder inwiefern er von ihnen durchsetzt ist. Literarischer Text und Quelle sind auf diese Weise miteinander ‚verlinkt‘, wodurch es möglich wird, „den Benutzer nicht nur über den Wortlaut, sondern auch über den Gesamtumfang und den literarischen wie politischen Charakter der von Büchner herangezogenen historischen Quellen [hier im Fall von Danton’s Tod] zu informieren.“43)

Aber inwiefern ist hier ein innovatives Kommentarmodell entstanden, das zudem Anschlussmöglichkeiten für die ‚Kunst‘ der Interpretation bietet? Traditionell erfolgt der Nachweis von Quellenzitaten als lemmatisierte Zitatensammlung im Einzelstellenkommentar. In der Marburger Büchner-Ausgabe kommt eine nicht-atomisierte Form zum Tragen. Sie ermöglicht so einen „Zugang sowohl vom Kontinuum der Quellentexte“44) als auch von dem des Textes aus, was bedeutet, dass der Kommentar automatisch auch einen ‚Link‘ zum Verständnis des Büchner’schen Arbeitsverfahrens herstellt und unterschiedliche – häufig separat betrachtete – Teile der Edition miteinander in Beziehung setzt. Gerade dieser „Quellenbezogene Text“ hilft dem Benutzer neue Dimensionen des Textverständnisses zu erschließen, öffnet sich gleichzeitig aber auch neuen Diskursen – zu denken ist an Intertextualitätsmodelle und die an Schreibprozessen interessierte „critique génétique“.

 

3.

Wir sind heute hier zusammengekommen, um den erfolgreichen Abschluss eines langjährigen Editionsprojekts zu würdigen, die mittelfristig geplante Übersiedelung der Büchner-Forschungsstelle mit ihren wertvollen Sammlungen nach Würzburg mit guten Wünschen zu begleiten und ‚last but not least‘ dem zukünftigen Internetauftritt der Marburger Büchner-Edition digitalen Schwung mit auf den Weg zu geben. Die Umzugskartons sind gepackt und die Daten der Festplatten gesichert, das Haus ist bestellt. Insofern: Ende gut, alles gut. Hans Gerhard Senger hat vor einigen Jahren ein ähnliches Szenario beschrieben, und dabei unter dem Motto „Nach der Edition ist vor der Edition“ einen Abschiedsblick auf die ebenfalls beendete Cusanus-Ausgabe geworfen, die er jahrzehntelang verantwortlich mitbetreut hatte.45) Allerdings hatte die Cusanus-Ausgabe damals noch ihre Aufräumarbeiten vor sich, was Senger zum Anlass nahm, eine sorgsame Sicherung der im Laufe der Zeit gesammelten Materialien als Teil der Wissenschaftsgeschichte und deren zukünftige Erforschung zu fordern. Wenn ich nun hier Sengers Motto aufgreife, dass – wie Sie hier in Hessen natürlich wissen – der abgewandelte Ausspruch eines legendären Fußballtrainers von der Bergstraße ist, dann will ich mit diesem Motto keinesfalls für die Notwendigkeit einer neuen Büchner-Ausgabe plädieren und schon gar nicht potenzielle Förderer in Schockstarre versetzen. Ich will auch den in Editorenkreisen immer wieder angestellten Berechnungen über die Halbwertszeit von Editionen keine neue Nahrung geben. Diese Halbwertszeit pendelt übrigens – je nach Einschätzung der eigenen editorischen Leistung – zwischen zehn und hundert Jahren. Aber bei der erfolgreichen Beendigung eines großen Projekts es ist sehr wohl sinnvoll, nach bestehenden Desideraten in der Editionslandschaft zu fahnden, denn davon gibt es viele und dringliche. Nicht nur Autoren wie Lessing, Goethe oder Herder brauchen eine editorische Auffrischung größeren Zuschnitts, denn wir arbeiten immer noch mit Ausgaben, die auf denen des 19. Jahrhunderts basieren. Allmählich haben wir auch eine editorische Sorgfaltspflicht für Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts, deren Werke und Korrespondenz vielfach in nicht immer zuverlässigen Einzelausgaben atomisiert oder deren Nachlässe überhaupt noch ungehoben sind. Insofern ist es berechtigt, auch an diesem Tag davon zu sprechen, dass auf eine abgeschlossene Edition immer auch eine neues Editionsprojekt folgen muss, zumal die Editorik in den deutschsprachigen Ländern aus internationaler Perspektive eine große Wertschätzung genießt, was ihr wissenschaftliches Niveau und die wissenschaftspolitische Akzeptanz angeht.

Aber bei der Verständigung über die Umsetzung entsprechender Strategien, aber auch bei der Beantwortung der Frage, wie die Edition im Zeitalter der digitalen Medien aussehen muss, ziehen schon heute neue Grundsatzdebatten am Horizont empor. Insofern stimmt es zweifellos: „Nach der Edition ist vor der Edition“. Daher will auch ich es vorläufig mit dem erschöpften Seufzer des Narren Valerio bewenden lassen: „Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft!“46

 


Anmerkungen

  • 1 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner. Mitbegründet von Thomas Michael Mayer. 10 Bde. Darmstadt 2000-2013 (zit. als: MBA).

  • 2 Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta: Schlechte Zeiten – gute Zeiten für Editionen? Zur Bedeutung der Marburger Büchner-Ausgabe für die gegenwärtige Editionsphilologie. In: editio 15, 2001, S. 149-167. Vgl. auch die Repliken: Henri Poschmann: „Auf dem Prüfstand“: Die Marburger Edition von Danton’s Tod und die Kritik. In: editio 17, 2003, S. 178-188, und Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta: Prüfstand und Maßstab. Eine Replik. In: editio 17, 2003, S. 189-191.

  • 3 Zit. nach: Bernhard Fetz, Klaus Kastberger (Hrsg.): Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Wien, Bozen 2000, S. 36f.

  • 4 Norbert Oellers: Editionswissenschaft um 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt/Main 1996, S. 103-118, hier S. 104.

  • 5 Burghard Dedner: Die Ordnung editorischer Darstellungen. Ein Vorschlag. In: editio 22, 2008, S. 60-89, hier S. 60.

  • 6 Peter Strohschneider, Friedrich Vollhardt: Interpretation. Eine Einleitung in den Thementeil dieses Heftes. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49, 2002, H. 2: Interpretation, S. 98-102, hier S. 100.

  • 7 Vgl. Manfred Windfuhr: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben (1973). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 176.

  • 8 Gunter Martens: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (11.-13. Juni 1992 Berlin). Hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994 (Beihefte zu editio. 6), S. 71-82, hier S. 72.

  • 9 Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887-1919, Abt. 1, Bd. 1, S. XIX (Vorbericht von Bernhard Suphan im Namen der Reaktoren).

  • 10 Günther Müller: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26, 1952, S. 377-410, hier S. 378.

  • 11 Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. Marburg/Lahn 1984, S. 13.

  • 12 Wieder abgedruckt (teilweise nur in Auszügen) in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition, S. 55-63, 115-137, 223-234, 334-344 .

  • 13 Marburger Denkschrift, S. 37.

  • 14 Marburger Denkschrift, S. 12.

  • 15 Thomas Wiemer: Der verlorene Glorienschein: Editionsförderung außerhalb der Akademien der Wissenschaften. In: Philologie und Philosophie. Beiträge zur VII. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (12.-14. März 1997 München). hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 11), S. 26-31, hier S. 28.

  • 16 Vgl. auch den Abschnitt „Büchners Schreibstrategien“ in: Ralf Beil, Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell. Ostfildern 2013, S. 503-533

  • 17 Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45-89.

  • 18 Gunter Martens: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (11.-13. Juni 1992 Berlin). Hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994 (Beihefte zu editio. 6), S. 71-82, hier S. 74.

  • 19 Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 185.

  • 20 Martens 1994 (s. Anm. 8), S. 73.

  • 21 Hans Zeller: Edition und Interpretation. Antrittsvorlesung. In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 279-288, hier S. 288.

  • 22 Herbert Kraft: Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft, S. 4-12, hier S. 5.

  • 23 Gerhard Seidel: Bertolt Brecht – Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Berlin 1977, S. 19.

  • 24 Vgl. Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin, New York 2010 (Beihefte zu editio. 32), insbesondere die Einleitung S. 1-13.

  • 25 Kanzog, in: Dokumente zur neugermanistischen Edition (s. Anm. 12), S. 338.

  • 26 Wiemer 1998 (s. Anm. 15), S. 30.

  • 27 Volker Gerhardt: Erschließung und Sicherung des kulturellen Erbes. Zur Aktualität des Forschungsprogramms der Akademien. In: Editionen – Wandel und Wirkung. Hrsg. von Anette Sell. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio. 25), S. 3-9, hier S. 6.

  • 28 Wiemer 1998, S. 31-

  • 29 Wiemer 1998 (s. Anm. 15), S. 29.

  • 30 Ulrich Ott: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33, 1989, S. 3-6.

  • 31 Thomas Kempf: Editionen bei den Akademien der Wissenschaften. In: Philologie und Philosophie (Anm.), S. 17-25, hier S. 23.

  • 32 Jürgen Diesner: Georg Büchner-Detektive. Erster Band der Historisch-kritischen Marburger Ausgabe in Darmstadt vorgestellt. In: Darmstädter Echo, 6. 11. 2000, S. 6. Ähnlich auch Thomas Wirtz: Stirb viermal, jetzt erst recht. Die Kompanie „Marburg“ der Büchner-Forschung zog ins Feld und kehrt mit vollem Schulranzen zurück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 2000, S. L 6.

  • 33 Wiemer 1998 (s. Anm. 15), S. 28.

  • 34 Ariane Martin: Georg Büchner. Stuttgart 2007, S. 12.

  • 35 Raimar Zons: Domesday, Buchenwald, Weimar. In: Das Archiv der Goethezeit. Ordnung – Macht – Matrix. Hrsg. von Gert Theile. München 2001, S. 31-43, hier S. 34.

  • 36 Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt/Main 2003, S. 19, 85.

  • 37 Vgl. Bodo Plachta: Philologie als Brückenbau. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3, 2009, H. 1: Kommentieren, S. 17-32.

  • 38 Gumbrecht 2003 (s. Anm. 36), S. 69f.

  • 39 Gumbrecht 2003 (s. Anm. 36), S. 71.

  • 40 Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? Über die Erläuterungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur. In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. von Gottfried Honnelfelder. Frankfurt/Main 1985, S. 37-57, hier S. 44-48..

  • 41 Gumbrecht 2003 (s. Anm. 36), S. 74.

  • 42 MBA, Bd. 3,4, S. 2.

  • 43 MBA, Bd. 3,3, S. 1.

  • 44 MBA, Bd. 3,3, S. 1.

  • 45 Hans Gerhard Senger: Nach der Edition ist vor der Edition. In: editio 23, 2009, S. 191-202.

  • 46 MBA, Bd. 6, S. 109.